Kunst machen heißt Fehlschlägen nachschauen

"Der gedehnte Blick" zurück von Wilhelm Genazino

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wilhelm Genazino ist ein Autor mit Zartsinn und mit dem Mut zur Wehrlosigkeit. Wer seine Erzählungen mag, schätzt eben diese Eigenheiten; der Genazino-Leser fühlt sich den Figuren wie dem Autor in charakteristisch anderer Weise verbunden als dies der Fall ist, wo ein zweifelsfrei gelungenes Leben (oder Werk) uneingeschränkte Bewunderung fordert.

Scheitern nämlich ist nicht nur zentrales Thema von Genazinos erzählender Prosa, sondern auch eine Grundlage seiner Poetik, und dies in motivischer wie in stilistisch-performativer Hinsicht. Künstler, in Sonderheit Schriftsteller, gelten dem Autor als "Vorturner des Scheiterns". Sie (be-)arbeiten die schmerzliche Erfahrung nach, im Medium der Kunst. Damit versuchen sie ein "inneres Pogrom" (Witold Gombrowicz) zum Ausdruck zu bringen, das sich sonst nicht ausdrücken lässt und das der Scheiternde auch vor sich selbst zu verheimlichen sucht. Eingeständnis und Materialisation des Scheiterns sind indes Voraussetzung der temporären Bewältigung und - des Künstlertums. Mit Beckett glaubt Genazino: "Künstler sein heißt scheitern, wie kein anderer zu scheitern wagt." Er greift hier wie auch sonst oft in seinem neuen Essayband zum Zitat und bezieht sich auf geschätzte Autorenkollegen, vielleicht auch, weil deren Äußerungen eine Entschlossenheit eignet, die ihm eher fehlt - im Guten wie im Schlechten: Genazino schafft es, dem Scheitern jene Aura des trotzig Heroischen, abgeklärt Zynischen oder komisch Melancholischen vorzuenthalten, die dem Konzept bei anderen (Beckett, Heiner Müller, Kafka) zukommt und die es letztlich unterminiert, indem sie den vermeintlich Scheiternden zur Ikone eines lässig demonstrierten negativen Heldentums macht. Genazino hingegen behauptet nicht nur, "Kunst machen heißt Fehlschlägen nachschauen", er beweist es und führt es dem Leser vor. Insofern sind die Schwächen der Essays nur konsequent - wenn man nicht überhaupt von einer Mesalliance zwischen Genre und Autor sprechen will. Denn was als Aperçu eines Romanhelden erfreut, verliert ohne den Schutz der Rollenprosa den Charme des Selbstgestrickten, die Leichtigkeit des Beiläufigen, das Anrührende der Absichtslosigkeit. Im Essay klingt es bemüht, Schlenker ins Populärwissenschaftliche und ein forciert theoretischer Anspruch überfrachten die kluge Beobachtung, die poetische Formulierung, das hinreißende Bild. Ein großer Teil des Lesevergnügens, das Genazinos Erzähltexte bereiten, entsteht aus dem unmerklichen Übergang von anschaulicher Beschreibung eines alltäglichen Vorgangs zur Andeutung einer theoretischen Reflexion - schon, wo diese oft spielerisch-assoziative Reflexion zu weit expliziert wird oder auf ihre Entfaltung aus dem Konkreten verzichtet (wie in Genazinos neuem Roman "Die Liebesblödigkeit", dessen Titel bereits das Programm lakonisch-banaler Vorläufertitel wie "Die Kassiererinnen" verrät), verliert sie den Charme der kunstvollen Absichtslosigkeit. In den Essays werden die Epiphanien des Alltags, kostbare Findlinge in Genazinos Romanen, erdrückt von gedankenlastiger Theoriefreudigkeit, zuweilen gar akademischem Jargon.

Kaum irgendwo wird der Widerspruch zwischen Inhalt und Form so peinlich spürbar wie bei Erläuterungen des Komischen. Da ist Genazino leider keine Ausnahme. Sein Angebot, das Lachen als den "nachträgliche[n] Frieden mit allem Gescheiterten" zu begreifen, stellt die Verbindung zum zweiten großen Themenkreis des Essaybandes dar: Lachen, Komik und Humor. Der Text über Adornos Idiosynkrasien und dessen "Verweigerung des Lachens" fällt in diesen Bereich, ebenso ein längerer Essay über "Die komische Empfindung", der bereits als Vorabdruck in der F.A.Z. erschien (ein Hinweis, der im Essayband ebenso fehlt wie andere Quellenangaben, Informationen zu Entstehung und Erstveröffentlichung der insgesamt 17 Texte), und der historische Überblick "Im Niemandsland der Mitteilung oder: Was macht uns lachen". Letzterer bezeugt die Auseinandersetzung des Autors mit Theoretikern des Lachens wie Jean Paul, Bergson, Freud und Plessner und gibt so auch Einblick in die Arbeit des Autors als Leser. Aus ihr und in Auseinandersetzung mit der theoretischen Lektüre entwickelt Genazino seine Komiktheorie. Sie unterscheidet sich von anderen vor allem dadurch, dass sie die Kernbegriffe gegen die Konvention definiert: So soll "jegliches verbale Belustigungsgeschehen, das auf diese Weise (von außen) zu uns findet, [...] das Humoristische genannt werden. [...] Das Komische wird uns von niemandem erzählt. [...] Eine komische Empfindung haben wir nicht, weil wir in der Außenwelt ein lächerliches Objekt sehen, sondern weil dieses Objekt in eine heitere oder komische Beziehung tritt zu unserer privaten Lebenswelt. [...] Ich schlage also vor, extern vor uns ablaufendes Belustigungsgeschehen außengeleiteten Humor zu nennen und die innengeleitete Erheiterung, die nicht appellativ an uns herantritt, das Komische oder, zutreffender, die komische Empfindung." Die Beispiele, die der Autor anführt - Auftritte des Frankfurter Zoodirektors Dr. Bernhard Grzimek in dessen Fernsehsendung "Ein Platz für Tiere" und eine Szene aus Sartres "Geschlossener Gesellschaft" -, sind der Rezensentin weder als Szenen außengeleiteten Humors noch als solche innerer Erheiterung nachvollziehbar; vielleicht auch, weil der Autor seine Leser hier stilistisch unter einen konkreten Erwartungsdruck setzt und das Gefühl der Gängelung die Renitenz der Rezipienten weckt.

Ganz anders verhält sich das beim "gedehnten Blick", der dem Essayband seinen Titel und Genazinos Poetik des Sehens ihren Namen gibt; er entwickelt sich gerade aus der Absichtslosigkeit und im Unvorhergesehenen und wirkt gerade deshalb zwingend. "Zum erstenmal" lässt er sich an Kindern beobachten: "Das Kind ist in solchen starken Seh-Momenten nicht ganz bei sich oder nicht ganz es selbst; es hat einen Teil seiner Souveränität an sein Sehen abgegeben." Doch ist der kindliche Blick nicht nur ästhetisches Vorbild und Maßstab des Poetischen, sondern von jedem Anfang an Vorwegnahme einer traurigen Zukunft, denn "wir müssen uns vergegenwärtigen, daß sich in den angeblich naiven Kinderblicken ein langgezogenes Drama abspielt, nämlich die wie immer fragmentierte Art und Weise, wie Kinder ihre eigene Zukunft als Erwachsene - erworben an und durch das Beobachten von Erwachsenen - antizipieren."

Die Verklärung der Kindheit vor aller Erziehung als Modus wehrlos-ausgelieferten reinen Seins ist ein aus den Erzähltexten bekanntes Motiv; der Anblick selbstvergessen der Welt sich entziehender Kinder dort für die Erzähler oft letzter oder einziger Trost. Und einer, den auch der Leser sucht oder doch dankbar findet. Doch auch für die Darstellung der Kinder gilt, dass ihre Einbettung in den (Erzähl-)Alltag sie vor eben jener Verklärung schützt, welcher der Essay als Form sie aussetzt. Genazinos Romane lassen der Banalität ihren Wert und behaupten ihre biografische und literarische Würde. Der Versuch, diese Aufwertung in den Essays zu begründen, zu erläutern und ihr zum Programm zu verhelfen, muss scheitern. Der Autor weiß das. Den drei Teilen des Essaybandes stellt er den kurzen Text "Spur des Romans" voran, eine Apologie des erzählenden Textes mit der Quintessenz: "Der Roman überlebt, weil er ein Begleitmedium des Lebens selber ist." Sich von Genazinos Romanen beim Leben begleiten zu lassen ist Glück; den Autor bei seinen Wegen jenseits des Romans begleiten zu dürfen, gewährt dieses Glück nicht uneingeschränkt. Auch am nicht vollständig Gelingenden teilhaben zu dürfen bedeutet indes, in Genazinos Fall, ein Privileg, das den Leser ebenso verlegen wie wehrlos zurücklässt. Nie war der geschätzte Autor uns näher als im Scheitern.

Titelbild

Wilhelm Genazino: Der gedehnte Blick.
Carl Hanser Verlag, München 2004.
191 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3446205284

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch