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Elke Monika Bauer legt eine neue historisch-kritische Ausgabe von Lessings "Emilia Galotti" vor

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lessings Trauerspiel "Emilia Galotti" wurde von den Zeitgenossen große Aufmerksamkeit geschenkt; stereotyp fällt immer wieder das Stichwort von Lessings neuem "Meisterwerk". Gleichwohl mischen sich von Anfang an unüberhörbare Zweifel in die Zustimmung. Unmittelbar nach der Braunschweiger Uraufführung vom 13. März 1772 entwickelt sich in der zeitgenössischen Literaturkritik ein Meinungsbild, das in seinen Argumenten gegenwärtigen Stellungnahmen sehr nahe kommt. Der Literaturkritiker und -theoretiker Lessing steht nach Meinung der Zeitgenossen in deutlichem Widerspruch zum Dramatiker Lessing. Insbesondere die "Hamburgische Dramaturgie", so scheint es, belastet ihr angeblich eigenes theatralisches Produkt - das Trauerspiel "Emilia Galotti". Bei näherer Betrachtung möglicher Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der theoretischen Schrift und dem Drama wird deutlich, dass die Grundsätze der "Hamburgischen Dramaturgie", die zwischen den ersten Plänen und der Ausarbeitung der "Emilia Galotti" entstand, zweifellos nicht für Lessings Trauerspiel in jeder Hinsicht verbindlich gemacht werden können; vor allem im Hinblick auf die sozialpragmatische Wirkung ist eine deutliche Differenz zwischen den theoretischen Ausführungen der "Dramaturgie" und der dramaturgischen Praxis der "Emilia" zu beobachten.

Am Anfang der gewichtigeren Dokumente zur zeitgenössischen Rezeptionsgeschichte steht das bekannte Urteil des jungen Johann Wolfgang von Goethe, der in einem Brief an Johann Gottfried Herder Mitte Juli 1772 bemängelt, in der "Emilia Galotti" sei "alles nur gedacht", am Ende die mit scharfer Feder formulierte Wertung Friedrich Schlegels, der das Trauerspiel als "Exempel der dramatischen Algebra" apostrophierte, als ein "in Schweiß und Pein producirte[s] Stück des reinen Verstandes", das man bewundern müsse, ohne von ihm wirklich berührt zu werden. Schlegels Charakterisierung zeichnet den Weg vor, innerhalb dessen sich die Rezeption des Dramas bis ins 20. Jahrhundert hinein bewegte; gelobt wird auch heute noch die kalkulierende Intelligenz, mit der Lessing seine Handlung entwickelt hat, kritisiert wird dagegen vielfach das Übergewicht der Wirkungsorientierung, die die Entfaltung eines nuancierteren psychologischen Dramas verhindere.

Lessings Trauerspiel "Emilia Galotti" gehört zweifelsohne zu den am meisten interpretierten Texten der deutschsprachigen Literatur. Peter-André Alt konstatiert eine "prosperierende, kaum noch überschaubare Einzelforschung", Horst Steinmetz hat angesichts der Fülle an unterschiedlichen Deutungen die Fragwürdigkeit des Anspruchs demonstriert, die ursprüngliche Absicht des Autors rekonstruieren zu können, und Monika Fick hat die Unmöglichkeit unterstrichen, sich einem endgültig 'richtigen' Verstehen zu nähern: "Jeder Satz des Dramas ist hundertfach um- und umgewendet worden, jede These hat die Antithese herausgefordert, jede Argumentationskette hat ihre Widerlegung durch einen gegensinnigen Begründungszusammenhang gefunden. Vielleicht wird erst durch diese Forschungsgeschichte das Stück zu einem Rätsel. Denn wie für Minna von Barnhelm gilt zunächst auch für Emilia Galotti: Das Werk scheint an und für sich von großer Klarheit. [...] Zugleich aber bewirkt diese Klarheit, daß Gegensätze schroff hervortreten."

So sehr sich die Forschung in den letzten Jahren auf die Deutung des Dramas konzentriert hat, blieb der Umstand beklagenswert, dass über einhundert Jahre seit der letzten historisch-kritischen Ausgabe des Trauerspiels 1886 im zweiten Band der dritten Auflage der Lessing-Ausgabe bei Lachmann/Muncker vergangen sind. Dieses Defizit wurde nun durch die von Elke Monika Bauer besorgte neue historisch-kritische Ausgabe der "Emilia Galotti" aufgehoben. Ergebnis der intensiven und akribischen Auseinandersetzung Bauers mit den Quellen ist eine Ausgabe, die sich in drei große Bereiche gliedert: Der im ersten Teil edierte Text folgt - wie im Übrigen bereits schon die von Klaus Bohnen für den Deutschen Klassiker Verlag edierte Studienausgabe aus dem Jahr 2000 - der Erstausgabe vom März 1772, wobei Orthografie und Interpunktion - im Gegensatz zu Bohnens Edition - glücklicherweise nicht an die heutige Rechtschreibung angepasst sind. Durch gründliche Analysen des Erstdruckes sowie der 1948 im Mendelssohn-Nachlass in Chicago wieder gefundenen Druckvorlage, die wertvolle Einblicke in die Entstehung des Stücks und den Druckverlauf der ersten beiden Ausgaben bietet, konnten der Druckverlauf geklärt und bislang zweifelhafte Stellen eindeutig als Druckfehler identifiziert und emendiert werden. In einem Apparatteil findet sich eine ausführliche Beschreibung der zeitgenössischen Handschriften und Drucke sowie ihrer Abhängigkeiten zueinander. Ein genetischer Variantenapparat macht zudem die Entwicklung einzelner Textstufen gut nachvollziehbar. Jeder Eingriff seitens der Herausgeberin wird eigens vermerkt und begründet.

Neben den eher technisch-editionsgeschichtlich orientierten Kapiteln des ersten Teils gewährt diese Ausgabe in ihrem zweiten Teil aber auch einen gründlichen Einblick in die Entstehung, Drucklegung und zeitgenössische Wirkung des Trauerspiels. Besonderes Augenmerk legt die Herausgeberin auf die Einordnung der Rezeptionszeugnisse, weswegen es etwa ein Unterkapitel über das Pressewesen des ausgehenden 18. Jahrhunderts gibt. Ein Verzeichnis der Aufführungen zu Lebzeiten Lessings enthält darüber hinaus bisher unbekannte Vorstellungen, die nicht in Ursula Schulz' Standardwerk "Lessing auf der Bühne. Chronik der Theateraufführungen 1748-1789" verzeichnet sind, und gibt Auskunft über die Besetzung sowie das Begleitprogramm.

Der dritte Teil der Ausgabe besteht aus einem Dokumentationsteil: edierte Rezeptionszeugnisse des Zeitraums 1757-1781, d. h. von der ersten Nennung der Vorarbeiten zur "Emilia Galotti" bis zum Sterbedatum Lessings (15. Februar 1781). Die innerhalb dieses Teils abgedruckten Dokumente umfassen in einem ersten Bereich sowohl Briefe als auch andere Bemerkungen von Zeitgenossen zu Lessings Trauerspiel, die aber nicht zeitnah veröffentlicht wurden. Der zweite und weitaus größere Bereich bietet die im genannten zeitlichen Rahmen publizierten Dokumente zur "Emilia Galotti". Die Dokumente sind erfreulicherweise durch ein detailliertes Register am Ende der Ausgabe leicht zugänglich. Ein 'Verzeichnis der ausgewerteten Dokumente' enthält zudem bibliografische Informationen über die ausgewerteten Zeitungen, Zeitschriften und Einzelwerke sowie eine Standortangabe des jeweils verwendeten Exemplars. Schließlich komplettiert ein Personenverzeichnis die Ausgabe.

Mit einigem Recht verweist Elke Monika Bauer darauf, dass ihre Edition als eine Art Grundlagenforschung zu Lessings Trauerspiel zu verstehen sei, die nicht interpretiere, sondern Material zur Interpretation zur Verfügung stelle. Das ist sicherlich auch gut so, wenn man die stupende Zahl an Deutungsansätzen zu Lessings Drama bedenkt. Zweifelsohne aber werden zukünftige Interpretationen durch die von Bauer zur Verfügung gestellten Dokumente nur an Format gewinnen können.

Titelbild

Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Historisch-kritische Ausgabe.
Herausgegeben von Elke Monika Bauer.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2004.
897 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3484108487

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