Vom Genfer See nach Lissabon und Phuket

Henning Ritters Versuch über Mitleid bei nahem und fernem Unglück

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nachdem Ende des Jahres 2004 ein Tsunami die Inselwelt des Indischen Ozeans verwüstet hatte, flossen die Spenden der Deutschen derart reichlich, dass die Hilfsorganisationen deren Verteilung kaum bewältigen konnten. Eine dieser Organisationen, „Ärzte ohne Grenzen“, sah sich genötigt, darum zu bitten, nicht mehr zweckgebunden zu spenden und entschloss sich schließlich, einen Teil der den Tsunami-Opfern zugedachten Gelder in andere Hilfsprojekte zu stecken.

Die überwältigende Spendenbereitschaft für Menschen am anderen Ende der Welt scheint Rousseaus These zu widerlegen, dass das „Gefühl der Menschlichkeit“ stetig schwächer wird, je weiter es sich „über die Erde ausdehnt“, bis es schließlich ganz „verdampft“. Denn es sei uns nicht gegeben, meint Rousseau, „von den Unglücksfällen bei den Tataren oder in Japan ebenso berührt zu werden wie von dem, was einem europäischen Volk zustößt“. Nimmt das Mitleid also entgegen der Auffassung des Philosophen am Genfer See doch nicht mit der Entfernung zwischen den Leidenden und den Mitleidenden ab? Schließlich kann sich das deutsche Spendenaufkommen für die verwüsteten Strände in Fernost durchaus mit demjenigen für die verschlammten Elbufer ein Jahr zuvor durchaus messen. Sollten also doch die Pariser Philosophen Recht behalten, welche, die Perfektibilität des Menschen vor Augen, den stetigen Fortschritt der Moral bis hin zum allgemeinen, grenzenlosen und -überschreitenden Wohlwollen für die gesamte Menschheit im Lichte der Aufklärung heraufdämmern sahen?

Anders als im 18. Jahrhundert von Naturkatastrophen heimgesuchte Tataren oder Japaner – oder auch die Einwohner des immerhin europäischen Lissabon – wurden die fernöstlichen Flutopfer des 21. Jahrhunderts den Deutschen allerdings durch die Dauerberieselung auf allen Kanälen und im gesamten Blätterwald spendenfördernd in die guten Stube getragen; während die alltägliche, nicht minder grausame Not an unzähligen anderen zumindest nicht weiter entfernten Orten zwar nicht gänzlich unbeachtet und unbedacht blieb und bleibt, aber doch kaum zu nennenswerter Aufregung und größeren Spendensummen führt.

Wie verhält es sich nun also mit dem Mitleid gegenüber „nahem und fernem Unglück“? Der Beantwortung dieser Frage gilt der „Versuch über das Mitleid“ des F.A.Z-Autoren Henning Ritter, in dem neben zahlreichen anderen einschlägigen Stellungnahmen aus der Philosophie- und Geistesgeschichte auch die Positionen Rousseaus und seiner Pariser Kontrahenten ausführlich dargestellt werden. Rousseau, in dessen Augen es, wie Ritter referiert, „unerheblich und unrealistisch“ war, „den Kreis möglicher Adressaten der Moral so weit wie möglich zu erweitern“, bildet gar die „Schlüsselfigur“ des vorliegenden Buches. Ihm zufolge war allein wichtig, „daß man sich zu den Menschen, mit denen man zusammenlebte, moralisch einwandfrei verhielt“.

Zwischen den konträren Auffassungen familienumsorgendes versus weltumspannendes Mitleid bewegen sich sämtliche von Ritter zur Illustration des Problems herangezogenen Gedankenexperimente zahlreicher Denker und Philosophen, die oft, wie die Pariser Philosophen um die „Encyklopédie“ und Rousseau selbst, der Aufklärung angehören, oftmals aber auch dieser nachgeboren sind, gelegentlich jedoch auch aus früheren Jahrhunderten und der Antike stammen. Unter ihnen befinden sich Montaigne, Montesquieu, der Chevalier de Saint-Germain, Henry Bergson, Adam Smith, Sigmund Freud, Fjodor Michajlowitsch Dostojewski, Carl Schmitt und Ernst Jünger.

Ritter folgt nicht den „systematischen Wegen der Philosophie“, sondern bedient sich des „Verfahrens impliziten Philosophierens“, das heißt er zieht „Bilder und Parabeln; Zitate und Paraphrasen“ heran, welche „die ganze Last der Argumentation“ tragen müssen. Jeder der drei Teile des Buches ist „in sich lesbar“, aber auch derart mit den vorhergehenden und folgenden Abschnitten „verklammert“, „daß erst eine Gesamtlektüre die Vernetzung der Protagonisten, der historischen und fiktiven Figuren sichtbar werden lässt“. Dieses Verhältnis – nicht nur der drei Teile, sondern auch der insgesamt 43 Abschnitte zueinander – entspricht dem der einzelnen Romane Balzacs zum Gesamtwerk der „Comédie Humaine“, die Ritter den Weg zum Thema ebnet.

Der Untertitel des vorliegenden Buches, „Versuch über das Mitleid“, erweist sich im Laufe der Lektüre als ein wenig irreführend, hätte der Plural ,Versuche‘ den Inhalt des Buches doch treffender bezeichnet. Denn der Autor legt weniger einen eigenen Versuch zum in Frage stehenden Thema vor, als dass er die einschlägigen Entwürfe von Philosophen und Denkern vornehmlich seit der Aufklärung vorstellt.

Titelbild

Henning Ritter: Nahes und fernes Unglück. Versuch über das Mitleid.
Verlag C.H.Beck, München 2004.
224 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 340652186X

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