Aristokratischer Radikalismus

Zur Neuedition des klassischen Nietzsche-Essays von Georg Brandes

Von Michaela WillekeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michaela Willeke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Friedrich Nietzsche ist mittlerweile ein so bekannter, weit diskutierter und unterschiedlichst adaptierter Autor, dass die verhaltenen Anfänge seines spektakulären Ruhmes als "Anti-Philosoph" eher ins Dunkel gesunken sind. Diese frühe Phase sucht nun eine Publikation erneut zu erhellen, die im September 2004 im Berliner Verlag Berenberg erschienen ist: Die Neuedition des 1888 erstmals veröffentlichten Nietzsche-Essays "Aristokratischer Radikalismus" von Georg Brandes.

Damit schließt der Berenberg Verlag gleich zwei Lücken: Zum einen wird ein für die erste Rezeptionsphase Nietzsches wegweisender Text erneut zugänglich gemacht; zum anderen tritt ein Autor ins Zentrum des Interesses, der zu Lebzeiten eine international anerkannte geistig-kulturelle Größe war, heute aber weitgehend in Vergessenheit geraten ist: Georg Brandes (1842-1927). Entsprechend ist der Band dreigeteilt: zunächst eine präzise Einführung zu Georg Brandes vom Brandes-Experten Klaus Bohnen, sodann der Abdruck des Essays zu Nietzsche und schließlich die 1893 verfasste Nachschrift von Brandes, der er mehrere an ihn adressierte Briefe Nietzsches beifügte. So ergibt sich ein facettenreicher Blick auf zwei "freie Geister" und konsequente Kulturkritiker, die sich in ihrer strikten Ablehnung von Mittelmaß, Traditionalismus, Provinzialismus und Bildungsphilistertum verwandt fühlten und sich entsprechend - jeder auf seine Weise - für eine grundlegende Erneuerung der gesamteuropäischen Kultur einsetzten.

Georg Brandes stammte aus Kopenhagen und avancierte aufgrund seiner literaturkritischen und publizistischen Arbeiten zu einem anerkannten Intellektuellen und Kulturvermittler des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Die Grenzen Dänemarks hatte er schon früh überschritten, und fortan agierte er als einer der ersten "Weltbürger" der internationalen Kulturszene jener Zeit. Man schätzte sein Urteil, beachtete seine Kritik und würdigte insbesondere seine Rolle als Vorreiter neuer Ideen. Nicht ohne Grund galt er Nietzsche daher als Exempel des "guten Europäers" und vielen anderen Zeitgenossen als "Anreger, Kritiker und Vermittler" der europäischen Kultur".

Um mehr über die maßgebliche Bedeutung Georg Brandes' zu erfahren, gibt Klaus Bohnen in seiner mit "Ein Kulturmissionar in Europa" betitelten Einleitung kurz und bündig einen Einblick in Leben, Werk und Wirkung des Dänen. Mit seinem literaturkritischen und publizistischen Schaffen stand Brandes am Beginn der Moderne, indem er verschiedenste Perspektiven (literarische, kulturelle, soziale, geschichtliche Aspekte) in einem komplexen Bild auf neuem Niveau zu vereinen suchte. Dabei leiteten ihn ein politisch-emanzipatorischer "Geschichts- und Gesellschaftssinn" und ein sensibles psychologisches Gespür. Er machte keinen Hehl aus seinem Pazifismus und kritisierte alle Formen sozialer wie geistiger Unfreiheit. Charakteristisch war zudem seine Idee der "großen Persönlichkeit als Quelle der Kultur". Ein Umstand, der ihn für die Bekanntschaft mit Nietzsches Werk geradezu prädestinierte.

1888 erschien sein Nietzsche-Essay "Eine Abhandlung über aristokratischen Radikalismus", der aus Vorlesungen zu Nietzsche an der Kopenhagener Universität hervorgegangen war. Zum Titel, der das Nietzsche-Bild Brandes' pointiert wiedergibt, hatte dieser bereits vorab im Dezember 1887 in einem Schreiben an Brandes angemerkt: "Der Ausdruck 'aristokratischer Radikalismus', dessen Sie sich bedienen, ist sehr gut. Das ist, mit Verlaub gesagt, das gescheiteste Wort, das ich bisher über mich gelesen habe." Diese Einschätzung ist nicht ohne Grund, denn aus jeder Zeile des Essays geht hervor, dass Brandes und Nietzsche in vielerlei Hinsicht verwandte Geister waren, die die Vision einer künftigen Kultur "freier Geister" verband. Aufgrund dieser Verwandtschaft ist Brandes' Artikel ein nach wie vor interessanter Text, der über Nietzsche ebenso viel wie über seinen Verfasser verrät und überdies ein ungewohntes Schlaglicht auf die frühe Rezeption Nietzsches wirft. Hier werden bereits zahlreiche Themen angesprochen, die erst nach der mühsam betriebenen "Wiedergutmachung an Nietzsche" und im Zuge der insbesondere französischen Nachkriegsphilosophie wieder philosophische und kulturwissenschaftliche Bedeutung erlangt haben.

Im letzten Brief vom Januar 1889, den Nietzsche mit "Der Gekreuzigte" unterzeichnet hat, richtet er an Brandes (und seine Leserschaft insgesamt) die keineswegs irrsinnigen Worte: "Nachdem Du mich entdeckt hast, war es kein Kunststück mich zu finden: die Schwierigkeit ist jetzt die, mich zu verlieren ..." Es war Brandes, der Nietzsche entdeckte und "fand", d. h. für einen breiten und internationalen Kreis von Intellektuellen erstmals erschloss. Der Essay hatte großen und umgehenden Erfolg und der Titel "Aristokratischer Radikalismus" wurde zu einem geflügelten Wort, um das Denken Nietzsches zu charakterisieren und in verschiedenster Form aufzugreifen. Die "Aristokratie" der "Herrenmoral" und der Radikalismus der Nietzsche'schen Philosophie- und Kulturkritik fanden hier zu einer fruchtbaren Synthese, deren Auswirkungen bis heute verschiedentlich zu konstatieren sind.

Brandes beginnt seinen Essay mit einer programmatischen Einschätzung, die nichts an Aktualität eingebüßt hat: "In der Literatur des gegenwärtigen Deutschlands scheint Friedrich Nietzsche mir der interessanteste Schriftsteller zu sein. Obgleich selbst in seinem Vaterlande wenig gekannt, ist er ein Geist von bedeutendem Rang, der es vollauf verdient, dass man ihn studiert, erörtert, bekämpft und sich aneignet. Unter anderen guten Eigenschaften besitzt er die, Stimmungen mitzuteilen und Gedanken in Bewegung zu setzen." Von diesem Urteil schien Nietzsche, damals nur wenig bekannt, selbst erstaunt zu sein. In einem Brief vom April 1988 schreibt er anlässlich der Kopenhagener Nietzsche-Vorlesungen von Brandes: "Aber verehrter Herr, was ist das für eine Überraschung! Wo haben Sie den Mut hergenommen, von einem vir obscurissimum öffentlich reden zu wollen! Denken Sie vielleicht, dass ich im lieben Vaterland bekannt bin? Man behandelt mich daselbst, als ob ich etwas Absonderliches und Absurdes wäre, etwas, das man einstweilen nicht nötig hat, ernst zu nehmen. Offenbar wittern sie, dass auch ich sie nicht ernst nehme, und wie sollte ich's auch, heute, wo 'deutscher Geist' ein contradictio in adjectio geworden ist!"

Was Brandes und Nietzsche vereint und von Brandes entsprechend hervorgehoben wird, ist ihre gemeinsame europäische, d. h. transnationale Gesinnung. Wie Brandes ein Kosmopolit und kultureller Vermittler war, so sprach Nietzsche von den kommenden "guten Europäern", die, ginge es nach Nietzsche, bald über die geistig-kulturelle wie politische Zukunft Europas entscheiden sollten. In kongenialer Reflexion schreibt Brandes über Nietzsches Vision: "Er geht von der Tatsache aus, dass die entwickelten Menschen aller Länder sich bereits jetzt als Europäer, als Landsleute, ja, als Bundesgenossen fühlen, und von dem Glauben aus, dass schon das nächste Jahrhundert den Krieg um die Herrschaft über die Erde bringen werde." Beim Lesen ist man hier mehrfach überrascht von der Hellsicht, die Nietzsche in derartigen Aussagen an den Tag gelegt hat und die beim Weltbürger Brandes ihr frühes Echo fand. Hat doch erst jüngst der vor kurzem verstorbene Jacques Derrida die "guten Europäer" beschworen, um die Macht- und Kriegspolitik der USA sowie den globalen Terrorismus zu kritisieren und eine mögliche Allianz des Friedens und der Menschenrechte zu konstituieren. Vor diesem gegenwärtigen Hintergrund klingt die an das eben erwähnte Zitat anschließende bange Frage von Brandes so aktuell wie nie: "Wenn dann aus dem Resultat dieses Krieges ein biegender, brechender Sturmwind über alle nationalen Eitelkeiten hinfährt, worauf wird es dann ankommen?"

Nietzsche träumte, wie Brandes weiter ausführt, von einer "Rasse hervorragender Geister", die es "aufzuzüchten und zu erziehen" gilt. Sofort ist man hier an die vor einigen Jahren von Peter Sloterdijk formulierten "Regeln für den Menschenpark" erinnert, die in ihrem Synkretismus von Nietzsche, Heidegger und Biowissenschaft nicht ohne Grund kontroverse Debatten ausgelöst hatten. Brandes stellt jedoch nicht die biologistische und/oder pädagogische Perspektive in den Vordergrund, sondern vornehmlich die kulturkritische: Zentral ist Nietzsches Kritik an den "Bildungsphilistern", die meinen, bereits über ausreichend Wissen und Kultur zu verfügen, sodass sie auf dem einmal erreichten Niveau in selbstgefälliger und ignoranter Manier stagnieren. So erweisen sich, wie Nietzsche sarkastisch bemerkt, öffentliche Meinungen als "private Faulheiten". Brandes schränkt dieses Urteil diplomatisch etwas ein, beharrt aber ebenfalls auf der Kritik an den Bildungsphilistern, die nur gebrauchsfertiges Denken fabrizieren, doch nicht selbst denken.

Um daher selbständiges Denken zu lernen, bedarf es einer Erziehung, die auf die Befreiung des Schülers abzielt (d. h. nicht auf dessen Assimilation an eine wie auch immer geartete Lehre). Gilt es doch, so Nietzsche in seinen "Unzeitgemäßen Betrachtungen", den jungen Menschen gegen die Zeit zu erziehen, im Hinblick auf eine kommende Zeit. Auch um den Preis, dass jeder große Denker weniger ein "Kind", sondern ein "Stiefkind" seiner Zeit gewesen sein wird. So vertieft sich Nietzsche, vor allem geprägt durch Schopenhauer, in den Gedanken, dass ein glückliches Leben unmöglich ist, die ungeschönte Artikulation der Wahrheit Leiden bedeutet. Nur jene, die dies zu realisieren und zu ertragen vermögen, können laut Nietzsche als wahrhaft "große Menschen" und als "Ziel der Geschichte" gelten. In diesem Sinne grenzt sich Brandes mit Nietzsche dezidiert gegen den englischen Utilitarismus (Bentham, Mill) ab. Die Förderung einer Kulturelite großer Geister erscheint ihm wie Nietzsche als Aufgabe und Ziel, ganz im Vertrauen darauf, dass auf diesem Weg indirekt auch das Wohl aller anderen Mitmenschen befördert werde. Wie derzeit z. B. Richard Rorty gelten ihm und Nietzsche die Bedingungen für das Große und Genialische als fruchtbarer Nährboden für Kultur überhaupt.

Nietzsche selbst erscheint Brandes schließlich als ein solcher gegen die Gegenwart andenkender "großer Geist" der Zukunft: "Nietzsches Wert beruht darauf, dass er der Träger einer solchen, wirklichen Kultur ist: ein Geist, der, selbst unabhängig, Unabhängigkeit mitteilt und der für andere jene befreiende Macht werden kann, die Schopenhauer in seiner Jugend für ihn wurde." Auf welche Weise Nietzsche gegen den Strom angedacht hat, erläutert Brandes anschließend am Beispiel der "Unzeitgemäßen Betrachtungen", indem er insbesondere Nietzsches Überlegungen zum paradoxen Kunststück, historisch und unhistorisch zugleich zu denken, hervorhebt. In seiner Kritik am antiquarischen, monumentalen und kritischen Umgang mit Geschichte will Nietzsche laut Brandes der "Kreuzlahmheit der modernen Bildung zu Leibe" rücken, die den menschlichen Geist lähmt. Denn diese macht, so Brandes weiter, den Menschen zu einem "Konversationslexikon", das "kraft einer allgemein anerkannten Konvention oder aus der flachen Rohheit heraus" handelt, statt selbstständig zu denken und zu handeln.

Diese Auffassung spiegelt sich auch in der Dichotomie von "gehorchen" und "befehlen", in der Faszination für Personen à la Napoleon, die all jene, die nur zu gehorchen vermögen, in den auratischen Bann einer Führernatur ziehen. Brandes geht es hier jedoch mit Nietzsche weniger um politisches Führertum, sondern um die Moral. Auch Brandes verteidigt die Abschaffung des moralischen Gehorsams, um die individuelle Fähigkeit zu befördern, " sich selbst seine Moral zu schreiben." Erneut bilden die "freien Geister" den Horizont auch der Überlegungen von Brandes, die ihrerseits eine offenkundige Sympathie für Nietzsches "aristokratischen Radikalismus" aufweisen. So favorisiert Brandes ebenfalls Nietzsches Maxime, der außergewöhnliche Mensch möge "Gesetzgeber" werden und sich einen eigenen "Stil" geben. Nicht im Sinne einer Ästhetisierung des eigenen Ich, sondern um der geistig-kulturellen Entwicklung des Selbst willen. So wie es dann auch Foucault forderte, bevor seine Epigonen daraus eine wässrige, doch gut verkäufliche "Philosophie der Lebenskunst" gemacht haben.

Als ein wesentliches Charakteristikum Nietzsches wertet Brandes schließlich dessen unerschütterlichen und unstillbaren Lebensdurst, der "selbst nach dem Kelch der Qualen lechzt", anstatt aufzugeben oder sich mit dem Leben zu arrangieren. Denn Nietzsche wusste, wie Brandes an Zarathustras "Mitternachtslied" exemplarisch verdeutlicht, dass die Nacht Einsichten offenbart, von denen der Tag nichts ahnt, nichts ahnen kann: "O Mensch! Gib Acht! Was spricht die tiefe Mitternacht? 'Ich schlief, ich schlief - aus tiefem Traum bin ich erwacht. Die Welt ist tief und tiefer als der Tag gedacht. Tief ist ihr Weh - Lust - tiefer noch als Herzeleid: Weh spricht: vergeh! Doch alle Lust will Ewigkeit - Will tiefe, tiefe Ewigkeit!'"

Unter dem Eindruck der geistigen bzw. gesundheitlichen Entwicklung Nietzsches seit 1888 verfasst Brandes 1893 eine Nachschrift zu seinem Nietzsche-Essay. Diese enthält nur wenige eigene Anmerkungen, dafür aber das aufschlussreiche Referat dreier Positionen zu Nietzsche: Äußerungen zu Nietzsche aus der Feder von Lou Andreas-Salomé, die kritische Warnung seitens Ludwig Steins und schließlich Anmerkungen von Peter Gast. Das Interessanteste an jener Nachschrift sind allerdings die beigefügten Briefe, die Nietzsche in der Zeit von Dezember 1887 bis Januar 1889 (d. h. bis zu seinem vollständigen psychischen Zusammenbruch) an Brandes adressiert hat. Anhand ihrer Lektüre erhält man nicht nur einen Einblick in Nietzsches Selbsteinschätzung, sondern zudem lässt sich das Abdriften Nietzsches in die geistige Umnachtung erahnen, wobei der Übergang von der Genialität zum Wahnsinn fließend erscheint. So unterschreibt er den vorletzten, noch völlig sachlichen Brief vom 20. November 1888 mit "Ihr Nietzsche, jetzt Unthier".

Insgesamt entspricht dieser sehr leserfreundlich und stabil angefertigte Hardcover-Band allen Erwartungen. Man erhält grundlegende Informationen zu dem heute eher unbekannten Georg Brandes, ohne dass die Einleitung durch zu viele Details ausufert. Vor allem bekommt man einen Einblick in die frühe Phase der Rezeption Nietzsches sowie in das Konzept des "Aristokratischen Radikalismus", das nach wie vor in der Literatur zu Nietzsche in unterschiedlichster Weise bedeutsam ist. Wer also in bündiger und solider Form etwas über Nietzsche und seinen Kritiker Brandes erfahren möchte, dem sei dieser Band empfohlen. Dessen Lektüre wird sicherlich auch für gegenwärtige philosophische, kulturkritische und politische Debatten gewinnbringend sein und mit so manchem Nietzsche-Klischee aufräumen.

Titelbild

Georg Brandes: Nietzsche. Eine Abhandlung über aristokratischen Radikalismus.
Mit einer Einleitung von Klaus Bohnen.
Berenberg Verlag, Berlin 2004.
126 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3937834036

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