Eine Familie im Strudelteig

"Vienna" - der überzeugende Roman-Erstling der F.A.Z.-Journalistin Eva Menasse

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Beim Schreiben habe ich mir vorgestellt, ich habe einen großen, dicken Strudelteig vor mir. Da stecken alle drin, die ganze Zeit, alle Figuren, und bei jedem Kapitel hole ich ein anderes Stück raus", bekannte die 34-jährige Eva Menasse über ihren opulenten Debütroman "Vienna". Den literarischen Teig hat sie mit bekömmlichen Zutaten wie Humor, erzählerischer Raffinesse, historischen Anekdoten, Familiengeschichte und reichlich Zeitkolorit versehen und auf kleiner Flamme durchgebacken.

Die Wienerin Eva Menasse, die einige Jahre als Kulturkorrespondentin für die FAZ aus ihrer Heimatstadt berichtete und nun in Berlin lebt, hat einen ganz eigenartigen Tonfall gefunden. Ihr großes Zeitpanorama, das sie aus einer Ansammlung von historischen Mosaiken zusammensetzt, kommt ohne Pathos und Larmoyanz daher. Eva Menasse plaudert mit dem Charme des Wiener Kaffeehaus-Ambientes und entpuppt sich dabei als höchst unterhaltsame Geschichtenerzählerin. "Im Zweifelsfall gibt man in meiner Familie der Pointe den Vorzug gegenüber der Geschmackssicherheit", erklärte sie in einem Interview.

Trotz vieler offenkundiger biografischer Parallelen liegt hier kein Schlüsselroman über die Familie Menasse vor. Zwar lassen sich Vater Hans, der in den 50er Jahren österreichischer Fußballnationalspieler war, der ältere Bruder Robert, der 2001 den grandiosen Roman "Die Vertreibung aus der Hölle" vorlegte, und viele andere Familienmitglieder erkennen, doch für die Autorin hat die eigene Familie lediglich exemplarischen Charakter. Mit ihren kleinen Anekdoten erforscht die Autorin auch ein Stück österreichische Geschichte. Im Dunstkreis der "gespaltenen" Familie tummeln sich Nazis und Kommunisten; die katholische Großmutter stammt aus dem Sudetenland, der Großvater ist ein Wiener Jude, und dessen Schwester Gustl heiratet in die besseren Kreise ein. Ihren wohlhabenden, aber aufreizend einfältigen Ehemann "Dolly" Königsberg stellt sie mit den Worten "er is ka Jud, er is a Bankdirektor" vor. Der Großonkel der Erzählerin, die erst im Schlussviertel des Romans aus dem selbst gewählten Schutz der Anonymität auftaucht, erweist sich als wahres sprachliches Unikum - er macht aus "Domäne" "Dämone", er fällt mit der Kirche ins Dorf, lässt Felix aus der Asche steigen und "hat alles verbal schon immer gesagt, und alles andere ist letztlich primär."

Bei allem Humor und Anekdotenreichtum gleitet dieser Roman nie ins Triviale ab. Eva Menasse versteht es ausgezeichnet, ihre ernsten Themen mit Augenzwinkern zu erzählen. Vater Hans und dessen sieben Jahre älterer Bruder wurden von den Eltern vor den Nazis in Sicherheit gebracht und nach England verschickt. Der Vater entwickelte auf der Insel sein fußballerisches Talent und verlernte dabei fast seine Muttersprache, während Onkel Kurt als Sergeant der britischen Armee in Burma kämpfte.

Über die NS-Zeit und die Emigration herrscht viele Jahre eisiges Schweigen in der sonst so redseligen Familie. Eine familiäre Spannung, die die Erzählerin als "manisches Mythologisieren" beschreibt und die erst durch die Politisierung des schreibenden Bruders abgebaut wird. Eva Menasse hat ihren Roman zyklisch arrangiert. Zu Beginn steht die "Sturzgeburt" ihres Vaters im Jahr 1930, und am Ende trifft sich der gesamte Familienclan bei der Beerdigung des Großvaters.

"Vienna" ist ein Debütwerk, das mit großen Vorschusslorbeeren ausgestattet wurde. Die FAZ veröffentlichte einen 80-teiligen Vorabdruck, und eine Startauflage von 50.000 Exemplaren ist bei einem Erstling mehr als ungewöhnlich. Ist es Zufall, dass der Roman bei Kiepenheuer und Witsch veröffentlicht wurde? Dort erschienen auch die beiden erfolgreichen Romane "Hampels Fluchten" und "Durst" von Michael Kumpfmüller, mit dem Eva Menasse seit einem Jahr verheiratet ist. Aber das ist eine ganz andere Familiengeschichte.

"Vienna" ist eines der eindrucksvollsten Debüts der letzten Jahre: tief bewegend, herrlich komisch, mit einer neuen unverbrauchten Stimme. Um mit Vater Hans zu sprechen: "Alles bestens. Danke!"

Titelbild

Eva Menasse: Vienna. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005.
428 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3462034650

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