Der Zwang zur Selbstverwirklichung und seine Folgen

Alain Ehrenberg analysiert eine depressive Gesellschaft

Von Gunnar KaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gunnar Kaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Grunde gilt das Wort des Facharztes, das der amerikanische Schriftsteller William Styron im Bericht über die Geschichte seiner Depression vor mehr als fünfzehn Jahren anführt, noch immer: "Wenn wir unseren Kenntnisstand (über die Depression) mit der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus vergleichen, dann ist Amerika nach wie vor nicht entdeckt; wir sitzen noch immer dort unten auf der kleinen Insel in den Bahamas."

Die Depression ist eine Krankheit, über die man umso weniger definitiv zu wissen scheint, je stärker sie sich verbreitet. Und sie verbreitet sich rasch: Schätzungen gehen von derzeit 340 Millionen Fällen weltweit aus. Depressionen treten bei Menschen aller sozialen Schichten, Kulturen und Nationalitäten auf. Etwa zwei Prozent der Kinder unter 12 Jahren und fünf Prozent der Jugendlichen unter 20 Jahren sind betroffen. Allein in Deutschland erkranken ungefähr zwanzig Prozent aller Bundesbürger einmal in ihrem Leben an einer Depression. Zehn bis fünfzehn Prozent aller Depressionspatienten begehen Selbstmord. Die Depression ist so nicht nur zu einer Krankheit Einzelner, sondern auch zu einem Sinnbild für den Zustand ganzer Gesellschaften geworden.

Dem Wort "Depression", geprägt von dem Schweizer Psychiater Adolf Meyer, wohnt nicht der düster lockende Klang inne, der seinen medizinhistorischen Vorläufern - dem Weltschmerz, der Schwermut und der Melancholie - noch zukam. Es ist eine Worthülse, die in ihrer Unbestimmtheit geradezu wieder zu dem Syndrom passt, das sie bezeichnet. Der Depression ist auch die "Wonne" fremd, die der Künstler von einst noch in der Wehmut finden konnte, die Freude an der Melancholie, die adelnde Lust am 'Kopfhängenlassen'. Sie ist nicht mehr Ausweis einer sensiblen, an ihrer Umwelt leidenden Seele, sondern nur noch nüchterne Bezeichnung eines schmerzhaften Krankheitsbildes, dessen einzige und letzte Hoffnung nicht selten im Selbstmord liegt.

In Abgrenzung zur traditionsreichen Melancholie hat der amerikanische Schriftsteller Andrew Solomon die Depression einmal so beschrieben: "Traurigkeit und Melancholie gehören zu den Erfahrungen eines reichen Lebens. Sie folgen auf Verlust, und Verlust ist verbunden mit den Gefühlen von Liebe. Depression ist etwas ganz anderes. Depression heißt, auf eine schmerzhafte Art abgeschnitten zu sein von allen nützlichen Erfahrungen des Menschseins, und das ist keineswegs schön."

Ihre Erscheinungsformen sind ebenso zahlreich wie schwer zusammenzufassen. Antriebslosigkeit, innere Unruhe und Schlafstörungen, fehlende Lebensfreude, Leere und Traurigkeit, vermindertes Selbstwertgefühl, psychomotorische Verlangsamung, Konzentrationsschwäche, Schuldgefühle, Gedanken an Selbstmord - dies sind nur einige der Kennzeichen einer Krankheit, die von dem Soziologen Alain Ehrenberg mit dem Begriff "fatigue d'être soi" näher bestimmt wird. Die Mühsal, man selbst zu sein, ist nach Ehrenberg der point commun der "Modekrankheit" Depression, die in den westlichen Gesellschaften längst die Neurose und die Angst als häufigste Geisteserkrankungen abgelöst habe.

Sie wird verursacht, so die Hauptthese von Ehrenbergs Buch "Das erschöpfte Selbst", von dem seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts herrschenden Diktat der Individualität. Während die Neurose noch zu Beginn des Jahrhunderts als Ausweis einer unter der Forderung nach Anpassung leidenden Psyche diagnostiziert wurde, kann nunmehr die Depression als Niederschlag gesellschaftlicher Veränderungen angesehen werden. "Freud fasste unter dem Begriff Neurose eine ganze Reihe von Dilemmata zusammen, die Menschen in einer Gesellschaft erlebten, die durch strenge Normen und Regeln gekennzeichnet war, durch Konformität zur gängigen Meinung, Verbote, Disziplin, bis hin zu blindem Gehorsam." Die Paradigmen der westlichen Gesellschaften haben sich jedoch mittlerweile dahingehend geändert, dass der Konflikt wegfiel, vor dem sich das Individuum mit seinen je eigenen Bedürfnissen angesichts einer restriktiven Gesellschaft befand. Die Dichotomie erlaubt / verboten hat ihre Wirkung verboten. An ihre Stelle ist die Unterscheidung zwischen möglich / unmöglich getreten. Nicht mehr Unterwerfung unter die Normen ist seither gefragt, sondern die Entwicklung einer "reichen Persönlichkeit", die Arbeit am Selbst. An die Stelle sozialer Repression treten Unverbindlichkeit, ein Zuviel an Sinnangeboten und daher ein Mangel an Orientierung, nicht bloß das Recht, sondern auch die Pflicht zum "pursuit of happiness".

Autonomie, Selbstständigkeit und Verantwortung sind die Schlagworte, die den Menschen der modernen Gesellschaft vor die schwierige und ermüdende Aufgabe stellen, um jeden Preis er selbst zu sein. Das souveräne Individuum bestimmt nun die übliche Lebensweise. Das Ich ist zu einer einzigen Großbaustelle geworden. Diese Ermüdung diagnostiziert Ehrenberg in seinem bereits vor sieben Jahren in Frankreich erschienenen Buch als Negativ der gesellschaftlichen Forderung nach Aktivität. Der Zwang zur Individualität habe eine Einsamkeit der Selbstverantwortung (Beck-Gernsheim) hervorgerufen, die sich mehr und mehr in den benannten Symptomen äußere. Dort, wo die Seele dem Anspruch auf Selbstverwirklichung nicht mehr nachkommen kann, reagiert sie mit einem Rückzug auf ganzer Linie, mit innerer Leere, Antriebsschwäche und Erschöpfung. War die Neurose bei Freud die Krankheit der Schuld (gegenüber den gesellschaftlichen Ge- und Verboten), so ist die Depression nach Ehrenberg eine Krankheit der Verantwortung (gegenüber dem eigenen Ich).

Ehrenberg zeigt in einer detailreichen psychiatriehistorischen Analyse, wie sich das Sprechen über psychische Erkrankung (von Hysterie und Neurasthenie über manisch-depressive Psychose und Schizophrenie bis hin zur Depression) entlang den Linien entwickelt, die von den Entdeckungen der Medizin vorgezeichnet werden. Vor allem der Elektroschock und die Psychopharmakologie haben in Bezug auf die Definition der Depression Revolutionäres geleistet - bis hin zum diagnostischen Umkehrschluss, depressiv sei, was durch Antidepressiva geheilt werde.

Was aber, so lautet Ehrenbergs Frage, bedeutet Heilung im Zusammenhang mit einer möglich gewordenen Symptomreparatur? Ist die Krankheit mehr als die Summe ihrer Symptome? Ist Leiden nützlich? Ist Heilung nicht mehr als persönliches Wohlbefinden, das mit der Verabreichung von Psychopharmaka oder der Elektroschockmethode erzielt werden kann?

In einem früheren Buch, "L'individu incertain", hatte der Autor die Depressiven, die ihre Krankheit mit ausschließlich pharmazeutischen Mitteln behandeln ließen, noch plakativ als "Pillenschlucker" bezeichnet und sie in die Nähe von Drogensüchtigen gerückt, hatte die Hochpreisung von Antidepressiva als Folgestufe des Bodybuildungkults gedeutet ("psycho building"). Solcherart Generalisierungen sind dem Buch "Das erschöpfte Selbst" weitgehend fremd. Gleichwohl ist Ehrenbergs Ablehnung einer Verabsolutierung rein biologischer "Heilmethoden" auch aus der nüchternen, sich zuweilen im Detail verlierenden Sprache des neuen Werks nicht zu überhören.

Heilung bedeutet, so Ehrenbergs abschließende Behauptung, dass ein Individuum an seinen Erfahrungen wächst und lernt, seine Konflikte auszuhalten und als konstituierenden Teil der Persönlichkeit zu akzeptieren. Hierin liegen zugleich die wichtigen politischen Implikationen der Thesen Ehrenbergs. Die demokratische Gesellschaft beruhe auf dem Konstrukt eines politischen Subjekts, das sich in Konflikten selbst gebildet hat und somit in der Lage ist, von seinen Befindlichkeiten abzusehen und an seiner Umwelt zu arbeiten. Fällt dieses Subjekt aus - die steigende Nachfrage nach Psychopharmaka und die relative Abdankung der Psychotherapie lassen solches befürchten -, so bewegt sich unsere Gesellschaft auf einen gefährlich instabilen Zustand zu.

Titelbild

Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
305 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3593375931

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