Verschworenes

Zwei neue Studien zu Genese und Verlaufsform des modernen Antisemitismus

Von Philipp TheisohnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Theisohn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Unverhältnismäßigkeit von Ursache und Wirkung - von scheinbarer Irrelevanz in der Sache und von offenkundiger Verheerung im Resultat - hat sich bisher noch jeder Analyse entdeckt, die es auf die Rolle des Antisemitismus im Konstituierungsprozess der Moderne abgesehen hatte. Getrieben vom Zwang, besagte Diskrepanz wissenschaftlich aufzulösen, ergibt sich das Gros der Einlassungen zum Gegenstand entsprechend seiner Opazität und bleibt an der Oberfläche: zweifellos gehöre der Antisemitismus zu den großen europäischen Verblendungsarrangements des 19. und 20. Jahrhunderts, strukturbildend im konkreten (politischen, sozialen, epistemologischen) Sinne wirke er allerdings nicht. Vielmehr stelle er ein - im Grunde austauschbares - Akzidens dar, das während der totalitären Restrukturierungsmaßnahmen der politischen Substanz aus rein machttaktischen Gründen in den Vordergrund gerückt und in millionenfacher Vernichtung ausexerziert wurde. Dementsprechend ist es das Ausmaß der Folgen, welches die Wahrnehmung des modernen Antisemitismus lange Zeit bestimmt hat. Das Neue, das Spezifische seiner Erscheinung schuldet er scheinbar einem organisationspolitischen Instrumentarium, das prinzipiell von ihm unabhängig ist, in welches er sich aber als ein traditionsreicher Diskurs aufgrund bestimmter Merkmale offenbar mühelos einfinden konnte. Wir finden derlei Auffassungen in einer Vielzahl von (neo-)marxistischen, psychoanalytischen oder auch metahistorischen Deutungen des Nationalsozialismus, nicht selten auch verbunden mit dem Hinweis, dass der Anstieg und die innergesellschaftliche Intensivierung antisemitischer Auswüchse zunächst auch als ein Seitenprodukt des Nationalismus zu verstehen seien und vielmehr auf diesem Feld nach Erklärungsmodellen jener mörderischen Dynamisierungsprozesse zu suchen sei. Es war Hannah Arendt, die als Erste darauf aufmerksam gemacht hat, dass diese Gleichung auf falschen Tatsachen beruht, insofern "der Antisemitismus in genau dem Maße zunahm, in dem das traditionelle Nationalgefühl und das rein nationalistische Denken an Intensität abnahmen, um seinen Höhepunkt in dem Augenblick zu erreichen, als das europäische Nationalstaatensystem zusammenbrach." Demzufolge muss davon ausgegangen werden, dass der moderne Antisemitismus weder bloß das Gefolge sich im 19. Jahrhundert abzeichnender Nationalisierungsströmungen, noch lediglich die Vollendung einer sich über mehrere Jahrhunderte anbahnenden Vernichtungsfantasie darstellt, sondern über ein ganz eigenes, autoproduktives Spezifikum verfügt, welches sich nicht auf ein Phänomen der Zahl rubrizieren lässt, sondern welches durch und durch systemisch ist. Die (im terminologischen Anschluss an Shulamit Volkov formulierte) Einsicht, dass der moderne Antisemitismus einen 'kulturellen Code' bildet, auf dessen Grundlage eine totalitaristische Ordnung überhaupt erst generiert werden konnte, eignet einer Reihe der in jüngster Zeit vom "Zentrum für Antisemitismusforschung" veröffentlichten Untersuchungen, unter denen an dieser Stelle zwei herausgehoben seien. Beide begeben sich in die Tiefenschichten antijüdischer Agitation - die eine auf exemplifizierendem, die andere eher auf monumentalisierendem Wege.

An die Wurzeln der antisemitischen Transformation wagt sich Daniela Weilands Studie zum Wirken des Berliner Publizisten und Journalisten Otto Glagau (1834-1892), der, wiewohl auf parteipolitischer Ebene nie in Erscheinung tretend, als einer der Hauptkristallisationspunkte antisemitischer 'Modernisierung' gelten kann. Ursprünglich den Idealen des Liberalismus verpflichtet, sah Glagau schon bald seine Aufgabe darin, zum einen die Bevölkerung über den schädlichen Einfluss des 'jüdisch-liberalen Geistes' aufzuklären, zum anderen die antisemitische Agitation zu 'intellektualisieren', auf wissenschaftliches Niveau zu heben und an ein "gebildetes Publikum" heranzutragen. Als Katalysator diente ihm hierbei in erster Linie der Börsenkrach von 1873, als dessen Profiteure er die Juden erkannte und somit die Erklärungsmodelle der zeitgenössischen Wirtschaftswissenschaften durch die Personifikation anonymer ökonomischer Abläufe substituierte. Von 1880 bis 1888 organisierte Glagau die antisemitischen Transformationsprozesse in seiner Halbmonatsschrift "Der Kulturkämpfer", in der er die "Judenfrage" als rassisches, politisches, kulturelles und soziales Problem zu fundamentieren begann. In struktureller Hinsicht lässt sich hier somit eine Bündelung des Diskurses verfolgen, der auf der anderen Seite eine völlige Anonymisierung der Agitation entspricht - die zahlreichen, vermutlich nicht unprominenten Beiträger des "Kulturkämpfers" blieben grundsätzlich ungenannt, verantwortlich zeichnete stets nur Glagau selbst, der die verschiedenen Einzelstimmen dem Strom der antisemitischen Rede gekonnt einzupassen verstand.

Bemerkenswert erscheint der Umstand, dass diese Rede gerade deswegen einen derart großen Einfluss ausüben konnte, weil Glagau stets eine Doppelposition einnahm, insofern er die antisemitische Infiltration auf unterschiedlichen gesellschaftlichen wie politischen Feldern zwar einerseits vorantrieb, wohlwollend zur Kenntnis nahm und verteidigte, sich gleichzeitig jedoch zumeist von der antisemitisch agitierenden Prominenz wie Stöcker, Marr oder Treitschke distanzierte, indem er die "Judenfrage" zur alleinigen Interpretationsgrundlage erklärte, deren Einbettung in übergeordnete Fragestellungen und Argumentationsgänge folgerichtig bereits als Opportunismus, wenn nicht sogar als Verrat an der Sache gewertet werden musste. Die Überzeugung, dass sich das deutsche Volk mitten in einem 'natürlichen Kulturkampf' befinde, der sich zwar oberflächlich als Kampf gegen den Liberalismus, den Atheismus, den Materialismus, gegen Sozialdemokratie oder 'Manchesterthum' ausnehme, der im Kern aber immer nur ein Kampf gegen ein und denselben Gegner, gegen "rote" und "goldene Internationalen", sprich: gegen das Judentum sei, verlieh dem "Kulturkämpfer" einen Standpunkt, von dem aus jedes Ereignis innerhalb des Konfliktrasters verortet werden, jeder missliebige Zeitgenosse unumschränkt als Agent der Gegenseite identifiziert werden musste.

Weilands Analyse verfolgt den Weg Glagaus und seines Publikationsorgans (welches das zeitweilige Abflammen der antijüdischen Welle in Berlin überlebte und deren Fundament in die 1890er Jahre zu neuerlichem Aufleben hinüberrettete) detailgenau wie kulturhistorisch informiert und liefert dabei zugleich eine umsichtige Kontextualisierung jener epistemologischen Vorgeschichte, auf die sich die mörderische Fortsetzung des 20. Jahrhunderts beziehen musste, die Wolfram Meyer zu Uptrups Dissertation zum Antisemitismus der Nationalsozialisten in den Blick nimmt. Das Augenmerk liegt hierbei eindeutig auf dem formativen Charakter judenfeindlicher Propaganda und Agitation; überzeugend vermag der Verfasser aufzuzeigen, wie der Nationalsozialismus als Gesamtphänomen vom Antisemitismus her strukturiert wird. In den Blickpunkt rücken zunächst die so genannten "Protokolle der Weisen von Zion", deren Bedeutung für die prägende Phase der DAP resp. NSDAP kaum hoch genug eingeschätzt werden kann. Vorbildcharakter konnten die 'Protokolle' dabei nicht zuletzt hinsichtlich ihrer selbstlegitimierenden Performanz einnehmen: Gegen den Vorwurf der Fälschung ist dem Text von Anfang an das Verteidigungsargument eingeschrieben, dass eben dieser Vorwurf und jede mit ihm in Verbindung stehende Beweisführung im Horizont jener Verschwörung zu bewerten sind, die die 'Protokolle' zu dokumentieren vorgeben. Die 'konspirologische' Dimension der nationalsozialistischen Ideologie nimmt hier ihren Ausgang, und es wundert nicht, dass sich - trotz der bereits früh erwiesenen Unechtheit des Textes - die Spuren der 'Protokolle' in Versatzstücken, direkter Zitation und ungezählten Übersetzungen und Wiederauflagen durch die gesamte Geschichte des Nationalsozialismus ziehen. In der Radikalität ihrer Unterstellungen übertreffen sie Glagaus Insinuationen noch um Entscheidendes: das Judentum sei nicht nur dabei, die 'Wirtsvölker' seinen Einflüssen zu unterwerfen, sondern es überziehe auch die dieser Einflussnahme sich widersetzenden Nationen mit Krieg, an dessen Ende die Errichtung einer jüdischen Weltherrschaft stehe. Erst dieser Übersteigerung verdankt der Antisemitismus der Nationalsozialisten seinen letzthin manichäischen Charakter: Zwar blieb ihm Deutschland stets das Zentrum der Auseinandersetzung mit der jüdischen Konspiration, erkannt war diese jedoch von Anfang an als eine Weltverschwörung, die aus diesem Grunde auch nur global bekämpft werden konnte. War auf dem Untergrund dieser Deutungsfolie bereits der Erste Weltkrieg nicht nur durch Juda in Gestalt der "Novemberverbrecher" beendet, sondern bereits auch durch Juda über Europa verhängt worden, so verformte sich darüber später auch die Wahrnehmung des Zweiten Weltkrieges hin zu einer Schlacht des mit dem konspirologischen Bewusstsein gesegneten deutschen Volkes gegen eine Vielzahl durch jüdischen Zugriff gesteuerter und verführter Völker. In ähnlicher Weise war auch in den Jahren bis zur Machtergreifung die nationalsozialistische Auseinandersetzung mit innenpolitischen Gegnern stets an den Paradigmata der 'Protokolle' orientiert: Der politische Katholizismus stand im Verdacht des Freimaurertums, die Sozialdemokratie, der Liberalismus und der Kommunismus waren per se jüdisch konnotiert, im Konflikt mit der Regierung Papen wurde 1932 sogar der DNVP unterstellt, in letzter Instanz unter jüdischer Kontrolle zu stehen. Diese wild um sich greifende 'Judaisierung' ging freilich letztendlich zu Lasten der konkreten Bestimmbarkeit und Definitionsfähigkeit des 'Jüdischen', dessen rassische Verankerung zwar weitestgehend Leitvorstellung blieb, das sich im nationalsozialistischen Wortgebrauch allerdings immer mehr als ein diffuses Konglomerat all dessen verfestigte, was dem Ideal des "völkischen Staates" politisch, kulturell, ökonomisch und organisatorisch entgegenstand. Funktional aufgelöst werden konnten die antisemitischen Begrifflichkeiten somit immer nur in Rekurrenz auf den kulturkämpferischen Grundentwurf des Nationalsozialismus.

In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass Meyer zu Uptrups Einlassungen nicht zuletzt durch die Aufmerksamkeit, die sie der Frage der Kommunizierbarkeit eines derart autistischen Weltentwurfs schenken, zu bestechen wissen. Anhand einer Fülle von Materialien (hier steht neben den Reden Hitlers insbesondere auch immer wieder der "Völkische Beobachter" im Vordergrund) dokumentiert die Untersuchung, wie bereits in der nationalsozialistischen Gründungsphase ein Redeverfahren etabliert wurde, welches nach innen die Theorie vom "einen Feind" zementierte und gleichsam den Antisemitismus nach außen hin im tagespolitischen Geschehen anschlussfähig machte. Der Verfasser prägt in diesem Zusammenhang den Begriff des "double-speak", womit die Fähigkeit bezeichnet ist, "mit der gleichen semantischen Oberflächenstruktur unterschiedliche semantische Tiefenstrukturen zu kommunizieren, die von den Vorstellungen und Erfahrungen unterschiedlichster Zielgruppen abhängig waren." Die Modernisierung des Antisemitismus schließt seine Kryptifizierung mit ein: er funktioniert nun wirklich als ein "Code", der von allen benutzt, in seinem ideologischen Horizont aber nicht von allen in gleichem Maße verstanden werden kann. Zur Volksbewegung konnte der Antisemitismus mithin erst in dieser allmählichen Unterlagerung alltäglicher Kommunikation durch eine antisemitische Bedeutungsebene avancieren. Das freie Zirkulieren des verschwörungstheoretischen Denkgebäudes wurde nur dadurch möglich, dass dessen krude Anteile weitestgehend im Verborgenen bzw. dem Denotationsvermögen des Rezipienten überlassen blieben, während ihre Prämissen und weltanschaulichen Kennmarken offen kommuniziert werden und somit die Wahrnehmung der Diskurspartizipanten steuern konnten. So ist vor diesem Hintergrund auch nicht zu bestreiten, dass der Plan zur Vernichtung des Judentums - auch im Sinne einer weltweiten Vernichtung - von Anfang an parteiprogrammatisch angelegt war und durchaus auch seine Verbalisierungen fand; diese zu dekodieren, zu verstehen und daraus rechtzeitig die entsprechenden Schlüsse zu ziehen (und sei es nur der Schluss, dass man es hier - wie Shulamit Volkov formuliert - nicht mehr "mit einem vertrauten Bündel von Auffassungen und Einstellungen", sondern mit einem "Schlachtruf mit unmittelbaren Implikationen für das Handeln" zu tun hatte), war Millionen Deutschen und auch der Mehrheit der deutschen Juden nicht gegeben.

Wo der Antisemitismus des Kaiserreichs seine Identität noch vor allen Dingen aus einer Gegnerschaft zur Moderne bezog, erfuhr er - im Anschluss an die ersten Transformationen durch Diskurs-Arrangeure wie Glagau - unter dem Zugriff des Nationalsozialismus seine endgültige Einpassung in die Strukturen moderner Politik. Dem antijüdischen Ressentiment wurde so eine programmatische wie semantische Mehrdimensionalität zuteil, deren Umsetzung Meyer zu Uptrups Studie nahezu auf allen Feldern der NS-Politik mit viel Sachverstand nachgeht (wobei der sich gelegentlich einstellende Eindruck der Redundanz im Zweifelsfall nachzusehen ist, zumal er in gewissem Maße auch dem Gegenstand selbst geschuldet sein mag). Vor uns liegt damit eine umfassende Rekonstruktion jener Episteme, welcher das Verbrechen einst entstiegen war und ohne welche es auch forthin nicht zu denken ist.

Titelbild

Wolfram Meyer zu Uptrup: Kampf gegen die "jüdische Weltverschwörung". Propaganda und Antisemitismus der Nationalsozialisten 1919 bis 1945.
Metropol Verlag, Berlin 2003.
560 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3932482832

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Titelbild

Daniela Weiland: Otto Glagau und "Der Kulturkämpfer". Zur Entstehung des modernen Antisemitismus im frühen Kaiserreich.
Metropol Verlag, Berlin 2004.
239 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-10: 3936411441

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