Auf der Suche nach dem Splitter aus Eis

Graham Greene spart in seiner Autobiografie nicht die Langeweile aus

Von Christian MariotteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Mariotte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Ende des 19. Jahrhunderts machen zwei britische Kleinbürger eine Italienreise. In Neapel bittet sie ein widerlicher und aufdringlicher Landsmann um die Erlaubnis, sich zu ihnen zu setzen. Eine Stunde lang hält er sie mit seiner geistsprühenden Unterhaltung in Bann, bevor er verschwindet, ohne seinen Tee zu bezahlen. "Es dauerte ein bisschen, bis sie begriffen, wessen Gesellschaft sie genossen hatten. Der Fremde war Oscar Wilde, der nicht lange vorher aus dem Gefängnis entlassen worden war. ,Denk mal', so beendete mein Vater immer seine Erzählung, ,wie einsam er gewesen sein muss, dass er soviel Zeit und Witz für ein paar Schulmeister im Urlaub übrig hatte'".

Anders als sein unseriöser, unvorsichtiger Kollege genoss Graham Greene (1904-1991) schöne, gemütliche letzte Tage mit auserlesenen Freunden.

Überhaupt scheint für den britischen Schriftsteller alles nach Plan verlaufen zu sein, so zumindest der Eindruck beim Lesen der ersten Seiten seiner Autobiografie "Eine Art Leben", die 1971 im Original erschien und nun in neuer, ausgezeichneter Übersetzung vorliegt: Greene, der in einer behüteten Umgebung aufwuchs, kommentiert seitenlang einen Fragebogen, den er als Kind ausgefüllt hatte: "was ist dein Lieblingshobby?", "Was ist deine liebste Freizeitbeschäftigung?": "Die Antwort darauf ist mir rätselhaft, denn ich kann mich nicht erinnern, je Indianer gespielt zu haben." Hier grübelt jemand über Belanglosigkeiten nach, ohne Rücksicht auf irgendwelche Leser zu nehmen. Oder vielleicht doch. Da manche Kindheitserlebnisse wirklich zu farblos sind, lässt Greene Andeutungen auf spätere Abenteuer in Afrika fallen. Es geht um eine "irrwitzige Reise in Liberia": Das ist entweder zu viel oder zu wenig, um wirklich zu interessieren.

Aber der gnadenlos erfolgreiche Geschichtenerzähler Graham Greene gewinnt schnell wieder Boden unter den Füßen. Nach der etwas langweiligen Kindheit kommen die Schrecken der Internatsjahre umso eindringlicher daher. Mit der Beschreibung der seelischen Konflikte eines Schülers, der Sohn des Schulleiters ist und deshalb im Schlafraum als potenzieller Verräter gilt, findet Greene zu der Intensität seiner Spionageromane zurück. Allerdings wird das "mobbing", dem sich der Heranwachsende ausgesetzt sieht, mehr erwähnt als wirklich dargestellt.

Fragen der Darstellung sind es, die besonders den letzten Teil des Buches prägen. Bewundernswerter als die Bemerkung, dass es im Herzen eines Romanciers immer einen "Splitter aus Eis" gebe, ist die Ehrlichkeit Greenes, wenn er die Langeweile beim Schreiben seiner Romane zugibt. Auf die professionelle, hartnäckige Art, die angelsächsischen Schriftstellern eigen ist, arbeitet der junge Mann monatelang an einer "romantischen und unoriginellen Erzählung", die "blutleere Figuren" in Szene setzt. "Selbst heute noch weiß ich nicht, ob ich ein Buch zu Ende bringen kann, ehe ich nicht mindestens ein Viertel der Arbeit hinter mir habe".

Man kann sich freuen, dass Greene "Eine Art Leben" zu Ende geschrieben hat. Misslungen und langweilig ist es trotz einiger Makel bestimmt nicht. Zu den großen Autobiografien des 20. Jahrhunderts wird man es freilich nicht zählen dürfen. Dafür erzählt der Schriftsteller seine Geschichte mit zu viel Distanz, zu viel Humor und zu viel Lässigkeit. Die Entscheidung, den Bericht mit dem Erscheinen seines zweiten Romans enden zu lassen, lässt nicht auf ein ambitioniertes, mehrbändiges Projekt schließen, sondern auf eine gewisse Unfähigkeit, sich in seine Erinnerungsarbeit voll einzubringen. Als er die Autobiografie Charlie Chaplins schrieb, hat Greene schon größere Anstrengungen auf sich genommen.

Später sind übrigens weitere Bände erschienen, in denen Greene vor allem sein Schreiben und die politischen Ereignisse kommentiert. Dem damals jungen Schriftsteller Martin Amis erklärte Greene im Jahre 1984, sein letzter autobiografischer Versuch ("Mein Freund, der General", 1980) sei vollkommen uninteressant. 1993 veröffentlichte Amis seine Reportage über Greene im Essayband "Visiting Mrs. Nabokov" und schrieb noch ein paar erhellende Gedanken auf. Immer gleich seien Greenes Romane gewesen. Es habe sich nie etwas verändert im Greene-Universum, außer dass der Autor und seine Figuren älter wurden. Was von Greene bleibe, sei ein Werk, daß in der modernen Welt so naiv wie das eines Jugendlichen wirke. In der Tat: Greene ist der ideale Schriftsteller für Heranwachsende, und diese Bemerkung ist nicht ironisch gemeint. Mit 16 oder 17 Jahren ist man intellektuell noch etwas begrenzt, aber eigentlich kommt später im Leben gar nichts mehr. So kann man nur wünschen, dass sich noch viele, viele Jugendliche mit Greenes Romanen, und vielleicht auch mit dieser Autobiografie, die Zeit vertreiben.

Titelbild

Graham Greene: Eine Art Leben.
Übersetzt aus dem Englischen von Dieter Hildebrandt.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2004.
225 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3552053115

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