Schiller und Beethoven hatten kein Talent für Heiterkeit

Dieter Hildebrandt über den Welterfolg der "Neunten"

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Freude schöner Götterfunken ..." - die Schiller'schen Verse, von Beethoven vertont, sind auch Menschen, die vom Dichter und vom Komponisten nichts wissen, wohl vertraut, mehr noch, die meisten können sie sogar mitsingen oder mitsummen. Aber was hat es mit Beethovens "Neunter" und Schillers "Ode an die Freude" nun tatsächlich auf sich?

Der Musik- und Literaturexperte Dieter Hildebrandt hat das Geheimnis zu entschlüsseln versucht und erzählt die Geschichte einer Ode, die in der Symbiose mit der Musik ein beispielloser Welterfolg wurde. Diese Geschichte verbindet er mit vielen kleinen Geschichten und Anekdoten über jene Literaten und Musiker, die diesen Erfolg möglich machten.

Beethoven hatte sich schon lange mit Schillers "Ode an die Freude" beschäftigt, bevor er sie in Musik umsetzte. Mit der Vertonung dieser Verse für den Schlusschor seiner neunten Sinfonie besiegelte er gleichsam seine lebenslange Verehrung für den elf Jahre älteren Dichter, der ihm in Worten all das vorgemacht hatte, was er sich in seiner Musik erträumte: Radikalität, Freiheitsrausch und den hohen Ton. Zudem sah Beethoven in Schiller den unabhängigen Geist schlechthin. Merkwürdigerweise sei, wundert sich Hildebrandt, Beethovens Beziehung zu Schiller bisher weder von der Musikforschung noch von der Literaturwissenschaft aufgearbeitet und dargestellt worden.

Wie aber nahm das Publikum Beethovens "Neunte" auf, die am 7. Mai 1824 in Wien uraufgeführt wurde? Zuerst reagierte die Zuhörerschaft erschrocken - man warf Beethoven vor, dass er Schiller musikalisch nicht begriffen habe -, dann mit wachsender Begeisterung. Richard Wagner nannte die neunte Sinfonie Beethovens "das menschliche Evangelium der Kunst der Zukunft". Andere sprachen von der "Marseillaise der Menschheit", von "der großen Kantate des Kosmos", von der "Stimme des Absoluten". Heute bezeichnet man sie zuweilen als "göttlichen Gassenhauer". Ein singulärer Fall, befindet Dieter Hildebrandt und zitiert den Schweizer Musikwissenschaftler Walter Riezler, der um 1930 behauptet hat: "Niemals ist durch ein einziges Werk eines großen Musikers die Welt, nicht nur die der Zeitgenossen, sondern auch die Nachwelt nun schon seit mehr als hundert Jahren in eine solche Erregung versetzt worden wie durch Beethovens neunte Sinfonie."

Claude Debussy indes schrieb nach einer Pariser Aufführung der Sinfonie im Jahr 1901, dass man aus "diesem so mächtigen und klaren Werk einen Popanz zur öffentlichen Verehrung" gemacht habe. Auch dass man "die Neunte" verkitscht hat, collagiert, illuminiert, gehört - nach Meinung des Autors - zur Tradition, die sie überlebt habe.

Doch wo von der Wirkung des großen Komponisten gesprochen wird, muss auch von der des großen Dichters die Rede sein. Gemeinsam ist beiden Genies: Sie hatten kein wirkliches Talent für Heiterkeit und Serenität. Vielmehr waren sie zwei Leidgeprüfte und Schmerzerfahrene, die sich Trost zusangen in einem Gemeinschaftswerk über die Freude, die im Grunde ihrer beider Leben gefehlt hat.

Im Gegensatz zu Beethovens Sinfonie ist Schillers Lied "An die Freude" ein Jugendwerk, der Gelegenheitswurf eines 26-Jährigen, geschrieben 1785. 1824 wird die neunte Sinfonie Ludwig van Beethovens aufgeführt. Vier Jahrzehnte liegen dazwischen - etwas mehr als ein Generationsalter - mit Epochenstürzen und Geschichtsbrüchen wie die Französische Revolution, Aufstieg und Sturz Napoleons mitsamt des Untergangs des Heiligen Römischen Reichs "schwerfälligen Angedenkens".

Schiller selbst hat sein Werk später hart kritisiert: "Die 'Freude' ist nach meinem jetzigen Gefühl durchaus fehlerhaft und ob sie sich gleich durch ein gewisses Feuer der Empfindung empfiehlt, so ist sie doch ein schlechtes Gedicht." Und er fügte hinzu: "Weil sie aber einem fehlerhaften Geschmack der Zeit entgegenkam, so hat sie die Ehre erhalten, gewissermaßen ein Volksgedicht zu werden." Und Beethoven wiederum meinte über seine Sinfonie: "Er sehe ein, mit dem letzten Satz dieser Symphonie einen Mißgriff begangen zu haben; er wolle denselben daher verwerfen und dafür einen Instrumentalsatz ohne Singstimmen schreiben, wozu er auch schon eine Idee im Kopf habe."

Zwei konsternierende Äußerungen, warnt Dieter Hildebrandt. Man sollte sie sich vergegenwärtigen, wenn man selbst berauscht ist vom Nimbus der Nachfeier dieses Werks. Somit hätten wir es also bei der viel umjubelten "Neunten" mit einem schlechten Gedicht und einem kompositorischen Missgriff zu tun, falls wir den Urhebern glauben wollten.

Hildebrandt schildert die Entstehung der "Neunten" und Beethovens Lebensumstände sowie Schillers Inspiration zu diesem Gedicht im Kreise seiner Leipziger Freunde Christian Gottfried Körner und Ferdinand Huber sowie ihrer Frauen. Er nimmt es in seinen Einzelteilen genau unter die Lupe und lässt auch die Anekdote von den fünf Weingläsern, die der junge Schiller im Überschwang eines Wein- und Geselligkeitsrausches aus dem Fenster eines Weinberghäuschens auf die Straße warf, nicht aus. Der Autor schildert ferner verschiedene Episoden aus Schillers Leben, seine Flucht, die er für Schillers größten Entwurf hält, und davon, dass sein Fluchthelfer Andreas Streicher viele Jahre nach der Flucht für Beethoven ein ebenso verlässlicher Freund wurde, wie er es zuvor in den dramatischen Tagen und Wochen für Schiller gewesen ist.

Des weiteren geht Dieter Hildebrandt auch ausführlich auf die Rezeptionsgeschichte ein, sowohl der Ode als auch der Sinfonie. Die Ode war kaum geschrieben und im Frühjahr 1786 in der "Thalia" veröffentlicht, da sang man sie auch schon in ganz Deutschland und trieb mit ihr einen regelrechten Kult. Er erwähnt außerdem Aufführungen in Amerika und untersucht die Rolle der "Neunten" im kommunistischen China. Anderthalb Monate nach dem Fall der Mauer 1989 hat Leonard Bernstein die neunte Sinfonie in Berlin aufgeführt, am 23. Dezember im Westen, am 25. im Osten der Stadt. Sie ertönte - die Zuhörer mochten ihren Ohren zunächst nicht trauen - mit dem nie zuvor gehörten pathetischen Wortlaut: "Freiheit, schöner Götterfunken!"

Die Vermutung wurde laut, dass Schiller neben der "Ode an die Freude" einen weiteren Entwurf dieses Gedichts mit dem Titel "An die Freiheit" verfasst habe. Tatsächlich war 145 Jahre zuvor diese Version zum ersten Mal veröffentlicht worden, und zwar von dem Publizisten Adolf Glaßbrenner (1810-1876), der schon mit 31 Jahren Berlin verlassen musste und zum ersten Mal ins Exil ging.

Wir erfahren ferner, dass das Bürgertum etwa achtzig Jahre gebraucht habe, um den Schock von 1824 in Weihegefühle zu verwandeln. Am Gedenktag der Gefallenen der Märzrevolution von 1848 schlug am 18. März 1905 dem Werk eine neue historische Stunde und wurde neuen Zielen dienstbar gemacht. Der sozialdemokratische Publizist und Politiker Kurt Eisner reklamierte das Werk für eine ganz neue Zuhörerschaft - und siehe da, die Sozialisten feierten Schiller nun so überschwänglich und mit so bombastischem Vokabular wie die Bourgeoisie ihn knapp fünfzig Jahre zuvor bejubelt hatte. Ein Jahrzehnt danach fanden sich viele in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges wieder: keine Sinfonie, kein Schiller-Appell hatten sie vor dem Wahnwitz der Kriegstreiber retten können.

Ein weiteres Kapitel handelt davon, wie die neunte Sinfonie bei den Nazis zum Teufel ging und wie Beethoven und Schiller von Mördern missbraucht wurden. Doch kein Wort verliert der Autor über den fatalen Umgang der DDR mit der "Neunten". Hildebrandt befasst sich außerdem mit der dubiosen Rolle des Dirigenten Furtwängler im Dritten Reich und weist darauf hin, dass Adrian Leverkühn in Thomas Manns "Doktor Faustus" die "Neunte" verworfen hat. Dies war jedoch offensichtlich kein Einfall von Thomas Mann. Denn schon gegen Ende des Ersten Weltkrieges hatte 1918 der französische Chauvinist und Publizist Maurice Mauclair, als sich die deutsche Niederlage abzeichnete, ausgerufen: "Ach, dass man ihnen nicht die Neunte Symphonie wegnehmen kann! Die Neunte deutsch? Niemals! [...] Ein Deutscher schrieb sie, doch ganz Deutschland hat jedes Recht verloren, sie zu besitzen."

Später, 175 Jahre nach der Entstehung des Liedes "An die Freude" und 140 nach der Uraufführung der Sinfonie, kehrt die "Neunte" als Folterinstrument wieder in einem Buch von Anthony Burgess und in einem Film von Stanley Kubrick, "Clockwerk Orange". Beide eröffnen einen Blick in eine grauenvolle Zukunft, in eine "Schöne neue Welt". Ein ähnliches Szenario entwirft der Komponist Mauricio Kagel Ende der sechziger Jahre. Hat das Werk, das mittlerweile "Europa-Hymne" geworden ist und im Jahr 2002 in das Weltkulturerbe der UNESCO aufgenommen wurde, wirklich außerirdische Dimensionen?, fragt sich Hildebrandt.

Heute haben wir die "Neunte" nicht nur zur Europa-Hymne eingeschrumpft, zum "Song of Joy" miniaturisiert, zur Popmusik degradiert, von der Werbung vereinnahmen lassen, wir haben sie auch in die Tasche gesteckt im Format unseres gängigsten Tonträgers, der CD. und ihr so den kulturgeschichtlichen Rest gegeben. "Nur in der Einsicht" - damit beschließt Dieter Hildebrandt sein grandioses Buch -, "dass alle Menschen nicht Brüder werden, nie, nie, nie, nur wenn wir uns klarmachen, dass wir einem Hymnus auf die Vergeblichkeit beiwohnen, dämmert uns eine Ahnung von Widerstand und Widerständigkeit, bis in die letzte Note der 'Neunten', der Sinfonie des Sisyphus."

Dieter Hildebrandt hat ein beeindruckendes Buch mit vielen Zitaten und herrlichen Anekdoten geschrieben. Man kann es gut auch als Nachschlagewerk benutzen. Allerdings lässt das Register zu wünschen übrig. Manche Namen sind gar nicht oder nur unvollständig wiedergegeben. Bei Norbert Oellers fehlt hin und wieder das "s". Diese und andere Schludrigkeiten sollten in der nächsten Auflage behoben sein. Alles in allem braucht man zwar einen langen Atem, um den Band zu bewältigen, vieles aber liest sich so spannend und fesselnd, dass man darüber Raum und Zeit vergisst.

Titelbild

Dieter Hildebrandt: Die Neunte. Schiller, Beethoven und die Geschichte eines musikalischen Welterfolgs.
Carl Hanser Verlag, München 2005.
367 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3446205853

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