Auf der Suche nach dem O-Ton

Dorothee Meyer-Kahrwegs "Chronik des Jahrhunderts"

Von Helmut SturmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helmut Sturm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Etwa 18 Stunden, also gut zwei Arbeitstage braucht es, um sich durch die 15 CDs der "Chronik des 20. Jahrhunderts" zu hören. Ob bei Bahnfahrten, im Auto, beim Spazierengehen oder am Schreibtisch - die von der Journalistin und HR-Redakteurin Dorothee Meyer-Kahrweg edierte Kollektion von Tondokumenten lässt nie Langeweile aufkommen, im Gegenteil: man wird oftmals überrascht und noch öfter nachdenklich gemacht.

Zwischen Enrico Carusos "Ach wie so trügerisch sind Frauenherzen" (Ausschnitt aus einer Aufnahme aus dem Jahr 1908) und der Verabschiedung Dagmar Berghoffs als Chef-Sprecherin der Tagesschau bei ihren Zuschauern vom 31. Dezember 1999 präsentieren sich entlang der Zeitachse des Jahrhunderts Tondokumente vor allem aus dem Deutschen Rundfunkarchiv, den ARD-Anstalten sowie Ausschnitte aus Filmen, Kabarettaufnahmen und Werbesendungen. Mit Hilfe der den Kassetten beigelegten Booklets, die die Beiträge auflisten, aber leider nicht die von Brigitta Ascheuer und Peter Heusch unaufdringlich gesprochenen Verbindungstexte dokumentieren, stellt man dabei rasch fest, dass der vermeintliche O-Ton vor allem in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts aus zum Teil Jahre später im Studio aufgenommenen Aufnahmen kommt. Zeitversetzt sprechen Scheidemann, Kaiser Wilhelm II., Hindenburg u. a. Auf Chronologie ist eben nicht immer Verlass, auch an Uhren lässt sich drehen.

Die CDs belegen anschaulich, dass nationale Mythen und kollektive Symbole auch in modernen Gesellschaften nicht einfach vergessen werden. Dorothee Meyer-Kahrweg ruft die Zeppeline, den Hauptmann von Köpenick genau so in Erinnerung wie Kennedys "Ich bin ein Berliner" oder die dreimalige Erringung des Fußballweltmeistertitels durch Deutschland. Interessant wäre es der Frage nachzugehen, wie das Medium der Hör-CD teilweise andere Erinnerungsinhalte nahe legt als etwa eine Buch-Chronik. In einem Buch würde nach dem Hinweis, dass Franz-Josef Strauß nach der Spiegel-Affäre wiederkommen werde, kaum ein Zitat aus Caterina Valentes Lied "Sag mir quando, sag mir wann" gebracht. Das Beispiel zeigt, dass auf einer CD das Mischen verschiedener Bereiche, auch das Wechseln zwischen verschiedenen Subkulturen, leichter fällt. Wertung und Kommentar geschehen durch Auswahl und Schnitt. Meyer-Kahrweg bevorzugt in ihrer Selektion dabei oft Aufnahmen, denen auch ein gewisser Unterhaltungswert zukommt: Kabarett, Schlager, Hörspiele, Theatertexte. Beispiele für Reflexion sind selten, und die Aufnahme von Marcel Reich-Ranickis Verriss von Günter Grass' "Ein weites Feld" im August 1995 im "Spiegel" und im "Literarischen Quartett" zeigt, dass auch hier Entertainment vor Analyse und Nachdenklichkeit steht.

Was die Datenträger überzeugend leisten, ist die Information über erfahrungsgeschichtliche Fragestellungen. Was hat der Krieg für die Betroffenen bedeutet? Wie war die Stimmung nach dem Bau der Mauer? Was fasziniert die Deutschen am Auto? Diese und ähnliche Fragen werden anschaulich beantwortet. Dabei wird deutlich, dass es keine kollektive Erinnerung gibt, nur überindividuelle Bedingungen und Voraussetzungen der jeweils eigenen Erfahrungen. Der Konflikt zwischen einem Teil der Jugend und dem Staat in den 60er Jahren illustriert treffend, wie soziale, religiöse und politische Bindungen individuelle Erfahrungen und letztlich auch Erinnerungen prägen.

Apropos Religion. Wir hören zwar, wie 1994 Erzbischof Johannes Dyba das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das eine Verschärfung des Paragrafen 218 verlangte, begrüßte, finden aber auf den beiden sonst höchst informativen CDs über die 60er Jahre nichts von der auch für deutsche Katholiken einschneidenden Veränderungen durch das 2. Vatikanische Konzil. Es bedeutet nicht viel, wie die heutigen Hörerinnen und Hörer längst wissen, dass Objektivität in der Historie, auch der gehörten, die Gattung Chronik zwar vorgibt, aber eine Illusion bleibt. Geschichte oder eine Chronik kann nicht einfach eine "Vergangenheit an sich" abbilden, sondern bleibt immer einer Perspektive, z. B. einer protestantischen, aufgeklärten oder feministischen verbunden.

Stark ist die Kollektion übrigens bei der Darstellung des Frauenbildes des vergangenen Jahrhunderts. Mit Witz und durch kluge Auswahl wird facettenreich gezeigt, wie sich die Geschlechteridentität in hundert Jahren verändert hat.

Manche Rezensenten des Werkes haben versucht, aus der Kollektion etwas über das deutsche Wesen zu erfahren. Ein Versuch, der von einem hypostasierten Handlungsträger ausgeht, der alle individuellen Eigenheiten und Möglichkeiten verschluckt. Es ist Meyer-Kahrwegs Verdienst, dass sich die "Chronik des 20. Jahrhunderts" solcher Interpretation entzieht. Vielmehr machen die 18 Stunden Hörerlebnis verständlich, dass es nicht einen Handlungsträger (bzw. eine Handlungsträgerin) gibt, sondern eine unglaubliche Vielzahl von Menschen vor Chronos aufmarschiert. Auch dafür hat sie verdient, dass ihr Werk für den Deutschen Hörbuchpreis 2005 in der Sparte "Beste Information" nominiert wurde.

Titelbild

Dorothee Meyer-Kahrweg: Chronik des Jahrhunderts 1900-2000. 15 CDs.
Der Hörverlag, München 2004.
1.100 Minuten, 69,95 EUR.
ISBN-10: 3899404580

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