Generation ohne Väter

Über einen verloren geglaubten Roman des Exilautors Konrad Merz

Von Waltraud StrickhausenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Waltraud Strickhausen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Den Namen Konrad Merz, Pseudonym des gebürtigen Berliners Kurt Lehmann, verbindet man in der Exilliteraturforschung vor allem mit einem Werk: seinem Erstlingsroman "Ein Mensch fällt aus Deutschland" (1936). Dessen Erscheinen in einem der bedeutendsten Exilverlage, dem Amsterdamer Querido Verlag, wurde von dem niederländischen Kritiker Menno ter Braak gefördert, der darin das atmosphärisch wie entstehungsgeschichtlich »erste Emigrantenbuch« überhaupt sah. Merz' zweiter, 1937/38 entstandener Roman "Generation ohne Väter" dagegen fiel den Zeitumständen zum Opfer; das Manuskript galt bis vor kurzem als verschollen.

Der Lebensweg des 1908 als Sohn einer jüdischen Arbeiterfamilie geborenen Konrad Merz weist die typischen Brüche einer durch Verfolgung und Exil geprägten Existenz auf: Die trotz widriger Umstände erkämpfte Möglichkeit zum Jurastudium wird 1933 durch die Verweisung jüdischer Studenten von der Universität zunichte gemacht; im niederländischen Exil, wo er sich als Gärtner und Knecht durchschlagen muss, beginnt, ausgelöst durch die Erfahrung von Flucht und Exildasein, Merz' schriftstellerische Laufbahn - auch diese abgebrochen, kaum dass sie begonnen hatte. Nach dem Ende der deutschen Besatzung, die er in verschiedenen Verstecken überlebt hat, erlernt Merz schließlich den Beruf des medizinischen Masseurs und entscheidet sich für ein Verbleiben im Asylland. Sein erneutes Hervortreten als Schriftsteller deutscher Sprache seit den frühen 70er Jahren hat hierzulande keine nennenswerte Resonanz gefunden.

Der Roman "Generation ohne Väter" knüpft unmittelbar an das Fluchtbuch "Ein Mensch fällt aus Deutschland" an und variiert viele der darin beschriebenen Szenen und Motive aus dem Exilalltag in den Niederlanden. Er schildert die verzweifelte Suche der Emigranten nach einer Unterkunft für die Nacht und einer noch so bescheidenen Verdienstmöglichkeit in der großen Stadt Amsterdam, den Hunger und die magische Anziehungskraft eines Brötchens mit Ei, schließlich die ungewohnt harte Feldarbeit bei holländischen Bauern, die den Flüchtling trotz ihrer eigenen Armut aufnehmen.

Auch das Thema der Generation ohne Väter war im Erstlingswerk bereits angeklungen: "Mein Vater ist für Deutschland gefallen. Sein Sohn ist aus Deutschland gefallen." Im zweiten Roman rückt Merz dieses Thema ins Zentrum. Die "betrogene Jugend Europas" die von der Vätergeneration nichts als falsche Ideale mitbekommen hatte, verkörpern der namenlose junge Ich-Erzähler, ein politischer Exilant aus Hitlerdeutschland, und die 29-jährige tuberkulosekranke Französin Madeleine, ehemalige Pariser Medizinstudentin, die einem älteren deutschen Emigranten in die Niederlande gefolgt ist. Zwischen ihnen entspinnt sich über die Schützengräben des I. Weltkriegs hinweg, in denen ihre Väter sich gegenseitig umgebracht hatten, ein komplizierter, immer wieder von Missverständnissen und kulturellen Gegensätzen erschwerter Dialog, eine Liebesbeziehung, die in dem Moment, als sich endlich beide darauf einlassen, auch schon mit Madeleines Tod endet.

In dem Konflikt der beiden Männer um die Geliebte wird exemplarisch der unüberbrückbare Gegensatz zwischen den Generationen vorgeführt. Der deutsche Oberlehrer (!) Dr. Thomas Wegener tritt gegenüber dem jungen Protagonisten mit einem Gestus unantastbarer Autorität und Überlegenheit auf, der eine Kommunikation zwischen ihnen von vorneherein unmöglich macht: "»Die menschliche Grammatik beginnt mit ich, mit einem Ich, das Autoritäten anerkennt; sie ist ohne dieses Ich unverständlich. Ohne Ich gibt es kein Wir, Anmerkung für Analphabeten.«" Der Text verweist auf das Genre des Schülerromans und ironisiert es gleichzeitig: "Man wollte die ganze Erde in Asche legen und meinte doch nur das Schulgebäude, in dem man übermorgen Examen abzulegen hatte." Damit knüpft er an die Jugendromane der späten zwanziger Jahre an, die sich von der paradigmatischen Verengung des Generationenkonflikts auf die Revolte gegen die übermächtigen, lebensfeindlichen Erziehungsinstanzen abwandten und den Komplex Jugend zu einem allgemeinen "politisch-moralischen Wertsystem" erhoben, das der "absoluten Negativität der Erwachsenenwelt" (K. Prümm, "Jugend ohne Väter") entgegengesetzt werden sollte: "Granitene Männer, tauchen ihre Feder in das Blut von hunderttausend Menschen und schreiben das Wort Ich über das ganze Land, Ich, Ich, jeder ein noch größeres Ich als der andere."

Auch in stilistischer Hinsicht orientiert sich der Autor am Vorbild der 'neusachlichen' Jugendromane. "Authentizität sollte den Romanen der zwanziger Jahre ihr Gewicht verleihen, »Lebensnähe« war die Kernforderung der Neuen Sachlichkeit. Belegt wurde das Authentische durch die reportagenhafte Annäherung an die Wirklichkeit oder durch deren autobiographische Erschließung." (Prümm) Erweckt der Romanbeginn auch den Eindruck, als hätten wir es mit einem unbeteiligten Er-Erzähler zu tun, der in einer personalen Erzählsituation den alptraumhaften Gang des Protagonisten auf das deutsche Generalkonsulat wiedergibt, so beeilt sich dieser Erzähler doch am Ende des ersten Kapitels, sich als Ich zu erkennen zu geben und dem Leser zu versichern, dass sich die "Chronik jener Jahre" nur dann zu Papier bringen lasse, "wenn ihr Verfasser sich unterwegs nicht weiter in der üblichen Anonymität versteckt hält".

Im Gegensatz zum ersten Roman, der mit seiner Montage aus Briefen und tagebuchartigen Aufzeichnungen ganz den Eindruck des unmittelbar Erlebten und Dokumentarischen erwecken will, setzt der Autor in "Generation ohne Väter" Mittel der Verfremdung ein. Merz entwirft ein grotesk überzeichnetes Psychogramm jenes Teils der "betrogenen" Generation, der, an den Exilorten isoliert und zur Tatenlosigkeit verdammt, verzweifelt nach politischen Strategien sucht, mit denen die Nazi-Diktatur zu überwinden wäre. Zugespitzt wird dies in der Figur Eule, einstmals ein hochbegabter Mathematiker aus Stuttgart, der einen Kreis von Anhängern um sich schart mit der Idee, die Welt durch die Errichtung von Käsefabriken von Blutvergießen und Krieg zu erlösen, und der am Ende wahnsinnig wird. Auch die politischen Querelen unter den Emigranten werden satirisch auf's Korn genommen, wenn eine politische Versammlung im Hause der wohlhabenden und dem Wilhelminismus verhafteten, wegen jüdischer Vorfahren aber von ihrem Ehemann ins Ausland abgeschobenen Dame B. stattfindet, die in einer Kuchenschlacht endet. Im Kontrast zu diesen "Großstadtsprößlingen", die an einem "Liliputplatz" hochfliegende Pläne machen, stehen die Figuren Elli und Frenn, von den anderen getrennt durch die Extremerfahrung der Konzentrationslagerhaft: "»Es gibt keine Brücke zwischen dem, der hinterm Draht gesessen hat, und dem, der nie dahinter war. [...]«"

Weist auch die Handlungskonstruktion des Romans gewisse Schwächen auf - das Sterben der beiden Frauenfiguren Elli Meissner und Madeleine hat einen Zug ins Melodramatische -, und wirkt die Charakterisierung der Geschlechterbeziehungen - eine Mischung aus Kameradschaftlichkeit, sexueller Freizügigkeit und paternalistischer Verniedlichung der Frau - auf die heutige Leserin bisweilen befremdlich, so gelingen Merz dennoch einige beeindruckende, atmosphärisch dichte und überraschende Ausdrucksformen für die "Krankheit" Exil (H. Spiel, "Die Psychologie des Exils", 1975). Das universellste aller Syndrome dieser Krankheit, das Heimweh, fasst Merz u.a. im Bild des Kindes, das man auf dem Buckel mitschleppt und das sich besonders an Festtagen wie Weihnachten nicht abschütteln lassen will, "mit durstigen Augen über die Schulter des Erwachsenen" späht.

Für sich selbst wollte der Exilant Konrad Merz dieses Gefühl allerdings nicht gelten lassen: "Wer rausgeschmissen wird, hat kein Heimweh". Er starb am 3. Dezember 1999 im niederländischen Purmerend, eineinhalb Jahre nachdem ihm seine Geburtsstadt Berlin anlässlich seines 90. Geburtstags doch noch eine späte Würdigung erwiesen hatte.

Titelbild

Konrad Merz: Generation ohne Väter. Roman.
Manesse Verlag, Berlin 1999.
250 Seiten, 17,40 EUR.
ISBN-10: 3351028733

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