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Elmar Holenstein kartografiert in seinem "Philosophie-Atlas" die Denkbewegungen der Philosophiegeschichte

Von Patrick BaumRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Baum

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"De nobis ipsis silemus." ("Von uns selbst schweigen wir.") Das der "Instauratio magna" Francis Bacons entlehnte Motto, das Immanuel Kant seiner "Kritik der reinen Vernunft" voranstellt, formuliert paradigmatisch eine von den meisten Philosophen geteilte Grundüberzeugung: die nämlich, dass die biografischen, historischen, kulturellen und auch geografischen Begleitumstände philosophischer Begriffe, Thesen und Theorien irrelevant für ihr Verständnis seien. Gegen diese Grundüberzeugung opponiert der Schweizer Kulturphilosoph Elmar Holenstein mit seinem "Philosophie-Atlas". Ihm ist es darum zu tun, die Philosophiegeschichtsschreibung um die die bislang vernachlässigte räumliche Dimension zu erweitern und dadurch die "Orte und Wege des Denkens", so der Untertitel seines Werks, freizulegen.

Die dem eigentlichen Atlas vorangestellten, programmatischen Leitgedanken leitet Holenstein listigerweise mit einem überlieferten Ausspruch Immanuel Kants ein. Der hier eingangs als Kronzeuge der Gegenseite zitierte Königsberger, der ja bekanntlich auch über "Physische Geographie" las, ist voll des Lobes für diese Disziplin: "Es ist nichts, was den geschulten Verstand mehr kultiviert und bildet, als Geographie." Ausgehend von dieser Formulierung zeigt Holenstein den Nutzen einer Geografie der Philosophie auf, die sowohl hermeneutisch wie auch heuristisch wertvolle Beiträge zur Philosophiegeschichtsschreibung leisten könne: "Denkweise und Denkinhalte gewinnen an Tiefenschärfe und werden leichter begreifbar, wenn wir den Herkunftsort und die Lebensstationen eines Philosophen kennen [...]." Diese "Kontextkenntnis" verhilft, so Holensteins Hoffnung, nicht nur zu einem besseren Verständnis europäischer und außereuropäischer philosophischer Texte, sondern könnte durchaus gesellschaftspolitische Relevanz haben: "Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass eine bessere Kenntnis der eigenen Geschichte zu mehr Selbstbescheidung und eine größere Vertrautheit mit der Geschichte der anderen Erdteile zu mehr Anerkennung diesen gegenüber anhält." Überlegungen zu einer Geografie der Philosophie führen fast zwangsläufig auch zu einer Philosophie der Geografie. Wer als Philosoph Geografie treiben will, wird sich auch Gedanken über deren Konstruktionsleistungen, über ihre Begriffe und ihre Methodik machen müssen. So rekapituliert auch Holenstein knapp die Geschichte der Philosophie der Geografie von der Antike bis zur Kulturgeografie des 19. und 20. Jahrhunderts, um davon ausgehend seine Vorstellung zu skizzieren und die methodischen Entscheidungen transparent zu machen.

Der Hauptteil, der eigentliche Atlas, besteht aus rund 40 Karten und Schaubildern, die jeweils von einem kurzen Einleitungstext flankiert sind. Erschlossen wird das Kartenmaterial durch ein Personenregister und ein sehr umfangreiches geografisches Register. Bei der Bezeichnung von Orten, Flüssen, Regionen und Ländern folgt Holenstein dabei einer in den Leitgedanken näher begründeten cultural politeness. Maßgeblich sind demnach die Eigenbezeichnungen (also: "Han'guk" statt "Korea") und Ausdrücke, die nicht ideologisch, zum Beispiel durch eine eurozentrische Sicht, vorbelastet sind (also: "Ostasien" statt "Fernost"). Das Karten- und Schaubildmaterial ist in vier Abteilungen angeordnet: Anfangs- und Modellvorstellungen, Vor- und Kontextbedingungen, Vier Geschichten der Philosophie und Gegenwart und Zukunft.

Innerhalb der ersten Abteilung (Karten A1 bis A11) werden Humanisationsmodelle archäologischer und paläoanthropologischer Provenienz sowie geschichtsphilosophische Entwürfe diskutiert und veranschaulicht. Zur Sprache kommen u. a. das uniregionale Modell der Humanisation ("Out-of-Africa-Modell"), das pluriregionale Modell ("Kandelaber-Modell"), das von mehreren Zentren bei der Entwicklung des homo sapiens ausgeht, Hegels Konzeption der Weltgeschichte und Jaspers' Modell der Achsenzeit. Die zweite Abteilung (Karten K1 bis K8) beleuchtet die Rahmenbedingungen, die die Entwicklung philosophischer Gedanken prägen: Es finden sich beispielsweise Karten zur Verbreitung von Ackerbau und Viehzucht oder zur mutmaßlichen Ausbreitung alphabetischer Schriften. Die dritte Abteilung (Karten W1 bis W5, S1 bis S5, O1 bis O5 und N1 bis N5) skizziert vier Geschichten der Philosophie. Wenn man so will, ist sie der programmatische Kern des Atlas. Der Plural "Geschichten" deutet es an: Der kanonischen europäischen Philosophiegeschichte werden drei Alternativgeschichten kontrastiv gegenübergestellt. In der vierten Abteilung (Karten G und Z) finden sich eine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen geografischen Situation der Philosophie und Spekulationen über ihre potenzielle Zukunft: Zwei Modelle, so Holenstein, sind möglich: eine von der Analytischen Philosophie dominierte Monokultur oder eine Pluralisierung der Denkformen.

Dass der "Philosophie-Atlas" die Philosophiegeschichtsschreibung revolutionieren werde, wie mancherorts im Feuilleton zu lesen war, ist wohl eine übertriebene Hoffnung. Aber von einem "Pilotprojekt" - so die Charakterisierung des Autors selbst - wäre es zu viel verlangt, die überwiegend eurozentrisch konzipierte Philosophiegeschichte auf einen Schlag umzuschreiben. Der Anspruch Elmar Holensteins ist auch ungleich bescheidener: "Der Atlas ist gedacht als Begleit- und Hilfsinstrument bei der Lektüre philosophischer Überblicksliteratur, jedoch keineswegs als Ersatz." Aber nicht nur als flankierende Lektüre für Philosophiegeschichtsbücher ist der Atlas von Nutzen. Indem er Denkwege nachzeichnet, schärft er die Sensibilität dafür, dass "Ortswechsel des Denkens", wie sie der Philosoph und Sinologe François Jullien schon seit einiger Zeit mit Erfolg vollzieht, nicht nur zur Entdeckung von Neuem, sondern auch zu einem vertieften Verständnis des Alten beitragen können.

Titelbild

Elmar Holenstein: Philosophie-Atlas. Orte und Wege des Denkens.
Ammann Verlag, Zürich 2004.
300 Seiten, 43,90 EUR.
ISBN-10: 3250104795

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