Ein Labyrinth ist kein Irrgarten

Sorgfältig wie ein Architekt, so hat Marc Höpfner seinen Roman "Trojaspiel" konstruiert

Von Sandra SchäferRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Schäfer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"In einem Labyrinth gibt es keine Wegkreuzungen. Es gibt nur einen Gang, der sie durch die Gesamtheit des Raumes führt. Es gibt keine Entscheidungen zu treffen, nur diejenige, ob sie eintreten wollen oder nicht. [...] Es ist eine Reise in einer scheinbar endlos langen und verschlungenen Sackgasse, wenn Sie so wollen, und darin gleicht dieses Bauwerk möglicherweise dem Leben ..."

Dies ist die Definition, die das klassische kretische Labyrinth deutlich vom neuzeitlichen Irrgarten unterscheidet. Das Labyrinth enthält weder Entscheidungs- noch Handlungsaufforderungen außer der einen: Soll man es betreten oder nicht? Und darin ähnelt das Labyrinth möglicherweise auch so manchem Buch.

Ein wenig Mut ist nötig, um ein Labyrinth zu betreten. Es ist "[e]ine Struktur, die für sich selbst steht und die trotzdem ihre Wirkung hat: Man ist ein anderer, wenn man das Labyrinth verläßt." Nach diesem Prinzip hat Marc Höpfner seinen Roman "Trojaspiel" konstruiert.

Weniger ein historischer Roman ist es, den er hier vorlegt, als vielmehr ein etwas zu bunt gewordenes Kaleidoskop. Historische Eindrücke unterschiedlicher Orte zu unterschiedlichen Zeiten und eine Vielzahl von Personen sind es, die das Buch beinahe bersten lassen vor Fabulierkunst. Und dennoch ist der Titel diesem Buch zum Strukturgesetz geworden und prägt sogar die Sprache.

T. L. wird 1899 in Odessa, dem "Tor zum Westen" geboren und wächst im Armenviertel Moldavanka, "der Stadt der Diebe", inmitten merkwürdiger Hausbewohner auf. Sein Leben ist eng verbunden mit dem Leben der Hebamme Sonja Kotusova, des Rabbis Birnbaum - und besonders mit dem der "Gentleman-Unterweltgröße" Mischka Japonchik, dem "König der Moldavanka". Schnell werden T. L.s besondere Begabungen offenbar und ihm gelingt, was sich vor ihm niemand zugetraut hätte: Er zeichnet einen Plan der komplexen Kalksteintunnel im Untergrund von Odessa. Als sein Stiefvater ermordet wird, muss er als Hauptverdächtiger aus Odessa fliehen und gelangt schließlich nach Rom und Deutschland, wo hundert Jahre später vier sehr unterschiedliche Menschen gemeinsam seiner Fährte folgen.

In dem mysteriösen New Yorker Hotel "Palace of Troy" begegnen sich der junge Deutsche Tonio Ludwig und der Hotelbesitzer Mahgourian. Ludwig ist im Besitz eines Planes, der ihn vermuten lässt, dass sich ein riesiges und ungewöhnlicherweise dreidimensionales Labyrinth in den verschlossenen oberen sechs Stockwerken des Hotels befindet. Gemeinsam mit dem Hotelbesitzer begibt er sich auf die Spur des Baumeisters mit den vielen Namen, denen nur die Initialen T. L. gemeinsam sind. Begleitet von der verstörten Laura und dem desillusionierten "Professor" führt sie die Suche zunächst in Ludwigs Heimatstadt und anschließend nach Rom. Von unterschiedlichen Strategien geleitet, Geheimnisse mal bewahrend, mal offenbarend, kommen sie der Person, die sich hinter den Initialen verbirgt, immer näher. Und Mahgourians wie Ludwigs Leben erweisen sich mehr und mehr als mit dem T. L.s verbunden.

"Das Labyrinth ist nicht der düstere Kerker. Nicht für jeden. Es kann auch schützen. Es zieht eine Grenze zur Welt." Insofern ist das Labyrinth-Motiv die Verbindung zwischen den vier Reisenden und dem geheimnisvollen Baumeister: Sie alle haben Verletzungen und Familientragödien erlitten, Schuld auf sich geladen, hoffen auf ihre "Engelsrettung", auf Heilung - sie suchen Schutz. Und eben diesen Zweck hatte das in Vergils "Aeneis" geschilderte "Trojaspiel": Es war ein Ritual der jungen Trojaner, um durch das Abreiten labyrinthischer Bahnen "eine symbolische Mauer zu ziehen" und dadurch die Stadt uneinnehmbar zu machen, ein Schutzritual also.

Jedes Wort in diesem Roman ist von Gewicht und jede Spur, die gelegt wird, wohl durchdacht. Sieben Fotografien von Rom sind es, die T. L. als Spur hinterlassen hat und der Ludwig und Mahgourian nun folgen - so, wie das antike kretische Labyrinth sieben Umgänge hat, auf das sich das Trojaspiel in Vergils "Aeneis" bezieht, dem wiederum nachempfunden das 'troiae ludus' in Rom unter Sulla, Caesar und Augustus bis hin zu Claudius zelebriert wurde. Und so, wie sich der Roman in sieben Kapiteln entwickelt.

Kaum eine symbolische Aufladung des Labyrinth-Motivs, die Höpfner nicht wenigstens anklingen lässt: Sogar auf Dornröschen und die Nibelungensage finden sich leise Anspielungen, die Stadt ist ebenso ein Labyrinth wie die menschliche Psyche, das Erzählen selbst wird zum Ariadne-Faden, das Labyrinth ist assoziert mit dem Lebensweg und der Suche nach Identität, die Reise auf den Spuren T. L.s hat Anklänge an eine Pilgerfahrt auf dem 'Jerusalemweg' - auch dies nur ein Synonym für das mittelalterliche Kirchenlabyrinth, wie hier z. B. das Labyrinth von Chartres explizite Erwähnung findet. Und dort, wo das klassische Labyrinth seinen Namen erhalten hat, endet der Gang durch das Labyrinth für die Protagonisten: auf Kreta.

Marc Höpfners "Trojaspiel" wird sicherlich zwei vollkommen unterschiedliche Lesergruppen ansprechen: Jene, die sich auf Spurensuche begeben wollen, nach Motiven Ausschau halten, die Literatur interpretieren wollen, ebenso wie jene, die einfach gemütlich schmökern und sich von einer Geschichte zunehmend in ihren Bann ziehen lassen wollen.

Anekdoten, Geschichten und Exkurse reihen sich aneinander. Der Leser wird eingeweiht in Mumifizierungstechniken und armenische Erzähltraditionen, erfährt so manches über Mathematik, herausragende Gelehrte und Kriminalistik, geht auf eine Reise durch Italien und besichtigt Rom, gerät in die Wirren der ersten russischen Revolution und des Ersten Weltkriegs - um nur beispielhaft einige der mannigfaltigen Themen herauszugreifen, die auf 530 Seiten angesprochen und gestreift werden.

Bisweilen verirrt sich die Leselust jedoch in diesen Exkursen. Sie mindern das Tempo der Erzählung gelegentlich beträchtlich. Und nur die immer wieder eingestreuten Anspielungen und Hinweise auf Geheimnisse des Hauptstranges der Erzählung lassen diese eingeschobenen Geschichten lediglich zu Stolpersteinen, aber nicht zu Sackgassen für den Leser werden, bis die Erzählung den roten Faden wieder aufnimmt. "Der Weg ist verschlungen, aber er wird an sein Ziel führen" - das wagt der Leser besonders in der ersten Hälfte des Romans so manches Mal nur noch leise zu hoffen. Der Erzählstrang nähert sich dem Zentrum T. L. und entfernt sich wieder, spiralförmig wie das kretische Labyrinth, um letztendlich doch in jenes Zentrum zu münden.

Auch hieran wird deutlich, wie sorgfältig der Autor diesen Roman komponiert hat. Man bemerkt seine Vorliebe für verschachtelte Sätze. 'Labyrinths-Vokabular' blitzt auf, wenn sich Gedanken verirren, Menschen in Sackgassen verschwinden, niemand sich in "nüchterner Geometrie" verläuft. Und der Ton, den Höpfner anschlägt, ist ebenso vielschichtig, wie es die Diskurse sind, die sich um das Labyrinth-Motiv ranken: mal wissenschaftlich, mal dramatisch, mal märchenhaft.

"Das Talent, lose Fäden, widersprüchliche Ideen oder ganz unerhörte Lebenszeugnisse zu verbinden und zu einer organischen Fabel zu verweben", das gelingt nicht nur dem mit Sheherazade verglichenen Mahgourian. Auch Marc Höpfner selbst stellt mit diesem Roman seine "Kraft der Fabulierkunst" unter Beweis.

Jeder der Suchenden verlässt das Labyrinth verändert; so hat sich das mutmaßliche Motto des Romans bewahrheitet: "es ist am Ende nicht die Rückkehr, die zählt, sondern daß der Reisende sein Ziel erreicht hat."

Titelbild

Marc Höpfner: Trojaspiel. Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2005.
537 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3627001214

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