Gedeih und Verderb

Burkhard Spinnen erzählt meisterlich von der Macht des Schicksals

Von Alexis EideneierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexis Eideneier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer auf Trost und Stärkung aus ist, dem kann man den neuen Erzählband von Burkhard Spinnen nur unter Vorbehalt empfehlen: Es geht darin um schicksalhafte Begebenheiten, die unser normales, banales, mittelmäßiges Halbschlaf-Dasein bedrohen und häufig auch besiegen. Glück und Geborgenheit werden in jeder der hier versammelten 24 Kurzgeschichten durch ein anderes, oft unvorhersehbares Missgeschick zu Fall gebracht.

Als Leser werden wir Zeuge unterschiedlich perspektivierter, auf den ersten Blick allesamt saturierter Lebensläufe in der Geborgenheit der deutschen Alltagswelt. Doch wem anfangs noch Fortuna lächelt, dessen Zukunft hängt urplötzlich am seidenen Faden. So unspektakulär und durchschnittlich die meisten Protagonisten zunächst daherkommen, so tragisch enden sie in aller Regel. Wir erfahren von einem Helden, deren Frau ums Leben kommt, Männern, die entlassen werden, an Aids erkranken, bei einem Autounfall beide Eltern verlieren, aus Rache zu Mördern werden und sich dabei selbst umbringen ... - die Liste ließe sich fortsetzen.

Worauf es dem Autor bei der Abhandlung dieser unerhörten Ereignisse ankommt, ist die Demaskierung eines scheinbar behüteten Alltags. Was wir gemeinhin unter Aufgehobensein verstehen, ist in Wahrheit nichts als ein Zufall, der sich ebenso rasch ins Gegenteil wenden kann - sei es durch die plötzliche Manifestation nicht realisierter Lebenschancen (so etwa in der titelgebenden Erzählung "Der Reservetorwart"), sei es durch das Hereinbrechen furchtbarer Katastrophen. In einem Land, in dem das Sicherheitsdenken so ausgeprägt ist wie kaum anderswo auf der Welt, wirkt die aufrüttelnde Botschaft dieser Geschichten wie ein heilsamer Schock: Krankenversicherung, Pensionsanspruch und Arbeitslosenhilfe mögen lobenswerte Errungenschaften sein. Doch vor der Macht des Schicksals bewahren sie uns nicht.

Burkhard Spinnen zeichnet Tragik in nüchtern-distanzierter Sprache auf, seine Erzählungen schauen den beschriebenen Charakteren aufs Maul und sind ebenso lakonisch wie konzentriert. Die behäbigen Lebensentwürfe vom Nobelpreisträger bis zum Fußballprofi, vom Schriftsteller bis zum Angestellten sind glaubhaft und detailgetreu nachgezeichnet. Oft kommt es auf das Unerwähnte ebenso an wie auf das Erzählte. Viele dieser virtuos konstruierten Geschichten haben ein offenes Ende, das die Mitarbeit des Lesers erfordert und somit aufs Neue unterstreicht: Wir sind oft mehr unsere Zufälle als unsere Wahl. Es kann so oder so weitergehen. Wie im richtigen Leben. Diese spannende Offenheit hat zur Folge, dass Spinnens Kurzgeschichten ungeeignet sind, unser Sicherheitsbedürfnis zu befriedigen. Doch dafür entlarven sie die gefährliche Selbstzufriedenheit unserer Wohlstandsidylle und sind allein deshalb eine Offenbarung.

Titelbild

Burkhard Spinnen: Der Reservetorwart. Geschichten.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
214 Seiten, 19,50 EUR.
ISBN-10: 3895610402

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