Erhellende Rückblicke

Positionen, Entwicklungen und Probleme der Antisemitismusforschung

Von Andrea GeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andrea Geier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Antisemitismus-Forschung sollte sich stärker interdisziplinär orientieren. Diese Botschaft findet sich in vielen Varianten in der jüngeren Forschungsliteratur. Auch Werner Bergmann und Mona Körte, die Herausgeber des 2004 erschienenen Sammelbandes "Antisemitismusforschung in den Wissenschaften", plädieren für eine interdisziplinäre Ausrichtung der Antisemitismus-Forschung, in der die Einzelwissenschaften ihre jeweilige "Eigenart [...] im Interesse komplexer Erklärungen gezielt einsetzen". Dass das Ziel keine allgemeine Theorie des Antisemitismus sein könne, darf dabei als common sense gelten. Ein solcher Versuch wäre auf Grund der Komplexität des Phänomens und seiner vielfältigen Erscheinungsweisen notwendig zum Scheitern verurteilt. Die beiden Herausgeber betonen daher, dass im Vordergrund interdisziplinären Arbeitens der Transfer von Methoden steht und, so wäre zu ergänzen, zunächst einmal die Bereitschaft, sich nicht nur auf die Erkenntnisse, sondern vor allem auch auf die Fragestellungen und Forschungsperspektiven anderer Disziplinen einzulassen. Vor allem Willen zur Interdisziplinarität steht aber die Kenntnis der anderen Disziplinen, und nicht nur Neueinsteiger in diesem Gebiet klagen, dass es angesichts einer Fülle an Publikationen aus den verschiedenen Disziplinen sehr schwer sei, die Forschungslandschaft zu überblicken. Umso dankbarer ist man für sorgfältige und kenntnisreiche Forschungsberichte. Ein wissenschaftsgeschichtlicher Blick ist dabei unverzichtbar, da sich Positionen aus anderen Disziplinen nur verstehen und einschätzen lassen, wenn man sie in die jeweiligen Forschungstraditionen dieses Faches einordnen kann.

Forschungsgeschichte, Problemfelder, Perspektiven

Der Sammelband "Antisemitismusforschung in den Wissenschaften" versteht sich ganz in diesem Sinne als ein "erster Versuch der 'Historisierung' der Antisemitismusforschung". Die Streuung der Disziplinen - Theologie, Geschichtswissenschaft und Sozialwissenschaften, Psychoanalyse, Medizin- und Rechtsgeschichte, Kunst-, Theater- und Islamwissenschaft, Volkskunde, Germanistik und Sprachwissenschaft - verspricht einen breiten Überblick. Den Herausgebern lag offensichtlich nicht nur an einem disziplinären Schaulaufen, sondern an einer Pluralität der Perspektiven und Standpunkte. Dies spiegelt sich auch darin, dass den einzelnen Autoren freie Hand darin gelassen wurde, wie sie den Beitrag ihres Faches zur Antisemitismusforschung vorstellen und dabei auch danach fragen, "in welchem Umfang das Fach durch die Zäsur des Holocaust zur Selbstreflexion auf seine Grundlagen [...] gezwungen wurde".

Die Mehrzahl der Autoren bietet Forschungsskizzen mit eigenen Schwerpunktsetzungen, benennt oder referiert kurz einschlägige Arbeiten und erörtert Veränderungen in Themenschwerpunkten und Methoden innerhalb der jeweiligen Disziplin(en). Dabei können sich Einzelne auf einen noch überschaubaren Forschungsstand konzentrieren, so etwa Thomas Henne und Carsten Kretschmann für die Rechtsgeschichte, Michaela Haibl für die Kunstgeschichte, Hans-Peter Bayerdörfer für die Theaterwissenschaft, Klaus Höldl für die Medizingeschichte oder Götz Nordbruch für die Islam- und Nahost-bezogene Sozialforschung. Andere müssen grobere Schneisen schlagen. Dies betrifft in erster Linie die Beiträge zur Geschichtswissenschaft (Reinhard Rürup), zur Sozialwissenschaft (Werner Bergmann) und zur Mittelalterforschung (Johannes Heil), dem 'interdisziplinärsten' Beitrag. Bei einigen Aufsätzen nimmt erwartungsgemäß die Reflexion über die Geschichte des eigenen Faches breiten Raum ein: Christoph Daxelmüller arbeitet die enge Verbindung zwischen Volkskunde und Antisemitismus aus, deren Anfänge in der Volkstumsideologie des 19. Jahrhunderts liegen, weist aber auch auf Nebenlinien wie die Gründung einer Gesellschaft für jüdische Volkskunde hin. Auch Mona Körte widmet einen Teil ihrer Darstellung dem Rückblick auf die Spuren des Antisemitismus in der Gründungsgeschichte der Germanistik. Allein im Falle der Theologie führt diese Schwerpunktsetzung dazu, dass der Forschungsrückblick entschieden zu kurz kommt: Ekkehard W. Stegemann und Rainer Kampling konzentrieren sich in ihren Aufsätzen zur Judenfeindschaft in der Theologie und zur theologischen Antisemitismusforschung ausschließlich darauf aufzuzeigen, wie eng die christliche Identitätsbildung mit Elementen des Antisemitismus verwoben ist.

Die Beiträge sind teils kritisch gegenüber der eigenen Fachgeschichte, teils hoffnungsvoll. So unterzieht etwa Werner Bergmann die Sozialwissenschaft einer kritischen Revision, da sie zwar mit der Kritischen Theorie viele, bis heute nachwirkende Impulse gegeben habe, es aber beispielsweise der empirischen Meinungs- und Einstellungsforschung an theoretischer Unterfütterung fehle. Dagegen konstatiert Michaela Haibl für die Kunstgeschichte, dass die Erforschung des Antisemitismus nunmehr seit etwa 15 Jahren verstärkt betrieben wird, und sie weist darauf hin, dass bisherige Hemmnisse für diese Forschung auch im Kunstverständnis des Faches selbst zu suchen waren. Dietz Bering schließlich kann in seinem profunden Beitrag über die "Etappen der Antisemitismusforschung in der Sprachwissenschaft" davon berichten, dass sich mittlerweile aus der Verbindung von Argumentationsanalyse und Diskurstheorie ein "erfolgversprechendes Forschungsparadigma etabliert" habe.

Mehrere Beiträge benennen Desiderate der Forschung. Einen vorwiegend problemorientierten Zugriff verfolgt etwa Mona Körte, die nach einer kurzen kritischen Reflexion auf die Anfänge der Fachgeschichte das Problem einer 'deutsch-jüdischen Literatur(geschichte)' referiert, um die "Erzeugungsregeln der Grenzziehung" aufzuzeigen. Sie plädiert für eine grundsätzliche Neuorientierung der Forschung: Weg von den "Judenbildern" und "Judenfiguren", hin zur Untersuchung eines "literarischen Antisemitismus". Leider belässt es die Verfasserin bei Andeutungen, statt sich an diesem Punkt mit einzelnen Arbeiten zu beschäftigen; so fehlt etwa die kontrovers und breit diskutierte Studie "Die imaginäre Nation" von Yahya Elsaghe (2000) ganz, obwohl sie mit der Konzentration auf den Zusammenhang von Selbstbild und Fremdbild einen wichtigen Ansatz zu dem von Körte geforderten Blickwechsel liefern könnte. Klaus Höldl wiederum verfolgt in seinem Blick auf den Zusammenhang von Medizingeschichte und Antisemitismus nur eine Frage: Welche Aussagen - hier: in medizinischen Darstellungen - lassen sich eigentlich als judenfeindlich bezeichnen? Höldl entwickelt seine Antworten kenntnisreich und anschaulich am Material. Dabei zeigt er unter anderem auf, dass nicht bestimmte Diagnosen - z. B. die einer besonderen Krankheitsneigung von Juden -, sondern die Begründungen, etwa die Behauptung einer körperlichen Verschiedenheit vor dem Hintergrund anthropologischer Vorstellungen, entscheidend sind.

Quer durch die Beiträge lassen sich viele gleich lautende, aber auch unterschiedlichste Plädoyers für den Umgang mit Forschungsproblemen finden; diese Aspekte behandelt neben anderen auch der prominente Antisemitismusforscher Peter G. J. Pulzer in seinem Forschungsbericht zur Neuausgabe seines Standardwerkes "Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich zwischen 1867 bis 1914" im Kontext seines Forschungsthemas. Sie lassen sich unter die Überschriften "Kontinuität und Differenz", "Antisemitismusforschung untersucht Antisemiten" und "Kontextualisierung und Vergleich" stellen.

Mehrfach wird die Frage angeschnitten, wie man sinnvoll Kontinuitäten und Brüche im Antisemitismus einschätzen könne. Als Konsens kann etwa gelten, dass Antijudaismus und moderner Antisemitismus voneinander abzugrenzen sind. Reinhard Rürup erkennt allerdings in der neuen Forschung eine höhere Gewichtung des Weiterlebens 'alter' Elemente im modernen Antisemitismus, und im vorliegenden Sammelband plädieren mehrere Autoren dafür, die Grenzziehung zwischen Antijudaismus und modernem Antisemitismus nicht zu überstrapazieren, sondern stärker auf Umformungen der Tradition zu achten. Auch Pulzer beschäftigt sich mit der Frage nach Kontinuität und Differenz. Er sieht einen zentralen Einschnitt mit dem Beginn des modernen Antisemitismus um 1870, den er am Organisationsgrad und der modernen Massenagitation festmacht, sowie eine "Verschärfung" im Ersten Weltkrieg und die Wandlung zum Genozid nach 1939. In seiner Abgrenzung von Ideen- und politischer Strukturgeschichte wird dabei noch einmal augenfällig, zu welch großen Unterschieden in der Bewertung von Kontinuitäten man gelangt, wenn man die semantischen Traditionen oder aber die politischen Bewegungen fokussiert. Insgesamt legt Pulzer mehr Wert auf die Bruchlinien als auf die Kontinuitäten. Da es innerhalb der langen Tradition des Antisemitismus unterschiedlichste Erscheinungsformen gegeben habe, sei der Blick auf Kontinuitäten nicht zielführend, stattdessen müsse es um Differenzierung und Periodisierung gehen.

Es gibt "weniger eine 'Judenfrage' als eine 'Antisemitenfrage'" - mit diesem Slogan beschreibt Peter G. J. Pulzer zu Beginn seines Forschungsrückblickes eine zentrale Programmatik der Antisemitismusforschung. Auch unter den Beiträgern des Sammelbandes besteht Konsens darüber, dass der Antisemitismus projektiven Charakter hat und nicht aus der Lebensrealität und dem konkreten Verhalten von Juden abzuleiten ist. Auf dieser Basis dürften jedoch, auch das klingt in einigen Beiträgen an, die realen Verhältnisse keineswegs ausgeblendet werden. Allerdings sind damit im Einzelnen sehr verschiedenartige Aspekte gemeint: Reinhard Rürup plädiert dafür, vermehrt die "Widerstände und Gegenkräfte", die Einsprüche gegen Antisemitismus von nicht-jüdischer wie jüdischer Seite zu betrachten, Johannes Heil fordert, den Antisemitismus als Teil der jüdischen Geschichte stärker in den Blick zu nehmen und die Reaktionsweisen auf antisemitische Hetze und Verfolgung zu betrachten, ganz ähnlich äußern sich Henne und Kretschmann für ihren Bereich der Rechtsgeschichte. Auch Werner Bergmann gibt in seinem Beitrag über Antisemitismusforschung in den Sozialwissenschaften zu bedenken, dass sich diese mit Interaktionen beschäftige, "seien diese Beziehungen real oder nur virtuell". Dietz Bering stellt hierzu in seinem Beitrag heraus, dass gerade die Akkulturation der Juden im Rahmen eines Nationenverständnisses, das sich über Kultur und Sprache definiere, antisemitische Einstellungen befördert habe.

Gewarnt wird vor zu einfachen Teleologien. Der Antisemitismus ist nicht als eine sich immer weiter intensivierende Geschichte der Diskriminierung anzusehen, die schließlich in den Vernichtungsantisemitismus münde. Weder ist die Geschichte des deutschen Antisemitismus insgesamt eine Vorgeschichte der Shoah, noch gibt es auch innerhalb einer Epoche 'den' Antisemitismus. Besondere Fortschritte, das betont auch Pulzer, hat die Forschung in den letzten Jahren im Hinblick auf regionale Unterschiede und die schichtspezifische Differenzen gemacht, die sehr unterschiedliche Motive für die Akzeptanz antisemitischer Standpunkte, aber auch für Misserfolge antisemitischer Parteien im Kaiserreich aufzeigen konnten. Bei Rürup wie bei Heil verbindet sich dieses Plädoyer für eine historische Differenzierung mit der Aufforderung, die Geschichte des Antisemitismus nicht isoliert zu betrachten, sondern im Vergleich mit anderen Rassismen und Mechanismen der Diskriminierung und Ausgrenzung; Bergmann plädiert vor allem dafür, die Rolle der sozialen Bewegungen für die Verbreitung antisemitischer Einstellungen stärker zu betonen. In diese Kerbe schlägt auch Pulzer, wenn er herausstreicht, dass der Antisemitismus nicht autonom zu behandeln sei, sondern etwa im weiteren Kontext der Geschichte von Protestbewegungen.

Der Sammelband "Antisemitismusforschung in den Wissenschaften" bietet nicht nur erhellende Rückblicke auf unterschiedlichste Forschungsfelder, sondern weist die meisten Disziplinen als produktiv aus. Eine Ausnahme stellt die psychoanalytische Antisemitismusforschung dar, auf die ein knapper Seitenblick geworfen sei.

Die 'interaktive Komponente' - Psychoanalyse und Geschlechterforschung

Beide Beiträge des Sammelbandes eignen sich kaum dazu, Pulzers Ansicht zu widerlegen, dass die Psychoanalyse in der Antisemitismusforschung kaum mehr eine Rolle spiele. Im Falle von Franz Maciejewskis Relektüre der Freud'schen Schrift "Der Mann Moses und die monotheistische Religion" liegt dies daran, dass er einen korrespondenztheoretischen oder, wie er selbst es nennt, einen "essentialistischen" Ansatz vertritt. Er leitet die 'Geburt' des Antisemitismus unmittelbar aus der jüdischen Kulturleistung, der Einführung des Monotheismus und der Beschneidung, ab. Statt diese Erklärung für die Entstehung des Antisemitismus für eine grundlegende Diskussion zu nutzen, findet Maciejewski eine wenig überzeugende Ausweichbewegung: "Das Geheimnis des Jüdischseins als der besonderen judäischen Lösung des allgemeinen Verhältnisses von Triebstruktur und Kulturleistung hat im Unbewussten des Antisemiten seine genaue Stelle". Dass hier nicht vom Bewusstsein, sondern vom Unbewussten die Rede ist und die antisemitischen Stereotype als "Projektionen" bezeichnet werden, hinterfragt die grundsätzlich zugestandene Entsprechung zwischen antisemitischem Vorurteil und dem 'Wesen' des Judentums nicht. Der Beitrag bestätigt durchaus, dass sich eine Beschäftigung mit Freud als Kulturtheoretiker lohnt, die Einladung zu einer fruchtbaren Kontroverse bleibt er leider schuldig.

Auch Hermann Beland gelingt es nicht, den Eindruck zu widerlegen, dass psychoanalytische Antisemitismus-Modelle kaum mit der (kultur-)historischen Antisemitismusforschung und deren Fragen nach den unterschiedlichen Erscheinungsformen des Antisemitismus in der Geschichte vermittelbar sind. Der Autor betont, dass gerade aufgrund der methodologischen Probleme eine interdisziplinäre Perspektive nötig wäre, die klärt, inwiefern Aussagen über den einzelnen Antisemiten auf den Antisemitismus übertragbar sind und wie eine historische Kontextualisierung aussehen müsste. Er konzentriert sich allerdings vorwiegend auf die Forschung der Nachkriegszeit und die 1980er Jahre. Schließlich vermittelt Werner Bergmann den Lesern, ausgehend von der Kritischen Theorie, Einblicke in mögliche Weiterentwicklungen psychoanalytischer Theoriebildung. Er weist etwa auf Lars Rensmanns Studie "Kritische Theorie über den Antisemitismus. Studien zu Struktur, Erklärungspotential und Aktualität" aus dem Jahr 1998 hin. Diese viel beachtete Arbeit unternimmt eine theoretische Reflexionsleistung, der man, unabhängig davon, ob man die Thesen des Autors zum Antisemitismus der Nachkriegszeit teilt, Respekt zollen muss. Die Aufarbeitung und Würdigung der Antisemitismusforschung verschiedener Vertreter der Kritischen Theorie ist unbedingt empfehlenswert. Rensmann zeigt blinde Flecke im Konzept des autoritären Charakters auf, thematisiert, dass sich die Kritische Theorie die Frage nach den spezifischen Bedingungen des deutschen Antisemitismus nicht gestellt habe und erklärt zu Recht, dass die Schwäche und zugleich die Stärke der Kritischen Theorie in der Theorie moderner Totalität liege. Dabei versteht er die historische Differenzierung als einen ungelösten Impuls der Vertreter der Kritischen Theorie selbst, den er zum Anlass seines Versuches einer Historisierung des Antisemitismus in der Bundesrepublik nach 1945 nimmt. Er kommt zu dem Schluss, dass eine zunehmende Enttabuisierung des Antisemitismus in der Bundesrepublik und eine Reintegration antisemitischer Standpunkte festzustellen sei. Rensmanns Darstellung des sekundären Antisemitismus in der Bundesrepublik kann man an vielen Stellen folgen. Dass er jedoch eine gewisse Polemik in seiner Kritik an einzelnen geschichtswissenschaftlichen Forschungsstandpunkten nicht vermeidet und sich dazu ausgerechnet auf die Thesen Daniel Jonah Goldhagens beruft, unterstützt nicht gerade die Glaubwürdigkeit seiner Darstellung - etwa wenn er sich darüber mokiert, die Auffassung, der Antisemitismus sei im Deutschland der Vorkriegszeit nicht ausgeprägter als in anderen Ländern gewesen, "geistere" noch durch die Geschichtswissenschaft.

An Rensmanns Studie konnte bislang niemand so recht anknüpfen. Dies zeigt sich nur allzu deutlich in einer 2004 erschienenen Arbeit, die dies explizit versucht: "Die friedfertige Antisemitin? Kritische Theorie über Geschlechterverhältnisse und Antisemitismus" von Ljiljana Radonic. Sie möchte die Psychoanalyse Freuds und die Konzeption des autoritären Charakters in der Kritischen Theorie für Fragen der Geschlechterforschung zum Antisemitismus fruchtbar machen - ein Problemfeld, das im Band "Antisemitismusforschung in den Wissenschaften" eine Leerstelle bildet. Im Anschluss an eine kritische Lektüre von Freuds Weiblichkeitstheorie lautet ihre These, dass Frauen und Männer gleiche Persönlichkeitsstrukturen haben, dass sie aber aufgrund verschiedenartiger Geschlechterrollen und entsprechender psychischer Konflikte unterschiedliche "unerlaubte Bedürfnisse", nicht zugelassene Wünsche und Ambivalenzkonflikte, auf 'Sündenböcke' "verschieben". Antisemiten und Antisemitinnen hätten also jeweils spezifische psychische "Gewinne". Diese These ist nur unzureichend in einen überzeugenden Aufbau integriert, der von Freud über das Konzept des autoritären Charakters in der Kritischen Theorie und die Idealisierung Hitlers im nationalsozialistischen Deutschland bis hin zur Reihung unterschiedlicher Beispiele von Frauen, die im KZ gearbeitet oder denunziert haben, reicht. Gerade im letzten Fall wäre eine wirkliche Verknüpfung zwischen These und empirischen Beispielen sinnvoll gewesen; der bloße Nachweis, dass es Täterinnen gab, trägt vor dem Theoriehorizont wenig zum Thema und insgesamt nichts Neues bei. Radonic widerlegt redlich die Ansicht von der 'weiblichen' Friedfertigkeit, wendet sich gegen die angebliche 'Opferrolle' von Frauen und kritisiert, dass Teile des Feminismus und der feministischen Wissenschaft bis in die 90er Jahre die Täterschaft von Frauen leugneten. Die Emphase, mit der sie dies tut, soll offenbar verdecken, dass sie hier weit offen stehende Türen einrennt. Radonic hat natürlich Recht, wenn sie die These ablehnt, dass sich der Antisemitismus aus patriarchalischen Strukturen ableite und daher die Frauen, auch wenn sie Täterinnen waren, letztlich doch als Opfer zu sehen seien. Doch vermag ihr Gegenangebot, dass sich 'der Antisemitismus' als Reaktion auf den Kapitalismus lesen lasse, ebenso wenig zu überzeugen. Dies trifft zunächst einmal auf alle monolithischen Erklärungsversuche zu; in diesem Fall liegt es jedoch in erster Linie daran, dass Radonic jede Diskussion dieser These im Hinblick auf ihren konkreten historischen Kontext schuldig bleibt. So stehen Aussagen über gewandelte gesellschaftliche Verhältnisse und die Behauptung, es habe sich nichts verändert und die kapitalistischen Strukturen beförderten auch heute noch den Antisemitismus, unvermittelt nebeneinander. Radonic verschenkt die Chance, zu erklären, inwiefern die Beschäftigung mit der Kritischen Theorie wertvoll für eine an Geschlechterfragen orientierte Antisemitismus-Forschung sein könnte.

Vergleich, Kontextualisierung, Vergangenheitsbewältigung

Die im Sammelband "Antisemitismusforschung in den Wissenschaften" anklingende Forderung nach Vergleich und Kontextualisierung kann sich darauf beziehen, dass Antisemitismus nicht isoliert im jeweiligen historischen Feld, sondern, wie erwähnt, etwa im Rahmen sozialer Bewegungen betrachtet wird. Mögliche Vergleichspunkte sind aber natürlich auch die Diskriminierungen anderer Minderheiten bzw. zu "Fremden" gemachter Bevölkerungsgruppen sowie ethnische Konflikte. Der Band "Grenzenlose Vorurteile. Antisemitismus, Nationalismus und ethnische Konflikte", herausgegeben von Irmtrud Wojak und Susanne Meinl, versammelt in einer gelungenen Zusammenstellung Beiträge aus diesen sich überschneidenden Feldern. Sie fokussieren sowohl Mechanismen gewaltsamer Auseinandersetzungen zwischen Ethnien als auch den Umgang damit in der Erinnerungskultur, sei es die Erinnerung an die französische Kollaboration (Jean-Marc Dreyfus) oder das Pogrom von Jedwabne.

Der Frage nach der Vergleichbarkeit unterschiedlicher Diskriminierungen und Ausgrenzungen zwischen ethnischer Zugehörigkeit, Klasse und Geschlecht geht der Beitrag von Wulf D. Hund nach, der den Band eröffnet. Dass er so enttäuschend ausfällt, liegt in erster Linie daran, dass sich Hund scheinbar programmatisch Binnendifferenzierungen verweigert. Die Tatsache, dass es Übertragungen und Transformationen zwischen den genannten Kategorien im Hinblick auf diskriminierende Zuschreibungen gibt, ist bekannt und ein ebenso reiches wie spannendes Feld für eine Verbindung von Gender- und Interkulturalitätsforschung. Dabei kommt es darauf an, spezifische Formen der Verbindung und Übertragung von Diskriminierungsformen aufzuzeigen; keineswegs speist sich das Arsenal der Ausgrenzungen aus einem immer gleichen, völlig fungiblen Fundus. Hund schöpft aus einer Fülle unterschiedlichster Beispiele und erklärt dabei die rassistische Konstruktion zur primären Form, nach der Ausgrenzung im Grunde seit der Antike funktioniere. Dagegen kann sich sein zutreffender Hinweis, dass die Kategorie Rasse im 19. Jahrhundert "zum Leitbegriff" werde, die unterschiedlichen Formen der Diskriminierung Argumentationsmuster bereitstelle, nicht durchsetzen. Hund arbeitet dem Eindruck zu, es gebe eine "jahrtausendalte rassistische Kontinuität", die alle Formen der Diskriminierung umfasse. Dagegen wenden sich die Herausgeberinnen in ihrer Einleitung zu Recht.

Die zwei einander ergänzenden Perspektiven auf einen jüngeren Streitfall zur 'Vergangenheitsbewältigung' in Polen, die Stefan Garsztecki und Andreas R. Hofmann bieten, sind nicht nur auf Grund ihres Themas interessant; sie können als Beispiel für die Gratwanderung dienen, die in der erwähnten Forderung liegt, eine interaktive Komponente zu berücksichtigen. Ausgelöst wurde diese Debatte durch Jan Tomasz Gross' Buch "Nachbarn" (2000). Er stellt dar, dass in erster Linie Polen für das Pogrom von Jedwabne im Jahr 1941 verantwortlich seien, eben die "Nachbarn" der Juden, nicht die deutschen Besatzer. Hofmann diskutiert Gross' Argumente und äußert berechtigte Kritik an vielen Aussagen, die zu einer Relativierung zentraler Thesen von Gross führen. Zugleich zeigt er, warum diese Thesen auf so große Resonanz stießen und warum sie, trotz aller notwendigen Differenzierungen, einen eminent wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der Vergangenheit in der polnischen Erinnerungskultur geleistet haben. Dabei findet er klare Worte für Wahnwitziges in der Debatte - etwa der Forderung an die Juden, sie sollten sich für ihre angeblich begeisterte Mithilfe an der kommunistischen Unterdrückung der Polen entschuldigen -, zieht aber insgesamt ein positives Fazit: "Die Gleichung von einem kulturellen, katholisch-antijudaischen Code geht heute in Polen nicht mehr auf." Garsztecki stellt die historische Vorgeschichte dar und versteht den Antisemitismus in Polen als einen kulturellen Code, der katholisch geprägt ist und einen realen Konflikthintergrund besitze. Diese Konstellation lässt aufhorchen: Während der "Konflikthintergrund" bei Hofmann klar als Projektion verstanden wird - der Vorwurf an die polnischen Juden, die russische Besatzung und den Kommunismus unterstützt zu haben -, spricht Garsztecki diesem Moment Realitätsgehalt zu. Dazu fügt sich, dass er auch andere Selbstwahrnehmungen der historischen Akteure übernimmt: Er konstatiert zu Recht, dass Teile der nicht-jüdischen Bevölkerung Polens die Juden als eine eigene "Nation" ansahen, und dass es auch unter Juden entsprechende Vorstellungen von einer eigenen "Nation" gab. Aus diesem Befund leitet sich jedoch offensichtlich auch seine eigene Rede von "rivalisierenden Nationen" ab. Abgesehen von diesen irritierenden Momenten stellt auch Garsztecki die Bedeutung dieser Debatte für den polnischen Erinnerungsdiskurs positiv heraus und kommt wie Hofmann zu dem Schluss: "der Mythos der eigenen Unschuld ist so nicht mehr aufrechtzuerhalten".

Zum Schluss noch ein kursorischer Blick auf ein Feld, das im Sammelband "Antisemitismusforschung in den Wissenschaften" keinen Ort hat: die Pädagogik und pädagogische Praxis. Zwei Beiträge des Bandes "Grenzenlose Vorurteile" widmen sich dem Umgang mit dem Holocaust aus unterschiedlichen pädagogische Perspektiven. Micha Brumlik zeichnet im Rahmen der Frage nach einer Konkurrenz verschiedener Opfergruppen, der sich auch Laurence Mordekhai Thomas und Jeffrey Shandler in diesem Band widmen, den Streit um die Bedeutung des Sklavenhandels im Vergleich mit dem Verbrechen des Holocaust nach. Seine These einer Gleichursprünglichkeit von Sklavenhandel, modernem Rassismus und Antisemitismus, die sich auf eine Strukturlogik der Ausgrenzung stützt, die mit dem Kolonialismus als Vorbedingung des transatlantischen Sklavenhandels begann, wäre sicher noch genauer zu diskutieren; seinem Plädoyer für die Übernahme des "Slave Route Projects" der UNESCO auch in Deutschland ist jedoch zuzustimmen. Es ist, so Brumlik, geeignet, "zu einem tieferen Verständnis jener Deutungsmuster, Ideologien und Praktiken, die zum Vorfeld und zu den notwendigen Bedingungen der industriellen Massenvernichtung an den europäischen Juden gehört haben", zu gelangen. Aus einer ganz anderen Perspektive argumentiert Annegreth Ehmann gegen eine zu enge Fixierung der pädagogischen Praxis auf den Holocaust. Während Brumliks Anstoß in erster Linie den Blick auf Strukturanalogien von Ausgrenzungs-, Diskriminierungs- und Verfolgungspraxen und gegenseitige Bedingtheiten lenkt, wendet sich Ehmann gegen die so genannte "Holocaust Education", die aus den USA kommend auch zunehmend in Deutschland Fuß fasst. Sie stellt dem noch einmal Adornos Konzept einer "Erziehung nach Auschwitz" gegenüber und zeigt überzeugend auf, dass der Holocaust kein geeigneter Gegenstand für eine Erziehung zur Toleranz ist, zumal, wenn er falsche Identifikationen und die Übernahme von Standpunkten statt die Mündigkeit und die Kompetenz zum eigenständigen, kritischen Umgang mit Quellen fördert und sich in einer Empathie mit den Opfern erschöpft.

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Lars Rensmann: Kritische Theorie über den Antisemitismus. Studien zu Struktur, Erklärungspotential und Aktualität.
Argument Verlag, Hamburg 2001.
365 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3886196429

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Irmtrud Wojak / Susanne Meinl (Hg.): Grenzenlose Vorurteile: Antisemitismus, Nationalismus und ethnische Konflikte in verschiedenen Kulturen.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
304 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3593370190

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Werner Bergmann / Mona Körte (Hg.): Antisemitismusforschung in den Wissenschaften.
Metropol Verlag, Berlin 2004.
404 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-10: 3936411484

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Peter G. Pulzer: Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und in Österreich 1867-1914. Mit einem Forschungsbericht des Autors.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2004.
381 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3525369549

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Ljiljana Radonić: Die friedfertige Antisemitin? Kritische Theorie über Geschlechterverhältnis und Antisemitismus.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
178 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-10: 3631533063

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