Sprache als Rettung und Falle

Zu Anja Utlers Lyrikband "münden entzüngeln"

Von Philipp WeißRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Weiß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist ein Taumeln, ein Schlingern, in dem sich das Ich und mit ihm die Sprache in den Gedichten Anja Utlers befindet. Man fühlt sich vielleicht erinnert an die Worte Paul Celans, der beinahe vor einem halben Jahrhundert schrieb, dass es nicht allein die Sprache sei, sondern ein unter dem besonderen Neigungswinkel seiner Existenz sprechendes Ich, das im Gedicht am Werk sei. In Anja Utlers Gedichtband "münden - entzüngeln" scheint dieses Ich nicht bloß geneigt, sondern bereits beinahe gefallen zu sein. Jedoch nur beinahe. "die zunge sich: abstecken, hissen, nur so / bremst sie den fall", heißt es an einer Stelle. Es ist eine "verflechtung", die den Fall verhindert, das Netz der Sprache, das zugleich Rettung und Falle ist.

Dieses Paradoxon postmoderner Literatur versucht Anja Utler - entgegen der Tendenz vieler ihrer ebenfalls jungen Kollegen - nicht zu kaschieren. Sie stellt es vielmehr in das unsichtbare Zentrum, es ist in jeder Zeile deutlich spürbar, es affiziert, nimmt den Leser gefangen und lässt ihn Wunden und Risse fühlen.

In einer verführerischen Oszillation zwischen Klang und Bedeutung webt Anja Utler ihre sprachlichen Miniaturen, verzichtet dabei beinahe gänzlich auf Narration und lockt mit zerrüttetem, aber eindringlichem Rhythmus. "[...] entsickert, gemündet in / schlingende flutende, fransen mäandernde / adern sich aus - richtung: talsperre - jochbein, ja / gurgeln und stockt stottert fängt: sich an reusen aus / hornblatt, gezähnt, flutet im: gerodeten mund".

Utlers Sprache ist durchwirkt von einem Treibenlassen ebenso wie von einer Dringlichkeit, einem Sog und zielt durch assoziative Verkettung immer in ein Inneres. Die Worte verweisen nicht nur auf eine fragwürdige äußere Wirklichkeit, sie verweisen auf das durch sie selbst gesponnene Netz, auf den Klang und das Spiel der Bedeutungen. Es wird dadurch ein Raum geschaffen, der offen ist, und der Leser ist aufgefordert, diesen Raum zu betreten, die Sprache darin zu betasten und sich dabei selbst als Sinnstifter zu begreifen. Dass dies Lesern Angst machen kann, darauf hat Anja Utler selbst hingewiesen. Wagt man jedoch den Schritt, so findet man sich reich belohnt.

Bei aller Offenheit ist dennoch eine Struktur hinter allem erkennbar. Betrachtet man exemplarisch den ersten Zyklus des Bandes, so merkt man schnell, dass es mehrere Wortfelder sind, die sich in beinahe allen Gedichten ineinander schieben: jenes der Natur, insbesondere des Wassers (schilf, bachlauf, pappeln, kalkfels), jenes des Körpers (mund, pupille, finger, zunge, schulterblatt) und häufig jenes der entzweienden Verben (scheiden, klaffen, brechen, splittern, spalten). Es wird so einerseits eine Verflechtung von Körper und Natur generiert, andererseits ein Bruch, die unüberwindbare Kluft: "im sturzbach der kopf - fontanelle - voran / diese lücke da:". Das Wortmaterial weist aber zugleich immer metaphorisch auf die hinter allem stehende Sprache, das dichterische Sprechen, somit auf sich selbst.

Dies alles erinnert, nicht zuletzt wegen der Form der Gedichtzyklen - der gesamte Band ist eine stimmige Komposition in zwei Teilen, in die sich jedes Gedicht fügt -, an Thomas Klings "Manhattan Mundraum", in dem allerdings Körper und Stadt und nicht Körper und Natur die Wortfelder bestimmen, was vielleicht als eine spannende Verschiebung verstanden werden kann. Es wundert jedenfalls nicht, dass gerade Thomas Kling sich überschwänglich zur Lyrik Anja Utlers äußerte und gar meinte, er kenne niemanden, egal in welchem Alter, der ihr das Wasser reichen könnte.

Das lyrische Ich dieser Gedichte nimmt sich entfremdet wahr: "ja, wieder und wieder ent- / wrungen sich" heißt es da oder "verliere - nur poren mehr - und lieg mir fern" oder es ist vom "sich eintauschen" die Rede. Das Personalpronomen selbst ist aber oft eine Leerstelle im Text, das Ich verbirgt sich in der ersten Person der Verben (schlingre, will, finde, zittre). Leise, vorsichtig, aber dennoch unüberhörbar in diesen Gedichten kommt dann die Frage: "bist du?". Das lyrische Du scheint ebenfalls eine entscheidende Rolle zu spielen. Es fungiert als Fluchtpunkt: "drifte schon: schlingre dir zu / durchs zerklüftete".

Ein in sich abgeschlossener Zyklus des Bandes sei noch besonders hervorgehoben: "marsyas, umkreist". Marsyas ist eine Figur der griechischen Mythologie, einer der Satyrn, halb Mensch und halb Ziegenbock. Marsyas wird, nachdem er Apollon in einem Wettstreit im Flötenspiel unterliegt, bei lebendigem Leib die Haut abgezogen. Aus seinem Blut und seinen Tränen entsteht ein nach ihm benannter Fluss. Hier bieten sich für Utler wieder der Körper und die Natur bzw. der Fluss als poetische Bilder an, vor allem aber das Spiel und das jähe Ende des vollendet musizierenden Marsyas als Allegorie für die Dichtung. "zwischen den fingern im flötenhals schwingen / erbeben sie spalten: den luftstrom entzweien - [ssh] - säuseln das/ röhricht den lippen den rispen gleich teilt sich schwappt: wieder in eins"

Dass alles wieder eins zu werden scheint in den Gedichten Anja Utlers, dass sie mit der Ambivalenz des Bruchs und der Einheit arbeiten, sie spürbar machen und überwinden zugleich, das mag vielleicht auch ein Grund für die enorme Kraft und Anziehung dieser Gedichte sein. Die 1973 in Deutschland geborene und nun in Wien lebende Autorin, die 2003 den Leonce und Lena-Preis, somit den bedeutendsten Lyrikpreis im deutschsprachigen Raum gewann, hat mit "münden - entzüngeln" einen Gedichtband vorgelegt, der in der jungen Autorengeneration seinesgleichen sucht. Nicht zuletzt durch die wirklich hochwertige, schöne Bindung und Gestaltung des Bandes durch den Verlag "Edition Korrespondenzen" ist dies eine der wertvollsten Neuerscheinungen in der deutschsprachigen Lyrik der letzten Jahre.

Titelbild

Anja Utler: münden entzüngeln.
Edition Korrespondenzen, Wien 2004.
91 Seiten, 17,40 EUR.
ISBN-10: 3902113332

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