Weltgeschichte als Schreckenskammer

Yvonne Wolf rekonstruiert Geschichtsbild und Strategien der NS-Dissidenz bei Frank Thiess

Von Franz AdamRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Adam

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Einen Schriftsteller von solchem Einfluß kennen zu lernen, ist wichtig", urteilte Siegfried Kracauer 1931 über den damals Hochprominenten. Umso erstaunlicher ist es, dass mit Yvonne Wolfs Dissertation überhaupt die erste ausführliche Untersuchung zu Frank Thiess vorliegt. Allenfalls noch als Antipode Thomas Manns im Nachkriegsstreit um die von Mann attackierte und von ihm selbst reklamierte "Innere Emigration" geläufig, ist Thiess, Autor eines bemerkenswert umfangreichen literarischen wie publizistischen Œuvres, nach 1945 bei zunächst unverminderter Produktivität allmählich in Vergessenheit geraten (Wilperts und Gührings "Erstausgaben deutscher Dichtung" verzeichnen 106 selbstständige Veröffentlichungen von 1914 bis zum Todesjahr 1977). Seine prekäre (Neben-)Rolle eines Aktivisten der "konservativen Revolution", der sich im "Dritten Reich" vergeblich als Stimme des geistigen Deutschland empfahl und später drei apologetische Memoirenbände über seine Sicht der Dinge schrieb, ist in den vergangenen Jahren vereinzelt und entsprechend polemisch beschrieben worden; werkzentrierte oder œuvreerschließende Darstellungen wurden darüber, von Ausnahmen abgesehen, vernachlässigt.

Auch Wolf beschränkt sich auf wenige exemplarische Titel, die im historischen Umfeld der NS-Zeit und ihrer Vorgeschichte situiert sind, und blendet so das Spätwerk der Nachkriegszeit, mithin rund die zweite Hälfte des Thiess'schen Publikationszeitraums, aus: Schriften nach 1945, neue und neugefasste alte, bleiben weiterhin ein Stiefkind der Forschung. Das ist bedauerlich, denn Thiess' Versuche, an seine Meinungsführerrolle der Weimarer Republik - nun unter dem Vorzeichen eines neuen Humanismus und weniger offen antidemokratisch als ehedem - anzuknüpfen, liefern nicht zuletzt für die restaurative Frühgeschichte der BRD wunderbares Anschauungsmaterial. Wolf verweist immerhin summarisch auf die "Kontinuität in Thiess' Denken" nach 1945. Akzeptiert man aber die Fokussierung auf die Zeit vor dieser politischen Zäsur (nach wie vor gilt der "frühe" Thiess im Rahmen seiner Fähigkeiten zudem als der innovativere), so erweist sich die getroffene Auswahl durchaus als ergiebig, gelingt es doch der Autorin, zentrale Ideologeme der untersuchten Texte herauszuarbeiten und sie mit ihren mentalitätsgeschichtlichen Voraussetzungen, den großen Weltanschauungsthemen der Frühen Moderne vor dem Horizont revolutionärer, vitalistischer Lebens- und Denkkonzepte, schlüssig zu verknüpfen.

Darüber hinaus werden die Befunde stets zeitgeschichtlich kontextualisiert. So nimmt die Autorin Thiess' Interpretation der Antike in dem "Roman eines Jahrtausends" "Das Reich der Dämonen" von 1941 zum Anlass, die "Alte Geschichte unter dem Nationalsozialismus" in einem wissenschaftshistorischen Exkurs zu beleuchten, und macht dadurch abweichende Positionen sichtbar, etwa in der kritischen Beurteilung Spartas durch Thiess oder später in der auffälligen Abwertung der Germanen. Überhaupt leistet Wolf viel Quellenarbeit: Zeitgenössische Rezeptionszeugnisse, darunter entlegene Rezensionen, stützen erstmals und in extenso die Argumentation. Dadurch gelingt eine bislang unerreicht differenzierte Sicht auf aktualisierend-regimekritische Passagen dieses Hauptwerks, das Murray G. Hall in seiner großen Geschichte des Zsolnay-Verlags (1994), der Thiess' Werke seit 1931 herausbrachte, noch pauschal unter "Das Reich der ,Märchen'" rubrizierte. Wolf liest den unterschwelligen Appell an die "Werte der christlich-abendländischen Tradition", der das "Reich der Dämonen" grundiert, als "implizite Kritik am Nationalsozialismus", ohne die sprachliche Nähe ihres Objekts zu organologischen Denkmustern und NS-kompatibler Blut-und-Boden-Rhetorik - laut Wolf "eine gewisse Ambivalenz im Denken von Frank Thiess" - zu überspielen. Diese "Ambivalenz" - nicht nur im Denken von Thiess, sondern auch als Zeitphänomen konkurrierender "Weltanschauungen" - findet ihren Überbau letztlich in der omnipräsenten Lebensideologie, deren Bedeutung für Thiess auch von Wolf klar erkannt wird.

Im "Reich der Dämonen" zeichnet sie die Konturen einer teleologisch sinnstiftenden Geschichtskonstruktion nach: Die unter dem Einfluss Spenglers diagnostizierte "Weltgeschichte als Schreckenskammer" (Thiess) stellt sich hier letzten Endes regelmäßig in den "Dienst des Geistes". Abweichend von Spengler wird dabei der irrational gesetzte, vom Einzelnen unbeeinflussbare Weltprozess ins Positive umgedeutet. Damit wiederum teilt der Text tatsächlich ein Hauptmerkmal der "Inneren Emigration", wie Wolf plausibel darlegt: nämlich die fatale Implikation, "daß es schon immer dunkle Phasen gegeben habe und daß sie [...] ebenso zu akzeptieren seien wie Geburt und Tod oder eine Naturkatastrophe". Mit anderen Worten: Das subversive Potenzial dieser Weltmodellierung mündet folgerichtig in einer Durchhalteparole.

Auf den "aus heutiger altertumswissenschaftlicher Sicht problematischen Umgang mit den Quellen" und "fehlende wissenschaftliche Nachweisbarkeit" hätte Wolf nun nicht unbedingt und noch dazu mehrmals hinweisen müssen; das versteht sich angesichts der ideologischen Determiniertheit jenes Opus von selbst. Wolfs stets behutsamer und um Ausgewogenheit bemühter Duktus hätte bisweilen ruhig etwas pointierter ausfallen dürfen. Störender aber als ein paar redundante Formulierungen tritt der nicht nur im "Dämonen"-Kapitel über die Ufer getretene Fußnotenapparat in Erscheinung, der rigoros eingedämmt zu werden verdiente, denn die dort in jeder Beziehung erschöpfend referierten Forschungspositionen lassen den Haupttext nicht selten auf wenige Zeilen pro Seite schrumpfen, was in einem kaum zu rechtfertigenden Verhältnis zum Erkenntnisgewinn steht und die Lektüre unangemessen behindert. Spätestens hier rächt sich Wolfs erklärte Absicht, "methodische und perspektivische Vielfalt walten zu lassen", durch die schier unüberschaubare Akkumulation von Stimmen zum Thema in einer ansonsten stringenten und textnahen Argumentation. (Auch sollte in einer literaturwissenschaftlichen Veröffentlichung kein "Bertold" Brecht mehr unterlaufen. Aber das sind natürlich nur Formalitäten.)

Neben dem "Reich der Dämonen" bildet der "Roman eines Seekrieges" "Tsushima" von 1936 einen Untersuchungsschwerpunkt Wolfs. Thiess' Beschreibung der Entscheidungsschlacht des russisch-japanischen Krieges ist sein wohl erfolgreichstes Werk geblieben, es fand bald international Beachtung (unter anderem durch Hemingway) und wurde zuletzt 1987 als Rowohlt-Taschenbuch neu aufgelegt. Wolf positioniert es kritisch - in "'Tsushima' finden sich [...] Motive und Ideologeme kriegsverherrlichender Literatur wieder", gar "Affinitäten zu nationalsozialistischem Gedankengut" - auf einer Skala zwischen Schauweckers schwachsinnigem Marinehymnus "Der Panzerkreuzer" und Plieviers antimilitaristischem "Roman der deutschen Kriegsflotte" "Des Kaisers Kulis". Wolf bilanziert auch hier, "daß Thiess in 'Tsushima' weniger Kampf und Krieg als vielmehr die einzelne große Persönlichkeit verherrlicht", sie unterstreicht die von der antisowjetischen NS-Propaganda abweichende, russlandfreundliche Haltung - und revidiert damit vorsichtig neuere Forschungspositionen, die Thiess, nicht zuletzt aufgrund kompromittierender Stellen in der Korrespondenz mit seinem Wiener Verlag Paul Zsolnay, unverhohlene NS-Nähe vorwarfen. Allerdings lehnt auch sie die Zuordnung des Werks zur "Inneren Emigration" entschieden ab. (Nur am Rand sei vermerkt, dass in der Inhaltszusammenfassung ein irritierender Fehler unterlief, der eine zentrale strategische Pointe zunichte macht: Admiral Rojéstwenski fuhr eben nicht "durch den Suezkanal", sondern umschiffte mit seinem baltischen Geschwader die afrikanische Westküste auf dem Weg zur Schlacht und in den Untergang seiner Flotte.)

Um die Grundlagen des geistesaristokratischen Thiess'schen Denksystems zu veranschaulichen, sind dem Erstlingsroman "Der Tod von Falern" (1921) sowie der Essayistik und Vortragstätigkeit der zwanziger und dreißiger Jahre einführende Betrachtungen gewidmet. Die konstanten Themen und ihre Variationen - Jugendkult, Lebensreform, nationalrevolutionäres Elitebewusstsein, Antibolschewismus, Perhorreszierung der Masse - werden ausführlich belegt, ebenso ihr Eklektizismus, den Wolf auch biografisch dokumentiert (so stand Thiess in freundschaftlicher Verbindung zu so gegensätzlichen Personen wie dem Monarchisten Friedrich Reck-Malleczewen und dem linksrevolutionären Aktivisten Kurt Hiller, beide freilich zugleich vitalistische Geistesaristokraten, wobei Wolf die zeitgeschichtliche Bedeutung des Letzteren aus heutiger Perspektive eher unterschätzt). Über Details und einzelne Akzentuierungen könnte natürlich gestritten werden, so etwa über den Umstand, dass Wolf lebensphilosophisches kulturelles Wissen aus der vorwiegend psychologiehistorischen Arbeit von Angelika Ebrecht ("Das individuelle Ganze", 1992) ableitet, während literaturgeschichtlich relevante Titel dazu, etwa Helmut Lethens "Verhaltenslehren der Kälte" oder Martin Lindners "Leben in der Krise", beide 1994, im Literaturverzeichnis fehlen. Auch vermisst man ein Register. Festzuhalten bleibt in jedem Fall, dass Yvonne Wolf mit der vorliegenden Studie eine Pionierarbeit geleistet hat, die die Basis jeder weiteren Auseinandersetzung mit Frank Thiess, aber auch mit literarischen Strategien im "Dritten Reich" wird bilden müssen.

Titelbild

Yvonne Wolf: Frank Thiess und der Nationalsozialismus. Ein konservativer Revolutionär als Dissident.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2003.
339 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-10: 3484321148

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