Wer ist hier verrückt?

Ein Ausstellungskatalog über die Auseinandersetzung expressionistischer Künstler mit dem Wahnsinn

Von Rainer ZuchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Zuch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der deutsche Expressionismus zählt zu den wichtigsten Sammlungsgebieten des Schleswig-Holsteinischen Landesmuseums in Schloss Gottorf. Die Ausstellung "Expressionismus und Wahnsinn", die vom 14.9. bis 14.12.2003 in dem barocken Schlossmuseum stattfand, reiht sich hier nahtlos ein. Idee und Durchführung sind Thomas Röske zu verdanken, der sowohl für den Expressionismus als auch auf dem Gebiet der Kunst psychiatrischer Patienten ein ausgewiesener Experte ist.

Das Thema ist nicht nur spannend, sondern für das Verständnis des Expressionismus von einiger Bedeutung. Unter den Expressionisten gab es außerordentlich viele Künstler, die sich intensiv mit dem Wahnsinn beschäftigten. In Ausstellung und Katalog sind Ernst Ludwig Kirchner, Emil Nolde, Erich Heckel, Edvard Munch, Oskar Kokoschka, Christian Schad, Max Beckmann und Alfred Kubin, aber auch weniger bekannte Namen wie Walter Gramatté, Elfriede Lohse-Wächter und Heinrich Ehmsen vertreten.

Weil sich der beleuchtete Zeitraum von 1900 bis 1940, also über 40 Jahre erstreckt, spiegeln sich im Interesse der Künstler an der Figur des "Irren" und dem Phänomen des Wahnsinns nicht nur wechselnde gesellschaftliche und politische Einstellungen, sondern auch ein wichtiges Stück Psychiatriegeschichte.

In zwei Essays werden diese Zusammenhänge trotz der in Katalogtexten meist gebotenen Kürze fundiert und gut lesbar ausgeleuchtet. Beide machen in prägnanter Weise deutlich, wie groß das Spektrum der zu berücksichtigenden Faktoren ist. In seinem einleitenden Essay "Expressionismus und Psychiatrie" gibt Thomas Röske eine knappe Übersicht, die in erster Linie von der Psychiatriegeschichte ausgeht. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ergab sich in der klinischen Psychologie und Psychiatrie und durch die Erkenntnisse der Psychoanalyse ein neues Bild des "Geisteskranken". Die Neuorientierung der Psychiatrie war auch durch ein enormes Anwachsen der Patientenzahlen notwendig geworden, da immer öfter ein in der durchrationalisierten kapitalistischen Industriegesellschaft als abnorm und störend beurteiltes Verhalten beobachtet wurde. Ein weiterer Einschnitt war das massenhafte Auftreten von Kriegspsychosen im Ersten Weltkrieg; bekanntlich gab der Krieg der Entwicklung der Psychiatrie einen neuen Aufschwung, der die politische Bedeutung des Umgangs mit dem Wahnsinn besonders augenfällig machte. Viele Psychiater sahen ihre Patienten sozialdarwinistisch als lebensuntüchtige Schwächlinge und wendeten zum Teil brutale Therapiemethoden an. Ausgerechnet in der Weimarer Republik spitzte sich die Lage zu, griffen die wirtschaftlich, politisch und zunehmend "volkshygienisch" motivierten Ausgrenzungsmechanismen gegenüber "Wahnsinnigen" immer härter, sodass die Nationalsozialisten vielerorts lediglich bereits vorhandene Initiativen weiterführten, bis es 1940/41 zu den euphemistisch als "Euthanasie" bezeichneten Massenmorden an psychiatrischen Patienten kam.

Auch die Künstler sollten diese Einstellung lange vor den Verheerungen des Nationalsozialismus zu spüren bekommen, denn bereits am Ende des 19. Jahrhunderts gab es die ersten Versuche, Künstler, die nicht nach einer vorgeblichen realistisch-naturalistischen Norm arbeiteten, als "abnorm" und "entartet" zu denunzieren, wie etwa durch Max Nordau und Paul Schultze-Naumburg geschehen.

Susanne Augat stellt in ihrem Essay "Das Bild des Irren im Expressionismus" die Perspektive der Künstler in den Mittelpunkt. Ausgehend von Wahnsinnigen-Darstellungen seit dem 17. Jahrhundert entfaltet sie die sich zum Ende des 19. Jahrhunderts wandelnde Einstellung der Künstler zu den "Irren". Augat führt dafür eine ganze Reihe von Gründen an, die sie anschließend an einigen Künstlern biografisch ausführt.

Mehrere expressionistische Künstler waren selbst psychiatrieerfahren, Kirchner, Munch und Lohse-Wächter verbrachten längere Zeit in Sanatorien oder psychiatrischen Anstalten. Christian Schad oder Heinrich Ehmsen pflegten aus künstlerischem und psychologischem Interesse den Kontakt zu Psychiatrien, während progressive Psychiater und Anstaltsdirektoren sich von den Künstlern eine positive Außenwirkung und den Abbau von Vorurteilen erhofften.

Der Erste Weltkrieg konfrontierte viele Künstler, seien sie Freiwillige oder Gepresste, mit dem Grauen der Schlachtfelder, woraufhin sie in ihren Bildern eigene Ängste wie auch ihre Erfahrungen mit den Kriegspsychosen anderer verarbeiteten.

Der "Irre" diente den Künstlern als Identifikationsfigur mit wechselnden Facetten. Im Zuge der lebensreformerischen Bewegungen und der neuesten Entwicklungen in der Psychologie sahen sie ihn im Einklang mit Literaten, Wissenschaftlern und Philosophen als einen besonders befähigten Menschen an, der über einen noch nicht durch die Zwänge der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft verstellten direkten Zugang zu einer universalen Schöpferkraft verfügte und zu unverfälschtem Selbstausdruck gelangen könnte. Der "Wahnsinnige" wurde mit dem utopischen und spirituellen Potenzial der Aussicht auf eine bessere und freiere Welt aufgeladen. Leider gehen weder Augat noch die anderen Autoren näher darauf ein, dass dies mit dem zeitgenössischen Interesse an Kindern und Angehörigen "primitiver" Völker zusammenläuft; die utopische Auffassung, bei allen diesen Gruppen ließe sich eine Alternative zur technischen Zivilisation finden, gehörte am Anfang des 20. Jahrhunderts geradezu zur intellektuellen Standardausrüstung. Dieser Rezeptionszusammenhang ist für das Verständnis des Interesses an "Irrenkunst" durchaus wichtig.

Mit dem Ersten Weltkrieg und den Erfahrungen in der Weimarer Republik änderte sich das Bild. Die gesellschaftliche Produktion von Wahnsinn wurde einer pessimistischen Neueinschätzung unterworfen: nicht verarbeitete Kriegspsychosen, Not und Unterdrückung als Ursache von Geisteskrankheiten und nicht zuletzt das Scheitern utopischer Hoffnungen auf eine humanere Gesellschaft nach dem Kriege ließen den Geisteskranken zu einer Identifikationsfigur für verlorene Hoffnungen und gesellschaftliche Isolation werden. Die Gesellschaft selbst war wahnsinnig, und der Künstler und Dichter, der sich als ihr Seismograf verstand, ein einsamer Rufer in der Wüste.

Diese Ansätze werden in den folgenden Texten, die sich einzelnen Künstlern widmen, vertieft und erweitert. Ihre Aufteilung in zwei Gruppen - "Expressionismus im Werk Wahnsinniger" und "Expressionisten entdecken 'Irrenkunst'" - macht deutlich, dass die künstlerischen Anregungen keinesfalls als Einbahnstraße verliefen, sondern ein Austausch stattfand: Der Rezeption von "Irrenkunst" standen eine ganze Reihe von künstlerisch tätigen Psychiatriepatienten gegenüber, unter denen sich sogar ausgebildete Künstler befanden, die sehr wohl von aktuellen künstlerischen Strömungen außerhalb der Anstaltsmauern wussten. Als Beispiele dienen Else Blankenhorn, Franz Karl Bühler, Johann Faulhaber, Paul Goesch und Ernst Josephson. Damit treten die Ausstellungsmacher und Autoren dem immer noch anzutreffenden Mythologem von der "ursprünglichen Schöpferkraft des Wahnsinns" entgegen.

Diese Idee ist maßgeblich durch Hans Prinzhorn verbreitet worden, dessen bahnbrechendes Buch "Bildnerei der Geisteskranken" in Künstler- und Literatenkreisen einen enormen Widerhall erfuhr. Sein Einfluss auf die Auseinandersetzung von Künstlern mit dem Wahnsinn kann gar nicht hoch genug angesetzt werden und verdient schon deshalb eine genaue und kritische Analyse. Röske und Brand-Claussen liefern hierfür mehrere Ansätze.

Die Artikel zu den einzelnen Künstlern sind zumeist knapp und solide gearbeitet. Drei verdienen es, hervorgehoben zu werden. Sabine Mechler schreibt einfühlsam über den psychiatrisierten Maler und Architekten Paul Goesch, droht aber gelegentlich in die Falle der Vorstellung vom "Zauberreich des verrückten Künstlers" zu tappen. Bettina Brand-Claussen schlüsselt Alfred Kubins Auseinandersetzung mit der "Kunst der Irren" und seinen Kontakt zu Prinzhorn biografisch auf, ohne sich von dessen zahlreichen Selbst- und Fremdmythisierungen täuschen zu lassen; ihre Bildanalysen können aber nicht in jedem Fall überzeugen. Thomas Röske wiederum beschäftigt sich mit Kirchners Interesse an der Kunst der psychiatrisierten Künstlerin Else Blankenhorn, die sich von Faszination zur Ablehnung wandelte, was er überzeugend biografisch begründet.

In Bild und Text unternimmt der Katalog ein noch immer gefährliches, aber notwendiges Unterfangen: Er stellt die Kunst von Psychiatrieinsassen den Werken anerkannter Künstler gegenüber. Weil dies von den Nationalsozialisten im Ausstellungskatalog "Entartete Kunst" 1938 in diffamierender Weise vorgemacht wurde, haben bislang nur wenige Autoren und Ausstellungshäuser ein solches Unternehmen gewagt. Gefährlich, aufschlussreich und notwendig ist es deshalb, weil beim Betrachten der Bilder die Grenze zwischen "Künstler" und "Patient" tatsächlich verschwindet - genau so, wie sich die Grenze zwischen Wahnsinn und Normalität aufgelöst hat.

Alle diese Erkenntnisse sind zwar im Prinzip nicht neu, aber immer noch zu wenig bekannt. Der Katalog liefert einen gehaltvollen Beitrag zur Diskussion des Verhältnisses von bildender Kunst und Wahnsinn, eine gut lesbare Zusammenfassung des gegenwärtigen Kenntnisstandes und ist - wie es sich für einen anständigen Katalog gehört - ein schönes Bildkompendium. Über die Entscheidung, lieber mehr Abbildungen aufzunehmen und sie dafür kleiner zu machen, kann man zwar streiten, dennoch ist die Qualität der Abbildungen durchweg beachtlich.

Titelbild

Herwig Guratzsch (Hg.): Expressionismus und Wahnsinn.
Prestel Verlag, München 2003.
192 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-10: 3791330241

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