Jeder irgendwohin

Colson Whitehead hält die Maschine New York am Laufen

Von Maja RettigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maja Rettig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Stadt New York als einen Mythos darzustellen, ist alles andere als originell. Wir wissen schon lange, dass diese meistbesungene, totfotografierte Metropole sich für den Nabel der Welt hält - der Inbegriff von Urbanität, Modernität und "pulsierendem Leben", den sie vorstellen soll, ist längst Klischee. Ein gewisses Misstrauen kommt deshalb auf, wenn Colson Whitehead, ambitionierter Amerikaner in der erklärten Nachfolge Don DeLillos und letztes Jahr mit seinem Roman "John Henry Days" auch in Deutschland viel beachtet, zunächst in genau diese Kerbe zu schlagen scheint.

Sein schmaler Text "Der Koloß von New York", ein Buch ohne Gattungsbezeichnung, präsentiert "Eine Stadt in dreizehn Teilen", und der erste Teil scheint wenig mehr zu sein als flotter Reisejournalismus. Ein New Yorker Ich, das "hier geboren und damit für jeden anderen Ort verdorben" ist, schickt sich an, durch "seine" Stadt zu führen - darin durchaus die Grenze hochhaltend zwischen drinnen und draußen, New Yorker oder leider nicht. "New Yorker sind Sie, wenn ..." ist eine anfangs häufig gebrauchte Formel. Da hilft auch der Hinweis nicht, es gebe acht Millionen New Yorks: Auch diese Erkenntnis ist nurmehr banal.

Aber der Anfang trügt; schnell wird der Text erstaunlich. Nicht, weil die einzelnen Teile dann doch Titel tragen wie "Central Park", "Broadway", "Brooklyn Bridge", keineswegs deshalb entfaltet er eine große, rhythmisierte Allgemeingültigkeit. Die übertrifft nämlich noch diese bekanntesten aller Sehenswürdigkeiten. Bezeichnend für Whiteheads Projekt sind eher Titel wie "Regen", "Morgens", "Subway". "Die Stadt" wird fortan auch nur noch so, nicht mehr bei ihrem Namen genannt. (Konsequenterweise verzichtet er auf ein Kapitel "Ground Zero", unterlässt überhaupt jeden Hinweis auf den 11. September.) Es geht ihm um Urbanität an sich, um das Stadterleben unendlich vieler Einzelner, darum, wie die Stadt die Wahrnehmung unserer intimsten Momente konstituiert.

Dafür schafft Whitehead ein innovatives Durcheinander von Stimmen. Die Personalpronomen wechseln satzweise: "Wahrscheinlich müßte man sich bei irgendwem entschuldigen. Du bist gar nicht nach Hause gekommen. Vielleicht bemerkt ja niemand, daß sie die gleichen Sachen anhat. Keiner macht eine Bemerkung über die seltsamen Male an seinem Hals." Zu Hauptfiguren kommt es nicht, nicht einmal zu Figuren, alle werden eingefangen, die Summe der städtischen Individuen. Nicht Geschichten werden erzählt, sondern Schnappschüsse von Momenten blitzen auf.

Diese sind, in nur wenigen Worten, hinreichend detailliert, um glaubhaft für Menschen zu stehen, und dabei doch exemplarisch, universell. Es sind Momente der Angst, Hoffnung, Niederlage, Momente des Erschreckens, alltäglicher Hetze oder seltener Beschwingtheit. Momente, wie sie überall täglich erlebt werden, in New York vielleicht potenziert, weil diese Stadt für alle, die sie wählen, zur entscheidenden Bewährungsprobe wird.

Was in diesen Momenten existenzieller Befindlichkeiten in den Blick rückt, ist eben die Stadt: So wird der Anblick einer Straße zum Sinnbild eines Gefühls, in der Erinnerung dann zu diesem Gefühl selbst. Da wird einer von der großen Angst gepackt und geht in ein Café, in dem er noch nie vorher war: "Und jetzt ist der Laden auf Jahre hinaus ein Denkmal dieses Tages." Oder man kommt an Häusern vorbei, in denen man einmal gewohnt hat: Inbegriffe früherer Ichs.

Den Gedanken vom Stadtplan der individuell magischen Orte, die fast nie die offiziellen Denkmäler sind, treibt Whitehead weiter, indem er die Stadt personalisiert. Nicht nur wir sehen die Stadt, gerichtet durch unsere Empfindungen, sondern die Stadt schaut zurück: "Ein Bürgersteig, der von einer Nacht weiß, die man besser vergißt." Die Stadt vergisst nichts und verwischt nach außen hin die Spuren, verschwiegene Zeugin unserer intimsten Momente. "Die Stadt kennt Sie besser als jeder lebende Mensch, weil sie Sie gesehen hat, als Sie allein waren."

Hinter allem steht ein großer allgemeiner Vergänglichkeitsschmerz. Ständig muss sich alles ändern, in einer Stadt, in einem Leben. Geschäfte wechseln, Beziehungen, Wohnungen, Arbeitsstellen. Die Stadt erinnert einen ständig daran, sie fügt sich zu einer Topografie der Erinnerung, für jeden anders, nur für den Einzelnen sichtbar markiert. Überall lauern Abschiede, selbst da, wo man noch nichts davon spürt. "Irgendwann waren Sie dem letzten Mal näher als dem ersten Mal, ohne es zu wissen. Sie wußten nicht, daß Sie sich jedesmal, wenn Sie die Schwelle überschritten, verabschiedeten."

Whitehead findet starke Bilder und einen überzeugenden Rhythmus für diesen Chorus der Vergänglichkeit; Nikolaus Stingl hat es gerade klanglich und idiomatisch überzeugend ins Deutsche gebracht. Am Ende ist auch das New York-Klischee vergessen. Wenn es doch auftaucht, dann bewusst: Die "großartige Skyline" sind dann "arrogante Gebäude" oder auch eine "Versammlung von Arschlöchern. Vielleicht kennst du sie von Postern und aus dem Fernsehen. Sieht aus wie eine Filmkulisse, eine falsche Fassade. Hinter diesen schimmernden Häuserfronten Sperrholz und Farbeimer."

Titelbild

Colson Whitehead: Der Koloss von New York. Eine Stadt in dreizehn Teilen. Travelreihe.
Übersetzt aus dem Englischen von Nikolaus Stingl.
Carl Hanser Verlag, München 2005.
152 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3446205926

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch