Dunkler Distanzvermesser

Henning Mankells Roman "Tiefe"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jeder neue Roman des schwedischen Bestsellerautors Henning Mankell wird mit großer Spannung erwartet. Diesmal ermittelt nicht der weltberühmt gewordene Kommissar Wallander, und es gibt auch keinen literarischen Ausflug nach Afrika, wo der Autor seit längerer Zeit einen zweiten Wohnsitz hat.

Mankell begibt sich - und das ist ein Novum - auf historisches Terrain und erzählt eine Geschichte, deren Handlung zu Beginn des Ersten Weltkriegs angesiedelt ist. Bei einer Ruderpartie durch die Inselwelt der Schären im Südosten Schwedens sei ihm die Idee gekommen, ließ der 57-jährige Autor wissen.

Protagonist seines neuen Romans ist der Vermessungsingenieur und Marineoffizier Lars Tobiasson-Svartman, ein Spezialist der Distanzvermessung, der neue Seewege erkunden soll. "Seine frühesten Erinnerungen handelten von Entfernungen. Zwischen ihm selbst und seiner Mutter, zwischen seiner Mutter und seinem Vater, zwischen Unruhe und Freude", heißt es über die Hauptfigur, deren größter Wunsch es ist, die tiefste Stelle im Meer auszuloten.

Tobiassons berufliche Tätigkeit färbt auch auf den privaten Bereich ab, er führt ein zurückhaltendes Leben und wahrt auch in der zwischenmenschlichen Sphäre viel Distanz. Selbst seine Ehe mit Kristina, einer Frau aus gutem Hause, verläuft lieblos - Tobiasson setzt überall auf Abstand: "Er war ein einsamer Mensch, der ständig nach neuen Entfernungen suchte, um sie zu bestimmen oder abzubauen."

Diese introvertierte Eigenbrötlerei endet abrupt, als der Marineoffizier während einer Dienstfahrt in den Schären auf einer kleinen Insel eine einsame Fischerin entdeckt, die dort seit dem Tod ihres Mannes ein ähnlich abgeschottetes Leben führt wie Tobiasson.

Mit dem Auftreten jener Sara Fredrika kippt die bis dahin eher gemächlich dahinplätschernde Handlung und erhält die mankell-typischen Spannungsmomente. Der Protagonist verwandelt sich in einen besitzergreifenden Tyrannen, der nichts und niemanden an Fredrikas Seite duldet. Erst ist es ihre Katze, dann ein deutscher Deserteur - Tobiasson steigert sich in einen mörderischen Wahn und baut um sich herum ein Netz aus Lügen und Intrigen auf.

Daheim bei seiner Frau Kristina, von der wir zu Beginn des Romans schon erfahren, dass sie viele Jahre in einer Nervenklinik verbrachte, "erfindet" er als Vorwand, um sich immer häufiger auf die Insel absetzen zu können, eine streng geheime militärische Mission. Tobiasson führt ein gefährliches Doppelleben; der penible Distanzvermesser geht an die eigenen Grenzen, schafft es aber nicht, seine seelischen Untiefen auszuloten und treibt einem von Mankell dramatisch zugespitzten Untergang entgegen.

Mit dem Roman "Tiefe" hat Henning Mankell nicht nur erzählerisch die Seiten gewechselt - er hat einen leicht psychopathischen Einzelgänger zur Hauptfigur gemacht -, sondern sich auch über die Wallander-Krimis hinaus weiter entwickelt. Die Psyche des Täters und nicht die eigentliche Tat (vergleichbar mit den besten Werken von Patricia Highsmith) steht im Vordergrund. Der schwedische Bestsellerautor deutet unergründliche Tiefen an, die im Unbewussten des Menschen lauern und die mit keinem technischen Hilfsmittel auszuloten sind. Ein Roman, der eine beklemmende Atmosphäre evoziert und uns Henning Mankell auch als Meister abseits des Krimimilieus präsentiert.

Titelbild

Henning Mankell: Tiefe.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Verena Reichel.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2005.
364 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3552053433

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