Kritische Theorie und Praxis

Über Band 4 der "Nachgelassenen Schriften" Herbert Marcuses

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Sinn von nachgelassenen Schriften ist zweifelhaft. Das Werk Max Horkheimers liegt seit einiger Zeit umfassend und abgeschlossen bei Fischer in zwanzig Bänden vor. Adornos gesammelte Schriften sind bereits seit längerem bei Suhrkamp ediert. Seit Anfang der 1990er Jahre folgen die Bände mit Vorlesungstranskriptionen. Haben diese noch den Vorteil, dass sie einem manches aus dem anfangs sprachlich schwer zugänglichen Hauptwerk leicht verständlich machen, findet man in diesen noch den einen oder anderen ergänzenden Gedanken, so sind beispielsweise die Korrespondenzbände für die Theorie irrelevant. Adorno hatte 2003 noch ein Revival, Horkheimer wird nicht mehr gelesen, Herbert Marcuse noch weniger. Der relativ kleine zu Klampen Verlag, von den 1980ern bis in die 90er hinein eine Art Verwalter des geistigen Erbes der Kritischen Theorie, indem er die Schriften von direkten oder indirekten Schülern Adornos und Horkheimers wie Hermann Schweppenhäuser oder Peter Bulthaup und die Dissertationen derer Schüler verlegt, hat es sich zur Aufgabe gemacht, nicht nur die gesammelten Schriften Marcuses wieder zugänglich zu machen (2004), sondern auch nachgelassene Schriften erstmalig zusammenzufassen.

Band 4 befasst sich mit der Studentenbewegung, ihrem politischen und theoretischen Umfeld und den so genannten Folgen. Die versammelten Dokumente umfassen Reden, Interviews, Zeitschriftenartikel und Briefe vom Anfang der 1960er bis zum Ende der 1970er Jahre. Sie sind thematisch gegliedert in Kuba und Kuba-Krise, Vietnam und die Studentenproteste, 1968 und die Studentenbewegung, Israel, Angela Davis und Briefwechsel mit Rudi Dutschke. Gerade die letzten beiden Themenblöcke sind schlichtweg überflüssig.

In Sachen Theorie erfährt man nichts Neues. Diese wird allenfalls angewandt und mit teilweise etwas zweifelhaftem gesunden Menschenverstand abgemischt, um zu aktuellen Situationen Stellung nehmen zu können. Bekannte Theoriebrocken wie Aggression im Spätkapitalismus, die Integration der Arbeiterklasse und die damit zusammenhängende Transformation der Revolutionstheorie tauchen auf.

Marcuse sorgt sich um die "rapide Umwandlung unserer eigenen Gesellschaft in eine unfreie Gesellschaft", die er zum einen am weltweiten kriegerischen Engagement der USA, zum anderen an den Reaktionen auf die Proteste dagegen abliest. Dabei greift er leider immer wieder zu Faschismus-Vergleichen. Der Unterschied besteht aber damals wie heute darin, ob ein US-Bürger das tut, der naiv zu unpassenden Vergleichen greift oder ein Deutscher, der damit die NS-Verbrechen relativieren und anderen aufhalsen will. Der Unterschied besteht darin, ob man es, wie Adorno und Horkheimer, mit deutschen Studenten zu tun hat, die alsbald lernten, überall vom "Faschismus" zu sprechen, um den Nationalsozialismus beschweigen zu können, und die es als eine ihrer vornehmsten revolutionären Aufgaben sahen, einen der wenigen entkommenen und zurückgekehrten Juden, der sie über die Verhältnisse aufklärte, zu terrorisieren oder nicht.

Marcuse bewertete die vornehmlich studentische Opposition zunächst positiv. Hierbei lag er mit Adorno und Horkheimer überquer, wie zum Beispiel einem Briefwechsel mit Adorno zu entnehmen ist. Zwar weiß Marcuse, dass der "Ekel vor dem Lebensstil" nur "Negation" sein kann und kein "Ziel", und ihm ist auch bewusst, dass die individuellen Befreiungskonzepte weder individuelle noch gesellschaftliche Emanzipation bringen, wenn sie nicht über sich selbst hinausgehen, trotzdem aber weigert er sich, "selbst die unerfreulichen und unreif linksradikalen Seiten der Bewegung zu verurteilen." Schließlich seien "diese angeblich pubertierenden Linksradikalen zwar die schwachen und verwirrten, aber die wirklichen Erben der großen sozialistischen Tradition." Die "Pest der Neuen Linken", "der weit verbreitete Anti-Intellektualismus", den Marcuse 1968 schon sah, weitete sich aus.

1979 ist Marcuse skeptischer. Die vorher gelobte "Einheit von Politik und Eros" sieht er bei einem von den "Agenten, Dummköpfen und Abenteurern" der Bewegung, Daniel Cohn-Bendit, in der "Einheit von Widerstand und Leben" auf den Hund gekommen. Die florierenden Kommunen könnten "bestenfalls" als "Schutzräume" dienen. Die kollektiven Versuche der Post-68er liefen "Gefahr, persönliche Probleme und Neigungen zu kultivieren", als "abstrakte Verallgemeinerung des Partikularen." Gerade das Partikulare, beispielsweise das Individuum, sieht Marcuse durch den Geist des Kollektivismus bedroht. Gegen die "schlechte Aufhebung der autoritären Persönlichkeit" (Frank Böckelmann) findet Marcuse sich plötzlich (und zehn Jahre später als Adorno und Horkheimer) in der Rolle desjenigen, der bürgerliche Werte verteidigt gegen eine "'gutgemeinte' 'therapeutische' Vergewaltigung der persönlichen Freiheit."

Titelbild

Herbert Marcuse: Die Studentenbewegung und ihre Folgen. Nachgelassene Schriften. Band 4.
Herausgegeben von Peter-Erwin Jansen.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Thomas Laugstien.
zu Klampen Verlag, Lüneburg 2004.
253 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 392424586X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch