Sehnsucht nach Harmonie und Schönheit

Albert van der Schoot erzählt die Geschichte des Goldenen Schnitts

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kein anderes Maßverhältnis hat es zu solcher Popularität gebracht wie der Goldene Schnitt. Man muss kein Mathematiker sein, kein Baumeister, kein Architekt oder Künstler, um der Faszination der "göttlichen Teilung", wie das Maß auch genannt wird, zu erliegen. Dabei ist der Goldene Schnitt zuächst mal nichts anderes als ein Zahlenverhältnis, ausgedrückt in der Zahl Phi. Er bezeichnet ein Verhältnis, das am anschaulichsten an zwei Strecken verdeutlicht werden kann: diese stehen im Verhältnis des Goldenen Schnittes, wenn sich die größere zur kleineren Strecke verhält wie die Summe aus beiden Strecken zur größeren Strecke. In Kunst und Architektur gilt dieses Verhältnis als eine gewissermaßen optimale Proportion, die auf unsere ästhetische Rezeption wirkt: Der Goldene Schnitt ist Kennzeichen dessen, was uns als Harmonie und Schönheit erscheint. Wie zur Bestätigung der ästhetischen Bewertung taucht der Goldene Schnitt auch in der Natur auf. In der Anordnung von Blättern und Blüten bestimmter Pflanzen erscheint durch ihn eine harmonische Ordnung gewährleistet. Bedenkt man zudem noch die faszinierenden mathematischen Eigenschaften des Maßverhältnisses, so scheint es gerechtfertigt, den Goldenen Schnitt als Ausdruck wenn nicht göttlicher, so doch kosmischer Ordnung anzusehen.

Dieses "ästhetische Ideal" hinterfragt der niederländische Kulturphilosoph Albert van der Schoot in seinem Buch. Seine Geschichte des Goldenen Schnitts entmythologisiert das Ideal. Denn schnell erschließt sich dem Leser: Das Ideal des Goldenen Schnitts ist eine neuzeitliche Erfindung. Erstmals taucht der Begriff 1835 in einem mathematischen Lehrbuch auf. Martin Ohm (1792-1872), jüngerer Bruder von Georg Simon Ohm, dessen Name mit der Lehre vom elektrischen Widerstand verbunden ist (Ohm'sches Gesetz), fügte in der zweiten Auflage seiner "Elementar-Mathematik" der beschriebenen "stetigen Proportion" eine Anmerkung hinzu: "Diese Zertheilung [...] nennt man wohl auch den goldenen Schnitt." Tatsächlich hatte das vorher noch niemand getan. Aber es gab den Begriff der "Göttlichen Teilung". So hatte 1509 der Franziskanermönch Luca Pacioli (1445-1517) in seiner Schrift "Divina Proportione" den Goldenen Schnitt bzw. das so bezeichnete Verhältnis genannt. Die Rückgriffe auf das Göttliche in der Abhandlung, so schreibt van der Schoot, brachten "zwar keine neuen mathematischen Erkenntnisse, doch sie zeigen eindrücklich, wie um 1500 mathematische und göttliche Eigenschaften als Analogien betrachtet werden konnten." So wird deutlich, "wie die Mathematik die formale Struktur für eine diskursive Argumentation bildet, mit deren Hilfe transzendente Wahrheiten einsichtig gemacht werden."

Eben mit einer solchen Dienstbarmachung beginnt auch die Geschichte des Goldenen Schnitts. Denn in der Nachfolge Pythagoras' (ca. 575- ca. 500 v. Ch.) interpretierten die Pythagoreer Zahlen als "Quelle ethischer und ontologischer Erkenntnis." Doch meinten sie immer natürliche Zahlen (arithmoi). In der "wohl geordneten pythagoreischen Zahlenwelt [...] gibt es für irrationale Zahlen und Verhältnisse keinen Ort." Deshalb passte das Maßverhältnis des Goldenen Schnitts nicht in ihr ,Weltbild', denn es lässt sich nicht mit ganzen Zahlen darstellen, Phi ist eine irrationale Zahl.

Bereits diese Episode aus der Frühzeit zeigt, was der Autor im Verlauf der weiteren ,Zahlengeschichte' bestätigt sieht: Es gibt keine "freischwebenden Ordnungsprinzipien, die über dem Einfluss von Denkstilen stehen." Zwar lassen sich herausragende Formverhältnisse bestimmen, doch begründen sie keine ,Harmonices mundi', wie sie noch Kepler im 17. Jahrhundert zu begründen suchte, indem er das "pythagoreisches Erbe mit modernen Erkenntnissen" verband.

Zu den modernen Erkenntnissen gehörte auch der empirische Ansatz. Und so verwundert es nicht, dass vermehrt nach einem empirischen Beleg für die Bedeutung des Goldenen Schnitts gesucht wurde. Es dauerte nach Kepler allerdings noch über 200 Jahre, bis der deutsche Philosoph Adolf Zeising (1810-1876) 1854 seine "Neue Lehre" vorlegte. In ihr stellte Zeising sein "ästhetisches Gesetz" vor, demzufolge "die richtigen Verhältnisse in Kunst und Natur bis ins Detail vom goldenen Schnitt geprägt" sein müssten. "Prüfstein" für die Richtigkeit seines Gesetzes war die Natur, vor allem die "menschliche Gestalt". Auch hierfür gab es ein Vorbild: das berühmte Abbild der menschlichen Proportionen stammte von Leonardo da Vinci. Zeising, so fasst van der Schoot dessen Bedeutung zusammen, war "unbestreibar der erste, der detailliert versuchte, die[...] ubiquitas des goldenen Schnitts empirisch nachzuweisen." Er beeinflusste "die Vorstellung und Theorien zum goldenen Schnitt so entscheidend" wie kein anderer. Seine "Neue Lehre" leitete die "Idealisierung des goldenen Schnitts" ein.

Um den Idealtypus zu bestätigen, wurden im 19. Jahrhundert psychologische Experimente durchgeführt, mit denen man die herausragende Wirkung des Goldenen Schnitts auf die Rezipienten zu beschreiben suchte. Doch "die Vorstellung, der goldene Schnitt sei eine bevorzugte Proportion, wurde von all diesen Untersuchungen weder ein für allemal entkräftet, noch eindeutig bestätigt." Jedenfalls: beweisen ließ sich mit den oft auch methodische Mängel aufweisenden Untersuchungen nichts. Doch dem "Tod einer Hypothese" folgte die "kognitive Auferstehung". Mit Bedacht legte man nun an alle möglichen Lebensbereiche den Goldenen Schnitt an. So wurde beispielsweise gefragt, wie oft ein Sportverein gewinnen muss, um eine optimale Bindung an seine Fans herzustellen? In aufwändigen Untersuchungen kam man auf 61,8 Prozent der Spiele, was in der Nähe des Goldenen Schnitts liegt.

Bleibt noch die Frage, wieso der Goldenen Schnitt zum "ästhetischen Ideal" aufgewertet wurde. Der Autor meint, "daß in einem geistigen Klima, das vom Polaritätsdenken und dem Verlangen nach Harmonie beherrscht wurde, wobei sich gleichzeitig [..] ein Bedürfnis nach Genauigkeit und Meßbarkeit entwickelte, der goldene Schnitt durch seine formalen Eigenschaften besonders geeignet war, die miteinander im Widerstreit liegenden Bedürfnisse zu verbinden. [...] Wird dieses Maß zusätzlich zum klassischen Ideal erklärt, ist seine Autorität unantastbar."

Wie es zu diesem geistigen Klima kam, und in welcher Weise der Goldene Schnitt immer wieder vereinnahmt wurde, ist in diesem Buch abgesehen von einigen spezifisch mathematischen Anforderungen flüssig und interessant beschrieben, was es lesbar macht auch für den interessierten Laien.

Titelbild

Die Geschichte des goldenen Schnitts. Aufstieg und Fall der göttlichen Proportion.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Stefan Häring.
Frommann-Holzboog Verlag, Stuttgart 2005.
382 Seiten, 76,00 EUR.
ISBN-10: 3772822185

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