Grenzen, Peripherien und Übergänge

Ein Sammelband erkundet die Ränder des sozialen Raumes

Von Elke BrünsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Elke Brüns

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kulturelle, soziale und politische Räume bestimmen sich über Grenzziehungen. Damit werden auch die Ränder des sozialen Raumes ständig neu konstruiert und austariert. Der Fokus des von Johanna Rolshoven herausgegebenen Sammelbandes liegt auf den Peripherien und den Übergangszonen zwischen Zentrum und Rand, Innen und Außen, aber auch zwischen Leben und Tod.

Der erste, sehr komprimierte Beitrag von Astrid Nettling zur "Figur des Übergangs in der westlichen und östlichen Philosophie" eröffnet das Themenspektrum in philosophisch-theoretischer Perspektive. Nettling setzt die platonisch geprägte Tradtion des Westens, die Philosophie als Übergang zu den ursprünglichen Seinsgründen begreift, der östlichen Weisheitslehre gegenüber, die die Unbeständigkeit des Seins in das Zentrum der Lehre (die eine der Leere ist) rückt. Erst die Moderne - im Westen als Bruch mit der Metaphysik, im Osten als Einbruch westlicher Denkweisen - setzt beide Traditionen in ein Austauschverhältnis, das sich als Figur des wechselseitigen Übergangs beschreiben lässt.

Die anschließenden Beiträge sind vorrangig empirisch orientiert, so der nachfolgende Aufsatz "Randbemerkungen" von Detlev Ipsen, der den Unterschied zwischen Rändern und Grenzen anhand dörflicher und städtischer Raumstrukturen aufzeigt. Während Grenzen in symbolischer oder materieller Hinsicht Räume voneinander trennen, bilden Ränder einen Zwischenraum, der Transformationen ermöglicht. Doch Ränder dienen nicht nur Übergängen und Wandlungen, sondern ebenso dem Verbergen, wie der engagierte und dabei theoretisch fundierte Beitrag "Der Zwischenraum als Lebenswelt: "'Sans-Papier' in der Schweiz" von Michael Widmer verdeutlicht. Die Anzahl der 'illegal' in einem Staat lebenden Personen ist naturgemäß auf Schätzungen angewiesen: für die Schweiz gehen diese von 150.000 bis 300.000 aus. 'Illegale Migranten' sind Teil der "unknown society", eines sozialen Zwischenraumes, der sich staatlicher Kontrolle entzieht. Als solche erzeugt die unsichtbare Gesellschaft der "gesichtslosen Menschen" Angst. Die damit einhergehenden Projektionen und Zuschreibungen werden von Widmer kritisch überprüft und widerlegt. Den umgekehrten Blick auf das Fremde, nämlich auf den Fremden als erwünschten, weil zahlenden Gast richtet Susanna Kolbe in ihrem Beitrag "Am Übergang: Fremde im Dorf und dörflicher Wandel". Kultur, so die Definition Mario Erdheims, ist das, was sich in der Auseinandersetzung mit dem Fremden vollzieht. Kolbe beschreibt die sukzessive Verwandlung eines Bauerndorfes in einen Kneippkurort, der das ganze Dorf einer "rite de passage" unterwirft. Herrschen zunächst noch undefinierte Übergangszonen, so haben sich am Ende für die fremden Gäste wie für die Einheimischen neue Raumstrukturen gebildet.

Grenzen werden nicht gegen die Lebenden, sondern auch gegen die Toten gezogen - dies macht der anregende Beitrag zu den "Wiedergängern" von Martin Scharfe deutlich. Der gefürchtete Wiedergänger, der als Grenzfrevler die Grenze zwischen Tod und Leben missachtet, erweist sich jedoch aus psychoanalytischer Sicht als Entlastungsfigur der Trauer, die dem Toten noch einmal eine Existenz verleiht. Scharfe macht deutlich, dass der Wiedergänger nicht nur als Figur obsoleter Vorstellungen und Legenden Interesse beanspruchen kann, sondern in seiner sublimierten Variante des Verständnisses der Kultur als "Gespräch mit den Toten" als "Figur aller Kultur" fungiert. In Zukunft erzeugt sich der Mensch vielleicht gar technologisch selbst als Grenzfrevler: Als den Tod überlebender Klon, so die abschließende Überlegung Scharfes, konstruiert sich der Mensch selbst als Wiedergänger.

Im Anschluss an Scharfe führt der wissenschaftskritische Beitrag von Colette Pétonnet auf den berühmten Pariser Friedhof Père-Lachaise. Dieser erweist sich als "Enzyklopädie" für einige ständige Besucher, denen die Gräber der Toten zum Anlass werden, sich über historische Vorgänge zu informieren, ihr Wissen auszutauschen und an andere Besucher weiterzugeben. Pétonnet bezeichnet diese dauerhaften Friedhofsgänger als Hüter des kollektiven Gedächtnisses; Träger einer an die afrikanische Kulturen erinnerenden oral history.

Den "Grenzen und Übergängen auf Mallorca" widmet sich in einem Feldversuch Christoph Köck. Vermutlich ist es unmöglich, etwas Neues über die "Ballermann"-, Promi- und Alternativtouristen-Insel zu erfahren, aber der ethnologische Blick auf die quasi karnevalesken Strukturen des Massentourismus wirkt doch erfrischend. Zu fragen wäre hier, ob sich die "Ferieninsel als ein destilliertes Stück Europa in einem Zustand grenzenbestimmender Milieuvielfalt" angesichts der vom Autor ebenfalls konstatierten Medialität des Urlaubsgeschehens als paradoxes Phänomen der Entgrenzung bei gleichzeitiger Grenzziehung deuten ließe.

Dem Übergang von "Girlpower zu Zauberpower" und damit auch der Vereinnahmung der riot-grrrls-Kultur durch den Mainstream widmen sich Manuela Barth und Barbara U. Schmidt. Leider erinnert diese Analyse - die populäre TV-Serien wie "Buffy" aber auch die erfolgreiche Jugendbuchserie "Harry Potter" umfasst - an die Frauenbildforschung der siebziger Jahre: Einmal mehr wird das Fehlen emanzipativer Weiblichkeitsbilder konstatiert. Gerade hier wären die Übergangszonen zwischen den Geschlechteridentifikationen von Interesse gewesen.

Der Band schließt mit dem Essay "Transparenzen". von Susanne Hauser. Hier bekommt am Beispiel moderner, auf Transparenz zielender Architektur der Begriff "Durchschaubarkeit" eine zumindest doppelte Bedeutung. Die mittels Glaskonstruktionen, aber auch anhand neuester, am Möbiusband orientierter Raumarchitektur geschaffene Durchsicht auf das Private greift auch auf den Körper über, der sich - so das Beispiel zweier New Yorker Börsenmakler - in seinem Wohnumfeld zunehmend an Datenflüssen orientiert. Transparenz nach Innen und Außen meint auch - "Big Brother" lässt grüßen - die wachsende Zurschaustellung des eigenen Lebens und damit die Verstärkung von Exhibitionismus und Voyeurismus.

Orientiert am Begriff des Randes steckt der Band ein weites Spektrum kultureller, sozialer und mentaler Raumerfahrungen ab. Damit bietet er in der Gesamtperspektive einen weit gefächerten interdisziplinären Aufriss zum Thema. Die Verbindung verschiedener Sphären sowohl in den einzelnen Beiträgen als auch in der Gesamtkonzeption des Bandes gehört zu den Stärken des Buches. Denn erst hierdurch wird deutlich, wie verschiedene kulturelle und soziale Räume einander bedingen und formen. Die Beiträge sind durchweg verständlich und anschaulich geschrieben. Damit bietet der Band Anregungen, Ränder und Grenzen genauer in den Blick zu nehmen.

Titelbild

Johanna Rolshoven (Hg.): Hexen, Wiedergänger, Sans-Papiers. Kulturtheoretische Reflexionen zu den Rändern des sozialen Raumes.
Jonas Verlag, Marburg 2003.
158 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-10: 3894453184

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch