Das nackte Auge

Yoko Tawadas namenlose Protagonistin bleibt ziellos, willenlos, perspektivlos

Von Agnes BarthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Agnes Barth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Vor Wut ging ich aus dem Haus. Die Straße sagte mir nicht, wo ich hingehen sollte. Mir fiel nur das Wort 'cinéma' ein. In diesem Wort trafen 'China' und 'Ma' zusammen. Der Eingang des Kinos empfing mich wie die Arme einer 'Ma'. Sie lehnte mich nie ab, auch nicht an diesem Tag, obwohl ich den Film schon dreimal gesehen hatte." Die namenlose, vietnamesische Protagonistin aus Ho Chi Minh City reist nach Berlin, um an einem internationalen Jugendtreffen teilzunehmen. Allerdings hält die ausgezeichnete Schülerin nie ihre geplante Rede zum Thema "Vietnam als Opfer des amerikanischen Imperialismus" - stattdessen wird sie von einem Studenten aus Bochum namens Jörg in seine Stadt verschleppt. Dieser hält sie annähernd wie ein Haustier in seiner Wohnung, er schläft mit ihr und praktiziert gerne ausgefallene Sexspielchen. Um sie an sich zu binden, erzählt er der Ahnungs- und Willenlosen unter anderem, dass sie schwanger sei. Sie lebt perspektivlos vor sich hin, reflektiert nicht über Eindrücke und das Geschehende, lässt passiv alles über sich ergehen, wirkt vollkommen von sich entfremdet. Ein Brief an die Eltern erzählt die Lüge von einem Stipendium in Deutschland - sie möchte auf keinerlei Widerstand stoßen, in keiner Weise das Risiko eingehen, ihr vor sich hin plätscherndes Leben beenden zu müssen.

Aus Sprach- und Hilflosigkeit geht sie ins Kino: "Wenn ich den Filmstreifen aus dem Projektor herausziehen und daraus meine eigene Straße bauen würde, könnte ich Bild für Bild nach Hause gehen." Traum und Realität verschmelzen bis zur Unkenntlichkeit, als sie irgendwann doch aktiv wird und mit dem Zug in die Heimat flüchtet, jedoch nicht zu Hause, sondern in Paris landet. Dort lebt sie bei der Prostituierten Marie im Keller, geht erst aus Langeweile, später als Lebensersatz ins Kino. Schließlich zieht sie zu einer flüchtigen Bekannten aus dem Zug und deren Freund. Sie selbst hat kein eigenes Geld, keine Freiheit - ihr Leben ist das Kino, in den immer gleichen Filmen lebt die immer gleiche Schauspielerin nur für sie. Das Kino zeigt ihr, wie es sein könnte. In der vermeintlichen Realität wird der Teufelskreis immer enger: ohne Aufenthaltsgenehmigung bekommt sie keinen Job, sie bietet ihren Körper illegal in einer Klinik für Tests an. Sie befindet sich weiterhin illegal in der französischen Hauptstadt, ist ein NIEMAND und macht NICHTS. Immer wieder trifft man sie im Kino, ihrem Zufluchtsort und gleichzeitigem Lebensmittelpunkt. "Meine Person verschwand im Dunkel des Kinosaals, und es blieb nur noch meine brennende Netzhaut, auf der sich die Leinwand reflektierte. Es gab keine Frau mehr die 'ich' hieß. Denn sie waren für mich die einzige Frau, mich gab es also nicht."

Die vietnamesische Fremde zieht zu einem Mann, den sie im Kino kennen gelernt hat. Dieser will Sinn und Abwechslung in ihr trostloses Leben bringen, will sie fordern und fördern, doch sie bleibt passiv und willenlos - aber voll von Träumen und Filmbildern. Der irreale Traum vom Leben endet nicht. Sie verleugnet und vergisst ihre Herkunft und ihre Eltern, lebt ihr passives und sprachloses Leben, schwimmt mit dem Strom der Kinobilder. Die Sprachlosigkeit in der französischen Sprache scheint jedoch nur eine Ausrede für ihre Passivität zu sein. "Ich konnte Tuong Linh meinen Kinozwang und mein Kinofieber nicht erklären. Bis dahin hatte ich mir immer gedacht, ich könnte nicht sprechen und deshalb auch nichts erklären. Diese Ausrede galt nicht mehr, denn Tuong Linh hätte ich alles auf Vietnamesisch erklären können. Aber ich war genauso stumm wie im Französischen."

Yoko Tawada beschreibt die Welt wie in einem Traum, reich an Bildern, die wie filmische "Flashbacks" vom Leser aufgenommen werden. Alle Visionen ergeben ein oberflächliches und trostloses Bild vom Leben der entwurzelten und ziellosen Frau im mächtigen Universum ihres Lebens - alles zieht an ihr vorbei, der Leser ist genauso sprachlos wie die Protagonistin selbst. Die Sprachlosigkeit dieser Hauptperson liegt nicht an der Sprache an sich, sondern vielmehr an ihrem fehlenden Verwirklichungs- und Mitteilungswillen. Ein außergewöhnliches und sehr reizvolles Porträt eines Lebens, das durch Bilder und sprachliche Raffinesse brilliert.

Titelbild

Yoko Tawada: Das nackte Auge.
Konkursbuchverlag, Tübingen 2004.
190 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 3887693248

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