Beweglich und mobil

Der Antisemitismus in neuem Gewand?

Von Johannes SpringerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Springer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt kaum ein publizistisches Organ in der Bundesrepublik, das sich nicht seit Beginn der zweiten Intifada mit der These des Aufkommens eines neuen, veränderten und sehr lebendigen Antisemitismus auseinander gesetzt hätte. Ob nun das Etikett bzw. der Inhalt besorgt affirmativ oder indigniert ablehnend rezipiert wurde, man fand sich in einer Debatte wieder, die auch von größeren Foren wie den Symposien der Heinrich-Böll wie auch der Hans-Böckler Stiftung oder der Berliner OSZE-Konferenz aufgegriffen wurde. Die nun zahlreicher werdenden Veröffentlichungen, die sich mit der Frage beschäftigen, ob es einen neuen Antisemitismus gibt oder dies schon voraussetzen und es nur noch illustrieren wollen, geben auf sehr verschiedenen Niveaus und in mal schriller, mal zurückhaltend abwägender Rhetorik Auskunft. Vier davon sollen hier behandelt werden. Es sind zum einen zwei Sammelbände mit teils fachwissenschaftlich, theoretischen Ansprüchen und zwei eher kursorisch und zeitdiagnostisch angelegte Werke.

Die US-amerikanische Feministin Phyllis Chesler markiert in ihrer Veröffentlichung "Der neue Antisemitismus. Die globale Krise seit dem 11. September" die Neuartigkeit des Antisemitismus in den letzten Jahren mit vier Begriffen: Er geschieht im Namen von Antikolonialismus, Antiimperialismus, Antirassismus und Pazifismus. Nicht mehr ausgehend von einer sich ihrer Überlegenheit und Reinheit vergewissern wollenden Gruppe, lautet in veränderter Form nun die Selbstbeschreibung, dass man an Stelle von und mit unterdrückten Menschen agiere. Hauptziel dieser Kritik sei demnach der Staat Israel. Zwar sei nicht jeder, der den Staat Israel kritisiert ein Antisemit, jedoch sei Antizionismus in heutiger Zeit kaum unterscheidbar von Antisemitismus. Ohne große theoretische Reflexion bestimmt Chesler so gleich vier Intifadas, denen die Juden sich gegenübersehen: "Eine in der islamischen Welt, eine zweite in Europa, eine dritte an den Universitäten in Nordamerika und eine vierte, die von Al-Kaida gegen Amerika und den Westen gerichtet wird." Recht hat die Autorin damit natürlich, aber gepaart mit ihren sich als Medienkritik verkaufen wollenden Passagen wirkt es mitunter etwas banal. Ihre Aussage "Es ist wichtig - wiewohl beunruhigend festzustellen, dass Fotos, Filme und Zahlen lügen können" hätte man kaum im Kriterienkatalog zu den Neuerungen des neuen Antisemitismus vermutet. Denn so neu ist diese Erkenntnis nicht mehr.

Chesler versteigt sich zudem des öfteren zu etwas befremdlichen Aussagen. So notiert sie, den universitären Antisemitismus in den USA zu Recht kritisierend, dass viele der betroffenen Kollegen, zu viele wie sie betonend einschiebt, leidenschaftliche Säkularisten, Sozialisten und Agnostiker seien. Im Zuge der von ihr beschriebenen eigenen Hinwendung zur Religiosität mag das ein Problem sein, ein grundsätzlich negatives Potenzial indes lässt sich darin kaum entdecken. Die Betonung ihrer eigenen Abspaltung von "der Linken" erscheint manchmal etwas arg überstrapaziert, aber auch nicht völlig ungerechtfertigt im Lichte ihrer Schilderungen zu Ausgrenzungsprozessen nach Parteinahmen für die zionistische Sache. Abrechnungsbücher aber wirken selten produktiv, und Chesler scheint in ihrer Kritik an den "politischen Korrektniks", den "linken Ideologen", Feministinnen usw. nur illustrieren zu wollen, wie sehr sie mit diesen Ideen, denen sie laut mehrmaligem Beteuern auch anhing, abgeschlossen hat. Richtiggehend komisch muss man die Schelte der political correctness finden, die Chesler maßgeblich für antisemitische Auswüchse an nordamerikanischen Universitäten in die Verantwortung nimmt. Während in Deutschland die politische Korrektheit immer dann von rechts zitiert wird, wenn man mit ihr Antisemitismen als unterdrückte Wahrheiten verkauft, weil man ja mal sagen müsse, was sonst tabuisiert sei, hält Chesler die "politisch korrekte Gedankenpolizei" für ein ideologisches Raster, das automatisch Partei für die Völker der Dritten Welt einfordert, die als edel und unterdrückt rezipiert würden. Dabei seien die von der political correctness Besessenen nicht in der Lage zu sehen, welche bösartigen, anti-emanzipatorischen Züge viele muslimische Gruppen inner- und außerhalb der USA entwickelten. Es geht ihr primär um die von diesen anverwandten antisemitischen Programmatiken und die geringe Kenntnisnahme davon. Allerdings erscheint das bei Betrachtung z. B. des medialen Aufsehens angesichts afroamerikanisch-islamischem Antisemitismus, der nach Cheslers Theorie auch zugunsten der political correctness hätte verschwiegen werden müssen, als noch irriger denn ohnehin.

Interessant ist dagegen die Darstellung des Verhältnisses von Feminismus und Antisemitismus, was unter der Hand ein ganz zentrales Anliegen der (Ex?-)Feministin Chesler zu sein scheint. Hier ist zwar der autobiografische Anteil noch höher und die persönliche Enttäuschung über die politische Trennung von ehemaligen Mitstreiterinnen intensiver spürbar, aber das Schlaglicht auf die sehr einseitige und aggressive Einstellung weiter feministischer Kreise gegenüber dem Staat Israel ist sehr erhellend. Obwohl auch hier moniert werden muss, dass keine angemessene Abstraktion der Ereignisse vorgenommen wird, da die etwas simple Subsummierung der feministischen Bewegung unter linke Zusammenhänge der einzige Erklärungszusammenhang für dieses Meinungsbild bleibt. Dabei stößt man sich zudem an einer recht monolithischen Darstellung feministischer Zirkel, die völlig undifferenziert und wider jede Empirie ungespalten präsentiert werden. Gemessen an der Breite der Behandlung des feministischen Antisemitismus hätte man sich dort weniger persönliche Aufzählungen von Vorfällen gewünscht, sondern eine stärkere Kontextualisierung und Differenziertheit. Zudem wäre es durchaus angesagt gewesen, bei einer parallelen Behandlung von Antisemitismus und Feminismus die Forschung zu Zusammenhängen von Antisemitismus und Antifeminismus, die in Texten von Shulamit Volkov oder Jean Radford gut repräsentiert ist, zu verarbeiten, sowie die historisch einmal als notwendig angesehene Verbindung von Feminismus und Zionismus zu berücksichtigen, wie sie etwa bei Theodor Lessing formuliert ist. Ärherlich wird es, wenn Chesler religiöse Maßstäbe an Gespräche anlegt und daraus Verhaltensregeln ableitet. So beschreibt sie eine Konversation während des Passah-Seder, bei der sie mit einer gegen den verbrecherisch-zionistischen Staat wetternden Kommunistin aneinander gerät. Anstatt aber die Argumentation angemessen zu kritisieren, bringt sie ihren Ärger über die Missachtung des Feiertages zum Ausdruck und nicht weniger kurios ihren Ärger über den mangelnden Respekt der jungen Kommunistin vor ihr als älterer Respektsperson.

Einigkeit und Stärke scheinen für Chesler in diesen von ihr sehr eindringlich geschilderten Zeiten der Gefährdung der Juden in aller Welt kardinale Anliegen zu sein. Resultat dieses Wunsches sind Appelle vor allem an linke Juden, den scharfen Antizionismus zu beenden und auch an die noch partiell geschätzten Feministinnen, mit dem unerträglichen Israelhass abzuschließen.

Der "taz"-Redakteur Philipp Gessler hat ebenfalls die Dringlichkeit und Wichtigkeit des Themas zum Anlass genommen und aus seinen Recherchen und Interviews zum neuen Antisemitismus ein journalistisches Handbuch gemacht. Gessler versucht dabei das Buch methodisch wie eine große Zeitungsreportage zu vermitteln und lässt den Leser teilhaben an seinen Besuchen bei Julius Schoeps, dem antideutschen Ehepaar Schroeder, einem Kaffeetreff mit dem Experten Rensmann oder einer Exkursion nach Frankfurt zu medico international. Unkompliziert und schnell wird der Leser in das gesamte Panorama des zeitgenössischen Antisemitismus eingeführt, wobei der Schwerpunkt bei Gessler auf den deutschen Entwicklungen liegt.

Dass es dabei aber auch nicht wirklich zu wichtigen Erkenntnissen oder sogar eigenen Erklärungsansätzen des Autors kommt, muss man dem Umfang und der Intention eines kleinen Einstiegsbändchens anlasten. Ivo Bozic hat - völlig nachvollziehbar - in der "Jungle World" darauf hingewiesen, dass sich für einen halbwegs in den Debatten zum Thema orientierten Leser keine Erkenntnisgewinne mitnehmen lassen, aber auch eingeräumt, dass Menschen mit dem Glauben, Antisemitismus wäre der exklusive Wahnsinn der deutschen Rechten, durchaus etwas dazulernen könnten. Und genau diese Leute scheint Gessler auch ansprechen zu wollen. Von den abenteuerlichen Fahnenstreitigkeiten in der deutschen Linken über die für "taz"-Leser besonders relevante Debatte über den Antisemitismus bei Attac bis zu der schon erwähnten nonchalanten Einführung einiger wichtiger Namen in der akademischen Diskussion zum Antisemitismus hält Gessler alles parat.

Er strukturiert sein Buch in drei größere thematische Abschnitte. Er möchte den rechten, muslimischen und linken Antisemitismus getrennt untersuchen, vor allem natürlich hinsichtlich der, wie er es nennt, wichtigsten Einfallstore für Antisemitismus, der Israelkritik und dem Antizionismus. Dabei verwendet er die bekannten "drei D" als Kriterien für die Grenze zwischen Antisemitismus und legitimer Kritik an Israel: Dämonisierung, Delegitimierung und doppelte Standards, was ihn angenehm von der in dieser diffizilen Frage undeutlichen Chesler unterscheidet. Den rechtsextremen Antisemitismus sieht Gessler gekennzeichnet durch Geschichtsverfälschungen, speziell den Holocaust, aber auch den 2. Weltkrieg im Allgemeinen betreffend, und durch die Konstruktion eines jüdischen Weltherrschaftstrebens, das versuche, die Deutschen u. a. mittels ständiger Schuld- und Finanzeinforderungen zu knechten. Dass die Versuche zu historischen Lügen und Umdeutungen zugunsten einer Entlastung der deutschen Geschichte im Dienste einer gegenwärtigen Reidentifikationspolitik mit Deutschland stehen, macht diese diskursiven Praxen auch für die bürgerliche Mitte, die hier interessanterweise schlicht unter dem rechtsextremen Antisemitismus subsumiert wird, relevant. Aber nicht nur die Verbindung zu den bürgerlichen Kreisen zeigt Gessler auf, auch die Anschlüsse an globalisierungskritische Bewegungen werden en passant erwähnt. Vernetzungen zwischen rechtsradikalen Kreisen und islamisierten Antisemiten gegen den gemeinsamen Feind Israel, der von beiden Zirkeln mit Holocaustleugnung und Verschwörungstheorien belegt wird, seien zwar ideologisch und auch virtuell zu konstatieren, einer praktischen Kooperation stünde jedoch die im rechtsextremen Milieu immer noch mit dem Antisemitismus konkurrierende Fremdenfeindlichkeit im Wege.

Die Referenzen auf Sayyid Qutb und Amin el-Husseini als den historisch wichtigsten und einflussreichsten Antisemiten im arabischen Raum lässt auch dieses Buch nicht aus, ebenso wenig den sehr wichtigen auf Matthias Küntzel zurückgehenden Hinweis, jene seien erst vom Nationalsozialismus inspiriert und beeinflusst worden und somit das Problem mit migrantischem Antisemitismus in Europa eine Art Re-Import einer europäischen Krankheit. Die hier selbstbewusst vorgetragene These, im islamisierten Antisemitismus handele es sich wie im Christentum auch um eine schon religiös verwurzelte Feindschaft, die bis ins 7 Jhd. zurückzuverfolgen sei und deshalb einen fruchtbaren Boden geboten habe für den im 20. Jhd. hegemonial werdenden politischen Islamismus, vereindeutigt ziemlich kontrovers diskutierte Probleme. Gegen diese Behauptung einer klar antisemitischen Tradition im Koran gibt es nicht wenige Gegenstimmen. Zuletzt haben Marc Cohen oder eben auch Götz Nordbruch und Matthias Küntzel darauf aufmerksam gemacht, dass sich mehr Ambivalenz und Vielfalt in den diversen Aussagen des Koran, aber auch in den realen historischen Beziehungen findet, als Gesslers Standpunkt nahe legt.

Den Abschluss in Gesslers Dreieck des deutschen Antisemitismus macht der linke Antisemitismus, der sogleich als der am stärksten codifizierte, versteckte, eingeführt wird. Besonders hier wird mit der Rhetorik des Verdachts gearbeitet, da offener Antisemitismus zum Glück politischen Selbstmord darstellt. Aber auch mehr oder weniger subtil scheint die Verständigung über antisemitische Argumentationsmuster blendend zu funktionieren. Besonders gut sieht man dies in einer verkürzten, häufig auch personalisierten Kapitalismuskritik, die sich in dem belasteten und während des 20. Jhd. auch nicht schlauer gewordenen Finanzmarktschelte-Stichwort "raffendes Kapital" äußert und in einer sich im Antiimperialimus zu treffen meinenden Haltung von Antizionismus und Antiamerikanismus. Der Versuch, die internen linken Kämpfe in ihrer Zerrissenheit und Verbissenheit durch einige lokale Stoffe zu illustrieren, steigert eindeutig die Kurzweiligkeit und Plastizität des Bandes. In zusammenfassender Analyse, die versucht, das Neuartige am neuen Antisemitismus herauszustreichen, kommt aber auch er nicht zu grundlegend anderen Erkenntnissen als Chesler.

Was aber ein bisschen mehr Reduktion und Konzentration für eine feine Entfaltung von Information bedeuten, zeigt Thomas Haury in seinem Aufsatz zum linken Antisemitismus, der gegenüber Gessler deutlich präziser, aber auch vorrausetzungsreicher den deutschen Diskussionsstand transportieren kann. Während Gessler den Leser noch sanft auf den Gedanken der Existenz eines linken Antisemitismus vorbereiten zu müssen glaubt, legt der gerade zu diesem Komplex schon mit einigen Publikationen hervorgetretene Haury die Latte ein wenig höher. Er beschreibt die Konflikte in der deutschen Linken, die sich im weiten Spektrum zwischen den Außenpositionen, bekleidet von Antiimperialisten, und Antideutschen abspielen, als Kampf um die Identität der radikalen Linken nach 1989. Haury betont, dass diese innerlinken Dispute zum Teil auch eine deutsche Eigenart seien, da sich in anderen Ländern der linke Antizionismus wesentlich ungehemmter und antisemitischer Bahn brechen kann als im für diese Muster sensibilisierten Deutschland. Die angesprochene Sensibilisierung allerdings ist noch kein sehr altes Gut. Bis zum Libanonkrieg 1982 und auch noch bis zum Beginn der Ersten Intifada schien der Linken "radikaler, sich antiimperialistisch legitimierender und antisemitisch grundierter Antizionismus" ohne wirkmächtige interne Gegenstimmen zu sein. Dieser sekundäre Antisemitismus, der der Entschuldung der deutschen Geschichte entgegenkommend auf der Suche nach dem wahren Faschismus im "Täterland" Israel fündig zu werden hoffte, wurde aber spätestens mit dem 1991 um den ersten Golfkrieg entbrennenden Zwist in der Linken heftig angegangen. Haury fächert die Positionen der Konfliktparteien mit viel Sorgfalt und sachter Sympathie für die Antideutschen auf, deren radikalsten bellizistischen Flügel er aber auch nicht zu unterstützen willens ist.

Dieser Aufsatz findet sich im möglicherweise wohl Beitrag zur Debatte um den neuen Antisemitismus, nämlich in dem Sammelband, der im Titel den Neuen Antisemitismus noch mit einem Fragezeichen versieht. Herausgegeben unter anderen vom bekannten israelischen Soziologen Natan Sznaider wird hier beispielhaft präsentiert, wie man in dieser Debatte sehr kontroverse und heterogene Positionen diskutieren kann und sich dabei mit teilweise sehr grundsätzlichen Einwänden gegen die titelgebende These konfrontiert sieht. So ist es spannend zu sehen, wie Judith Butler, die zwar nicht explizite Zielscheibe von Cheslers Kritik, aber doch Teil des angegriffenen Gender Studies/Feminismus-Milieus ist, tatsächlich eine der vehementesten antizionistischen Positionen bezieht. Noch interessanter wird Butlers Beitrag durch die Bezugnahme auf eine Rede des Harvardpräsidenten Lawrence Summers im Jahr 2002, die eben jene Gefahr des intellektuellen bzw. akademischen Antisemitismus an US-amerikanischen Universitäten befürchtet, welche auch Chesler diagnostiziert hatte und die als Israelkritik verpackt ist. Chesler rezipierte Summers Rede dankend als aufrechte Stimme, die sich einer antizionistischen Diskurshoheit entgegenzustellen versucht, während Butler in dieser Rede eine Einschüchterungsstrategie sieht, jede Israelkritik mit dem Vorwurf des Antisemitismus zu unterbinden. Sie lehnt es ab, sich durch solche in ihrem Verständnis unberechtigte Anschuldigungen davon abhalten zu lassen, gegen jüdischen Nationalismus, den Staat Israel in seiner jetzigen Form und den Zionismus zu sprechen. Davon ausgehend, dass es möglich sein muss, Israel als Staat zu adressieren und auch zu meinen, und nicht, wie es mit dem Antisemitismusvorwurf unterstellt wird, "die Juden", fordert sie eine "radikale Umstrukturierung" der wirtschaftlichen und rechtlichen Basis Israels.

Natürlich kann man sich stets bessere menschliche Assoziationsformen vorstellen als den kapitalistischen Staat, das will man radikaldemokratischen Kreisen wie auch Judith Butler gar nicht entgegnen. Doch wie der Wiener Politikwissenschaftler Stefan Grigat in seiner Kritik an der innerisraelischen radikalen Linken, welche ähnliche antizionistische Parolen formuliert, feststellt, ist Israel nun mal kein Staat wie jeder andere auch, den man mit normaler Staats- und Kapitalkritik überziehen kann. Israel ist nach Grigat die "bürgerliche Emanzipationsgewalt von Juden und Jüdinnen, ein bewaffnetes Kollektiv zur Abwehr des antisemitischen Terrors". Nimmt man diese Prämissen an, kann man Aktionen wie Wirtschafts-, Waffen-, und Akademiker-Boykotte, wie sie Butler oder auch Chomsky stets unterstützen, durchaus als antisemitisch einstufen, da man somit der einzigen und historisch notwendig gewordenen Chance zur Verwirklichung sicheren jüdischen Lebens die Existenzgrundlage entzieht. Um aber den Grigat'schen Fehler der zu starken Aussonderung Israels zur Delegitimierung von Kritik zu vermeiden, kann in ähnlichem Sinne besser Michael Walzers in einem Interviewbeitrag geäußerte Replik auf linke Kritik Butler'scher Art angeführt werden, die er motiviert sieht durch eine Negation jüdischer politischer Selbstbehauptung. So liest man von ihm: "Wenn man gegen das Prinzip des Nationalstaats ist und ihn abschaffen will, dann ist aber Israel der falsche Ort, damit anzufangen." Und diese Einwände sind im Prinzip nur auf die radikale Linke bezogen. Gegenüber den meisten übrigen Kritikern, die alles andere als die Abschaffung des Nationalstaats an sich im Sinn haben, kann mit solchen Begründungen nichts gewonnen werden, da sie ja gar keine allgemeine Staatskritik vorhaben und insofern der Verweis auf die besondere Legitimation des Staates Israel ins Leere läuft. Denn diesen Gruppen geht es ausschließlich um Israel und um dessen Aussonderung als "Folter-Staat", "Apartheidssystem", "Militärdiktatur", was in einen Entzug des Existenzrechts und den alleinigen Ausschluss aus der Staatengemeinschaft münden soll.

Das gesamte Buch ist von solch heftigen und konfliktreichen Gegenüberstellungen durchzogen, es operiert mit der Dramaturgie des Ping-Pongs. Dabei streiten sich solch prominente Namen wie Daniel Jonah Goldhagen, Tony Judt, Alain Finkielkraut oder Dan Diner, wobei sich Apologeten und Gegner der These vom neuen Antisemitismus die Waage halten. Einen spannenden und etwas ungewöhnlicheren Beitrag liefert Matthias Küntzel. Er knüpft dabei an die in seinem letzten Buch erarbeiteten Thesen von einer entscheidenden Beeinflussung und Förderung des arabischen Antisemitismus durch Nazi-Deutschland in den 30er/40er Jahren an und illustriert sie an dem Fall des damals von Berlin bzw. Zeesen aus arabisches Programm produzierenden Radiosenders. Küntzel, der mit der Prämisse eines historisch nicht antisemitischen Islam argumentiert und sich für die Behauptung, vor allem Deutschland hätte den Antisemitismus in die arabische Welt getragen, schon einige Rüffel bekannter Islamwissenschaftler wie Alexander Flores eingehandelt hat, demonstriert am Beispiel des Propagandasenders sehr aufschlussreich die Transferierung antisemitischer Weltanschauungen in die arabische Welt. Radio Zeesen gilt Küntzel denn auch als ein Baustein der deutschen Politik, die heute Kontinuität erfährt, wenn von der traditionell großen Sympathie geschwärmt wird, die in der gesamten Region Deutschland entgegengebracht wird.

Auch die Zeitschrift für Mitteleuropa, Kafka, widmete ihr letztes 2004 erschienenes Heft dem neuen Antisemitismus und der Frage, was der denn eigentlich mit der Osterweiterung der EU zu tun hatte. Dass das Gewebe antisemitischer Ressentiments in diesen Umbruchzeiten dort wieder besonders zu wuchern beginnt, wie es z. B. auch Gessler annimmt, und gar ein anti-antisemitischer Konsens im alten Europa durch die neuen östlichen EU-Mitglieder bedroht sein soll, das wollen die nationalen Historiker dieser Veröffentlichung jedoch nicht so einfach abnicken. Dazu muss bemerkt werden, dass die östlichen Staaten bei der Diskussion über ihre antisemitische Vergangenheit und Gegenwart stets im Spannungsfeld stehen zwischen Relativierungen, die jede Verantwortung für Verbrechen am lokalen Judentum an Deutschland delegieren, und kritischen Stimmen, die von einem sehr eigenständig wirkenden Antisemitismus in diesen Staaten ausgehen. Dieses Feld findet man auch in der Veröffentlichung vor, und so wird die Geschichte des slowakischen Antisemitismus schon mal zum "sentimentalen Antisemitismus der moralischen Verzweiflung" verharmlost, in dem vom Hitler'schen Antisemitismus nichts zu finden war, die extrem belastete ungarische Geschichte wird aber dennoch in gleicher Zeitschrift hartnäckig hinterfragt.

Eine noch bessere und überaus kritische Beurteilung des osteuropäischen Antisemitismus findet man in dem aus einer Vorlesungsreihe an der Humboldt-Universität Berlin heraus entstandenen Sammelband "Das ,Bewegliche' Vorurteil". Neben einem Beitrag zum kontemporären Antisemitismus in Russland liefert der Band Aufarbeitungen zu polnischer und rumänischer Geschichte. Die dabei eingenommenen Standpunkte meistern im Falle Polens einen Parforceritt durch alle wichtigen gedächtnispolitischen Debatten der 90er Jahre, und auch für Rumänien wird eine glänzende Dekonstruktion des grassierenden Opfer- und Nationalismusdiskurses geleistet. Die drei ostwärts orientierten Beiträge bilden eine schöne Klammer, die die historisch-kulturellen Gedächtnisse, welche die EU seit 2004 bereichern, exzellent darlegen. So fruchtbar diese Betrachtungen schon allein aus dem Grund sind, dass diese Blickrichtung in den anderen hier zugrunde gelegten Publikationen fehlt, so leidet diese Veröffentlichung an einer zu zerfransten Struktur. Auch wenn die Herausgeberinnen den neuen Antisemitismus in der Einleitung als Initialimpuls für den Vorlesungszyklus und den Band bezeichnen, eine ähnlich gelungene inhaltliche Stringenz und didaktische Effizienz wie von Sznaider et al demonstriert, glückt ihnen nicht.

Obwohl mit Klaus Holz' Paraphrase seiner Theorie vom Antisemitismus als nationaler Abgrenzungs- und Differenzstrategie, Werner Bergmanns Analyse und Periodisierung des europäischen Antisemitismus oder Reinhard Rürups wieder einmal sehr instruktivem Essay zum Zusammenhang von Krise/Moderne und Antisemitismus einige sehr grundlegende Texte versammelt sind, macht sich das Fehlen einer thematischen oder auch theoretischen Konzentration vor allem hinsichtlich des Schlusses, den die Beiträge zum neueren Antisemitismus bilden, bemerkbar. Der etwas blass bleibende Text Pierre-Andre Taguieffs, der indes natürlich trotzdem gut als Einführung in die antisemitische Welle in Frankreich taugt, wäre zwar auch in vielen anderen Büchern etwas untergegangen, die beiden abschließenden Beiträge von Götz Nordbruch und Brian Klug hätten aber ein in produktiver Konnektivität aufgehendes Umfeld verdient. Nordbruch verwirft die immer gern vorgebrachte Behauptung, die Verbreitung der absurdesten auf Juden bezogenen Verschwörungstheorien im islamischen Raum mit dem realen Konflikt gegenüber Israel erklären zu können. Stattdessen macht er die viel näherliegende Erklärung plausibel, das Wirken von Verschwörungen im arabischen Raum artikuliere sich vielmehr "als Scheitern einer ideologischen Verarbeitung der unterschiedlichsten gesellschaftlichen Umbrüche, mit denen sich die arabischen Länder unabhängig vom arabisch-israelischen Konflikt konfrontiert sehen". Klugs Essay hingegen nimmt die argumentative Linie Judith Butlers auf und insistiert auf einem gewaltigen Unterschied zwischen Antisemitismus und der für ihn gänzlich im Palästinakonflikt aufgehenden Kritik an Israel. Er mag nicht einsehen, dass in den grassierenden antizionistischen Sentimenten etwas von der Formel steckt, dass Israel und den Juden so viel Feindschaft entgegengebracht wird, eben weil sie Juden sind. Der Text kann nicht integrieren, dass die Sonderstellung Israels in der Kritik der Weltöffentlichkeit, die dauernde Infragestellung seiner politischen Grundfesten, die sich in ihren Prinzipien nicht wesentlich von anderen nationalstaatlich-demokratisch organisierten Zusammenschlüssen unterscheiden, einen Grund haben könnte, der außerhalb der Realpolitik Israels liegt. Bleibt ihm nur mit Michael Walzer zu antworten: "Ich weiß nicht, ob das Antisemitismus ist, es mag sich auch um eine merkwürdige Form von Philosemitismus handeln - als ob die Juden eine höhere, universelle Moralität repräsentieren würden. In jedem Fall läuft da irgend etwas schrecklich falsch. Und wenn sich das mit islamischem Radikalismus verbindet, kann es in der Tat zu etwas sehr Üblem führen."

Kein Bild

Christina von Braun / Eva Maria Ziege (Hg.): Das "bewegliche" Vorurteil. Aspekte des internationalen Antisemitismus.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2004.
244 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-10: 3826028201

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Phyllis Chesler: Der neue Antisemitismus. Die globale Krise seit dem 11. September.
Übersetzt aus dem Englischen von Stefanie Kramer.
Schwartzkopff Buchwerke, Berlin 2004.
277 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3937738096

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Philipp Gessler: Der neue Antisemitismus. Hinter den Kulissen der Normalität.
Herder Verlag, Freiburg 2004.
158 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-10: 3451054930

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Doron Rabinovici / Ulrich Speck / Natan Sznaider (Hg.): Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
331 Seiten, 12,50 EUR.
ISBN-10: 3518123866

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch