Wer hiess mich Fremdling, zu sein mit euch?

Zu einer Sammlung der Schriften Karl Wolfskehls

Von Alfred BodenheimerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alfred Bodenheimer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Damals warf sie mich aus, die Heimat. Heute, ein volles Jahr nachdem das, von dem Ihr Euch als von einem Spuk oder Nachtmahr befreit fühlt, mit dem Köstlichsten der Heimat zusammengebrochen ist, hat die Heimat durchaus vergessen, daß es den deutschen Dichter Karl Wolfskehl noch gibt, wahrscheinlich vergessen, daß es ihn je gegeben hat." Im September 1946 aus dem neuseeländischen Exil an den Darmstädter Bekannten Kurt Frener gesandt, enthält der Brief einige der bittersten, schärfsten Bemerkungen Wolfskehls zu einer Ausgrenzung, die über die physische Vertreibung und Verfolgung hinaus auch nach dem Krieg systematisch weiterbetrieben wurde. Wenn Peter Weiss in den sechziger Jahren von Diskussionen der Gruppe 47 berichtet, in welchen ihm das Recht bestritten wurde, als Emigrant über deutsches Verhalten zu urteilen, so erfuhr Wolfskehl Vergleichbares schon zwanzig Jahre früher. Von der Tochter des Malers Reinhold Lepsius wurde er jenen zugerechnet, "die abtrünnig wurden, die in der Fremde die Liebe zur Heimat vergaßen". In Tat und Wahrheit hat kaum ein anderer deutschsprachiger Dichter sich mit der Frage von Heimat, Wanderung, Fremde und Vertreibung so intensiv auseinandergesetzt wie der Jude Karl Wolfskehl. Er, der seine genealogischen Wurzeln über Hunderte von Jahren als rheinländisch-jüdische zurückverfolgte, betrachtete sich als deutsch-jüdischen Dichter in einem Sinne, der alle gängigen Zuschreibungen an Dichte und Zugehörigkeitsbewußtsein weit übertrifft.

Es ist das Verdienst der Sammlung, die nun Cornelia Blasberg und Paul Hoffmann im Jüdischen Verlag vorgelegt haben, daß sie gerade diese tief deutsch-jüdische Existenz erfaßt - von der Formulierung des jüdischen Urthemas der Fremdheit im Zyklus "An den alten Wassern" (1903) (im Ton von Wolfskehls 'Meister' Stefan George gehalten) über die schon in der Wortwahl eindeutig jüdisch konnotierten Gedichte in "Die Stimme spricht" (1934) bis hin zu Briefen wie jenem eingangs zitierten aus den drei Jahren zwischen Kriegsende und Wolfskehls Tod 1948 in Bayswater-Auckland/Neuseeland. Die Konstanz jüdischer Thematik hielt er selbst offenbar nicht für allgemein einsichtig. In einem Brief an den Journalisten Alfred Kupferberg, der nach Palästina emigriert war, weist er auf jene frühen Dichtungen zu Jahrhundertbeginn hin, die ihn schon lange vor der Emigration als eindeutig jüdischen Dichter ausweisen sollen. Er tat es mit Recht, in realistischer Einschätzung der bis heute - oder zumindest bis vor Erscheinen dieser einschlägigen Sammlung - vorherrschenden Rezeption seines Werks, das erst seit 1933 und insbesondere mit Bezug auf seinen späten "Hiob"-Zyklus als dezidiert jüdisches gelesen wird. Doch schon von einer "vorherrschenden Rezeption" zu sprechen, ist gewagt. Wolfskehl rangiert in vielen Anthologien und Nachschlagewerken zur deutsch-jüdischen - ganz zu schweigen von der allgemeinen deutschen - Literatur weiterhin gar nicht oder in unbedeutenden Regionen. Lange genug war es bequem, ihn unter "George-Kreis" abzubuchen oder ihn zu den Randfiguren der jüdischen Emigration zu zählen. Unbequem wäre ein Erlösen seines Werks aus dieser weitgehenden Verdrängung aus verschiedenen Gründen gewesen. Der frühe Wolfskehl offenbart eine geradezu existentielle Fremdheit in jener deutsch-jüdischen Existenz, der man zumindest das Potential einer Symbiose noch lange nach 1945 zumessen wollte. Doch schon zu Jahrhundertbeginn heißt es bei Wolfskehl: "Wem hab ich zu danken? / Dass ich ihm fluche / Wer hiess mich fremdling / Zu sein mit euch?" Später, eine halbe Welt entfernt, wird er zum kompromisslosen Kritiker - nicht des nationalsozialistischen Massenmords, sondern jener ehemaligen Freunde, die durch Duckmäusertum, Opportunismus oder Anpassung zu dessen stillen Teilhabern geworden sind. Sein Brief an den Bayreuther Bühnenbildner Emil Preetorius ist hierfür beispielhaft. Indem er aus einer rein persönlichen Perspektive den Verrat an der Freundschaft durch Preetorius' Einstellen der Korrespondenz 1935 als untilgbare Kränkung hervorhebt, gerät er nicht in die Pflicht, Preetorius' Erklärungen und Selbstapologien hinsichtlich seines generellen Verhaltens zu werten. Preetorius' Hinweis, er habe Juden durch seine Beziehungen als arrivierter Künstler retten können, tut Wolfskehl mit der Frage ab: "Was hat das alles überhaupt mit mir zu tun, mit Dir und mit mir? Mit wem verwechselt Du mich eben? Bin ich ein Hilfskomitee? Eine Rechtfertigungsbehörde?" Der Verzicht auf objektive Urteilsfähigkeit lässt das subjektive Urteil umso schneidender ausfallen.

Es sind, das darf gesagt sein, Perlen aus Wolfskehls Werk - in dem die Briefe dieses Bandes eine zentrale Rolle einnehmen. Dennoch muß angesichts der Bedeutung und Unerforschtheit dieses Dichters gefragt werden: Wird eine solche Sammlung Wolfskehls Beachtung wesentlich verbessern? Ist sie ein echter Gewinn nach den Gesammelten Werken von 1960 und den Briefausgaben, die in den vergangenen dreissig Jahren erschienen sind? Hätte es dafür nicht eines ganz anderen, umfassenderen Buchs bedurft, das zumindest die wichtigsten Gedichtzyklen vollständig wiedergeben würde? Nun, es sei ganz prosaisch vermutet: Mehr als das Vorliegende lag wohl - aus ökonomischer Sicht wahrscheinlich zu Recht - außerhalb dessen, was sich der Verlag zumuten wollte. Der Reiz dieser Ausgabe besteht darin, daß sie gerade in ihrer Unvollständigkeit zu weiterem Graben auffordert, und dafür gebührt den Herausgebern, die konzise Anmerkungen, eine Zeittafel und ein informatives Nachwort beigetragen haben, Anerkennung. Kritik gebührt dem Verlag allerdings für den teilweise unzumutbar schlechten Druck vor allem gegen Ende des Buches.

Ein besonders großes Verdienst dieser Sammlung ist darüber hinaus die Veröffentlichung zahlreicher der im George-Archiv liegenden Briefe Wolfskehls an den 'Meister' - Briefe, die den jüdischen Kontext nahezu vollständig ausblenden. Hier besonders wird Wolfskehl als Dichter erkennbar, der sich in fast unbegreiflicher Weise zurücknimmt, der sich etwa wortreich darüber erklärt, weshalb er, um Geld zu verdienen, auch Publizistisches schreiben müsse. Hier, in den Briefen an George, findet sich auch der definitive Bruch deutscher und jüdischer Existenz vorgezeichnet: In einem kurzen Brief aus dem Jahre 1932, als Wolfskehl "grenznah", von Basel aus, "tief bedrängt von dem was jetzt sich vollzieht, was mich den Juden bedroht", George die Frage stellt: "tat ich recht? Kann ich, kann meine Art meine Kraftart jetzt nützen oder wirken, hab ich noch das Recht, mich aufzusparen? Ich bin ungewiss und ich frage Sie, Meister!" Es war der letzte historische Augenblick, da ein Jude noch einmal Antwort suchen und erwarten durfte bei einem Meister aus Deutschland auf die Frage, ob hier noch Heimat sei.

Titelbild

Karl Wolfskehl: Gedichte - Essays - Briefe.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1999.
240 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 363354156X

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