Europäische Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit

Zu Herbert Jaumanns neuem Handbuch

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Aspekte der Gelehrten- und Wissenskultur sind im Bereich aktueller literatur- und kulturhistorischer Forschungen zur Frühen Neuzeit von zentraler Bedeutung. (Vgl. dazu exemplarisch die auf einem Wolfenbütteler Barockkongress basierenden, kürzlich von Barbara Mahlmann-Bauer herausgegebenen Sammelbände: "Scientiae et artes". Die Vermittlung alten und neuen Wissens in Literatur, Kunst und Musik. 2 Bde. Wiesbaden 2004.) Dabei ist eine Grunderfahrung der Forschung zum Zeitraum vom 15. bis ins 18. Jahrhundert, dass hier nahezu jedes Thema von vornherein die Kenntnis mehrerer Disziplinen und Wissensbereiche aus länderübergreifender Perspektive erfordert. Dieser Komplexität frühneuzeitlicher Verhältnisse sucht Herbert Jaumann durch ein neuartiges Handbuch Rechnung zu tragen, das u. a. Literatur-, Rechts-, Wissenschafts- und Philosophiehistorikern zur ebenso schnellen wie grundlegenden Orientierung dienen soll. Der erste, nun vorliegende Band des zweiteilig konzipierten Nachschlagewerks bietet ein "Bio-bibliographisches Repertorium", das ein beachtliches, überfachlich umfassendes Spektrum frühneuzeitlicher gelehrter Autorinnen und Autoren zusammenführt. Den in Vorbereitung befindlichen zweiten Band des Handbuchs, der nach Angaben des Walter de Gruyter Verlags im Jahr 2006 erscheinen soll, bildet ein ergänzendes Glossar zu zentralen Begriffen und Konzepten frühneuzeitlicher Gelehrtenkultur.

Die Artikel des vorliegenden Handbuchteils sind durchgängig informativ und basieren ganz überwiegend auf neuerem Forschungsstand. Sie umreißen jeweils wichtige biografische Fakten und nennen zentrale Schriften und Textausgaben der behandelten Autorinnen und Autoren. Den Abschluss der Artikel bilden weiterführende Literaturhinweise. Angaben zur jeweiligen Verankerung der Gelehrten in ihren Disziplinen und zu den damit verbundenen Wissenskonzepten fallen wohl bewusst knapp, zuweilen rudimentär aus, da der geplante zweite Band des Handbuchs hier offenbar weiterführend wirken soll.

Breit vertreten sind erwartungsgemäß zentrale Felder frühneuzeitlicher Gelehrsamkeit wie Theologie, Philosophie, Medizin, Jurisprudenz, die "new sciences" und andere Wissenschaften. Erfreulicherweise finden aber auch die hermetischen Wissensfelder der Magie, der Alchimie und der Astrologie die ihnen nach aktuellem Forschungsstand gebührende Beachtung im Spektrum frühneuzeitlicher Wissenskulturen. (Zur programmatischen Bedeutung dieser Konzepte in aktuellen Forschungen zur Frühen Neuzeit vgl. u. a. Anne-Charlott Trepp, Hartmut Lehmann (Hg.): Antike Weisheit und kulturelle Praxis in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2001.)

Die Artikel des neuen Handbuchs weisen recht unterschiedliche Vorzüge und Defizite auf. Auf einige dieser Artikel sei daher exemplarisch verwiesen. Pointiert geschrieben sowie vom Material her anregungsreich aufbereitet ist etwa der Beitrag über den Mediziner, Botaniker und Dichter Albrecht von Haller. Die neuere Haller-Forschung wird hier allerdings nur begrenzt verzeichnet. So fehlt etwa ein Hinweis auf die Studie von Sandra Pott, die dem für die Gelehrtenforschung zentralen Problem nachgeht, dass Haller als gläubiger Christ gerade in seinen naturwissenschaftlichen Experimenten den Prinzipien eines "methodologischen Atheismus" folgt. (Vgl. Sandra Pott: Medizin, Medizinethik und schöne Literatur, Berlin/New York 2002 sowie die Rezension dieser Studie: "Entchristianisierung und Rechristianisierung des Wissens" in literaturkritik.de 01/2004.)

Der barocke Universalgelehrte Athanasius Kircher wird als Philosoph, Mathematiker und Polyhistor vorgestellt. Im Handbuch-Artikel fehlt mithin ein ausdrücklicher Hinweis auf Kirchers überragende Stellung in der Musiktheorie des 17. Jahrhunderts: Kircher präsentiert seine - auf Raimundus Lullus basierende - musiktheoretische Konzeption, die er im unmittelbaren Kontext seiner naturkundlichen Studien entfaltet, vor allem (aber nicht nur) in seiner zentralen Schrift "Musurgia universalis sive Ars magna consoni et dissoni" (1650). Auf den sehr guten Kircher-Artikel in der neuen Ausgabe des zentralen musikologischen Nachschlagewerks "Musik in Geschichte und Gegenwart" (MGG, Stuttgart 2003) wird nicht verwiesen, obwohl dieses musikwissenschaftliche Lexikon in anderem Zusammenhang in Jaumanns Handbuch durchaus angeführt wird. Kirchers besonderes, kulturgeschichtlich bedeutsames Interesse an Konzepten frühneuzeitlicher Hermetik (Magie, Alchimie, Astrologie), das ihn als Jesuiten mehrfach in Konflikt mit seiner Kirche brachte, wird gleichfalls nicht erwähnt.

Im Artikel zu Andreas Vesalius, der als Begründer der neuzeitlichen Anatomie gilt, wird dessen Verhältnis zu dem antiken Anatomen Galenus in schablonenhafter Weise auf reine Gegnerschaft reduziert. Tatsächlich griff beispielsweise nicht nur Galenus, sondern gelegentlich auch noch Vesal bei seinen Sektionen auf Tierkadaver zurück. Die reiche kulturelle Wirkung der durch Vesalius neu belebten Anatomie in diversen Feldern frühneuzeitlicher Literatur, Texttheorie, bildender Kunst u. a. bleibt durch den Artikel unerschlossen. (Vgl. dazu neuerdings Lutz Dannenberg: Die Anatomie des Text-Körpers und Natur-Körpers, Berlin/New York 2003 sowie die Rezension dieser Studie: "Entchristianisierung und Rechristianisierung des Wissens" in literaturkritik.de 01/2004.)

Die bis heute weithin als berühmt-berüchtigte Hexenverfolger der Frühen Neuzeit geltenden Autoren Jean Bodin und Benedikt Carpzov werden im Handbuch als Rechtsgelehrte vorgestellt. Im Fall Bodins wird auch das von diesem verfasste, kulturgeschichtlich einflussreiche Handbuch für Hexenrichter ("De la démonomanie des sorciers", Paris 1580) angeführt. Auf die in der Forschung kontrovers diskutierte Position des protestantischen Rechtsgelehrten Carpzov im Kontext der Hexenverfolgungen findet sich dagegen keinerlei Hinweis.

Die weibliche Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit erscheint in Jaumanns Handbuch deutlich unterschätzt bzw. unterrepräsentiert, sodass gerade in diesem Feld in vieler Hinsicht überholte Sichtweisen durch das Handbuch fortgeschrieben werden. Erwartungsgemäß findet sich zwar eine Darstellung der im 17. Jahrhundert berühmten Dichterin und religiösen Schriftstellerin Anna Maria van Schurmann. Die hochgelehrte protestantische Meditationsdichterin, Mystikerin und Lyrikerin Catharina Regina von Greiffenberg, die im österreichischen Barock als "ein Wunder ihrer Zeit" verehrt wurde, sucht man dagegen im Handbuch vergebens. Auch die in den Naturwissenschaften, in den hermetischen Künsten sowie in weltlicher und geistlicher Literatur und Kultur gleichermaßen bewanderte, iberoamerikanische Nonne und Barockdichterin Sor Juana Inés de la Cruz, die so genannte "zehnte Muse" Mexikos, fehlt im neuen Handbuch frühneuzeitlicher Gelehrtenkultur. Gleiches gilt erstaunlicherweise auch für die Künstlerin und Naturforscherin Maria Sibylla Merian (1647-1717) sowie für die "femme de lettres" und Philosophin Marie de Gournay (1565-1645), die gelehrte Adoptivtochter und Vertraute Montaignes. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht mehr, dass auch gelehrte Vertreterinnen der frühneuzeitlichen "Querelle des femmes" wie etwa Moderata Fonte (1555-1592) und Lucretia Marinella (1571-1653) im neuen Gelehrtenlexikon keinen Eintrag haben. Dagegen findet sich jedoch ein Artikel über die ebenso produktive wie wirkungsreiche englische Schriftstellerin und Dramatikerin Aphra Behn (1640-1689).

Auch die im frühen 18. Jahrhundert führende, gelehrte Pietistin Johanna Eleonora Petersen-von Merlau ist mit einem eigenen Artikel vertreten. Diese Autorin hatte beispielsweise erheblichen Anteil an der Ausformulierung der damals theologisch ebenso brisanten wie einflussreichen Lehre von der "Wiederbringung aller Dinge" (Apokatastasis panton), welche die einstige Errettung und Erlösung aller Wesen durch die Liebe Gottes verkündete und mithin - im Widerspruch zu kirchlichen Lehren - die Möglichkeit ewiger Höllenstrafen ausschloss. Unter dem Aspekt der Theodizee vermochte die hier vertretene Vorstellung auch den Philosophen Leibniz (sowie später Klopstock und Goethe) zu faszinieren. Jedoch wird die Entfaltung dieser Lehre - in einem weiteren Artikel des Handbuchs - nahezu ausschließlich dem Ehemann der Pietistin, Johann Wilhelm Petersen, zugeschrieben. Ähnliches gilt auch für die mit der Philosophengruppe der Cambridge Platonists sowie mit Leibniz brieflich korrespondierende, von der Mystik der jüdischen Kabbala inspirierte englische Philosophin Anne Conway. Diese Autorin findet lediglich im Artikel über den Neoplatoniker Ralph Cudworth beiläufig Erwähnung.

Trotz der erwähnten Einschränkungen bietet jedoch bereits der nun vorliegende, erste Teil des neuen Handbuchs der Forschung ebenso wie einem interessierten breiteren Publikum wesentlich erleichterte Orientierungsmöglichkeiten im facettenreichen Feld europäischer Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit. In Verbindung mit dem - im zweiten Teil des Unternehmens - geplanten Glossar zentraler Begriffe und Konzepte dieser Gelehrtenkultur werden sich weitaus umfassendere, nutzbringende Anwendungsmöglichkeiten des Handbuchs erschließen.

Titelbild

Herbert Jaumann: Handbuch Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit. Bio-bibliographisches Repertorium.
De Gruyter, Berlin 2004.
721 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3110160692

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