Wider die kanonisierte Herabsetzung

Volker Dehs' Jules Verne-Biografie

Von Walter WagnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Wagner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Göttinger Literaturwissenschaftler und Verne-Spezialist nennt den Verfasser von "In 80 Tagen um die Welt" "den profiliertesten Vertreter des literarischen Tourismus" - ein Etikett, das nur einen Aspekt des facettenreichen Œuvres des Franzosen bezeichnet und zugleich auf die Unmöglichkeit verweist, sein Schreiben auf eine prägnante Formel zu reduzieren. Jules Verne lässt sich nicht auf den Punkt bringen, so könnte das Fazit der Lektüre von Volker Dehs' umfangreicher Biografie lauten, die sich mit großer Sachkenntnis und der nötigen inneren Distanz dem Vater der Science-Fiction annähert. Bemerkenswert, weil nicht selbstverständlich, scheint in diesem Zusammenhang der Umstand, dass der Autor gekonnt wissenschaftliche Diktion mit belletristischer Eleganz verquickt, weshalb die Lesereise durch die Monografie keineswegs ermüdet, sondern vielmehr neugierig macht auf den in seinem kulturhistorischen Umfeld porträtierten Romancier.

Der aus gutbürgerlichen Verhältnissen stammende Jules Verne wurde 1828 in der Hafenstadt Nantes geboren, wo er nach dem Abitur Jura zu studieren beginnt. Mit dieser Wahl beugt er sich dem väterlichen Wunsch, um den Weg in eine finanziell sorglose Zukunft zu beschreiten. Immerhin besitzt Verne senior eine florierende Anwaltskanzlei, die der Sohn eines Tages übernehmen soll. Jules, der als Student von den familiären Zuwendungen abhängt, schließt seine Ausbildung in Paris ab, beginnt indes parallel dazu seine schriftstellerische Karriere. Zunächst scheint es, als würde in dem Mann aus der Provinz ein Dramatiker heranreifen, der mit seinen Stücken bescheidene Erfolge zu verbuchen vermag. Beiträge für die Zeitschrift "Musée des Familles" zeigen andererseits, dass der angehende Literat durchaus erzählerisches Talent besitzt. Die Bekanntschaft mit dem Verleger Pierre-Jules Hetzel im Herbst 1862, der das Manuskript von "Fünf Wochen im Ballon" annimmt, macht ihn schließlich zu einer der herausragendsten Persönlichkeiten der französischen Literatur. Von nun an wird Jules Verne jährlich drei, später zwei Romane liefern, wofür ihm Hetzel im Gegenzug ein fixes Gehalt anbietet. Auf diese Weise kehrt der verlorene Juristen-Sohn in die geordneten Verhältnisse einer bürgerlichen Existenz zurück, die ihm im Gegensatz zu Balzac oder Flaubert ein gesichertes Auskommen und später sogar Wohlstand beschert. Als Verfasser einer zweckorientierten Erbauungsliteratur - und als solchen verkauft ihn Hetzel - wird Verne hingegen als trivial abqualifiziert und bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts von der Kritik ignoriert. Trotz einer ständig wachsenden Anhängerschaft und insgesamt hoher Verkaufszahlen schmerzt Verne zeitlebens diese "kanonisierte Herabsetzung", an der letztlich die ersehnte Aufnahme in die Académie française scheitert.

Der so fruchtbaren Beziehung zwischen Hetzel und Verne verdanken wir zwar ein Werk, das laut Dehs Balzacs "Comédie humaine" und Zolas "Rougon-Macquart" ebenbürtig ist, sich in textgenetischer Hinsicht allerdings grundlegend von diesen unterscheidet. "Hetzels bisweilen penetrante Interventionen" gestalten nämlich den Verlauf und Ausgang der Abenteuer mit, wodurch Vernes Entwürfe bisweilen beträchtliche Veränderungen erfahren. In diesem Zusammenhang geben gerade seine postumen Romane, die teilweise oder zur Gänze von seinem Sohn Michel geschrieben wurden, den Literaturwissenschaftlern Rätseln auf und scheinen Barthes' und Foucaults These vom Verschwinden des Autors vorwegzunehmen.

Ungeachtet Hetzels autoritärem Gebaren (oder vielleicht auch aufgrund desselben) erschreibt sich Verne einen Namen, der seit dem Bestseller "Reise um die Welt in 80 Tagen" (1873) nicht mehr zu ignorieren ist und ihn zum meistübersetzten Autor der französischen Literatur macht. Die Quantität der Übertragungen vermag freilich nicht über die großen Mängel fremdsprachiger Ausgaben hinwegzutäuschen. Bedenkt man außerdem, dass die Ausgangstexte meist gekürzt wiedergegeben wurden, so begreift man Dehs' Diktum vom "literarischen Kannibalismus". Erschwert wird das Studium der Verne'schen Schriften zudem durch das Fehlen einer verbindlichen textkritischen Ausgabe, die in der Lage wäre, das Wirrwarr der "Außergewöhnlichen Reisen" zu ordnen.

Neben erhellenden Einblicken in die Werkstatt des Autors eröffnet Dehs' Biografie einen dezenten Zugang zu Vernes Privatleben. Sein problematisches Verhältnis zu seinem Sohn Michel wie auch die Ehe mit Honorine werden mit Takt aufgearbeitet, wobei gängige Fehleinschätzungen und mythische Überhöhungen entsprechend den vorhandenen Quellen korrigiert werden. Zu kurz kommt auch nicht der im Rampenlicht stehende Schriftsteller, der in Prozesse verwickelt wird und ab 1888 sogar als Stadtrat von Amiens fungiert. Für ungewollte Aufmerksamkeit sorgt schließlich das von Gaston Verne verübte Attentat auf den berühmten Onkel. Dem Opfer werden dabei mehrere Schussverletzungen zugefügt, von denen es sich nie mehr ganz erholt. 1903 schließt Jules Verne mit "Herr der Welt" sein letztes Manuskript ab, ein Jahr später zieht er sich aus der Öffentlichkeit zurück. Als er 1905 einem lang andauernden Leiden erliegt, nimmt man nicht nur in Frankreich, sondern in der ganzen Welt Notiz von seinem Ableben. Um seine nachgelassenen Werke kümmert sich der geschäftstüchtige Sohn, der neben ihrer Veröffentlichung erste Filmprojekte anregt, die 1919 wieder eingestellt werden. Aber auch ohne Michels eigennützige Sorge um die Bewahrung des väterlichen Erbes hat Jules Vernes Literatur längst ihren Siegeszug um den Erdball angetreten und mutiert zum Erzieher und Begleiter mehrerer Generationen.

Wie lebendig das Interesse am Schöpfer der "Außergewöhnlichen Reisen" geblieben ist, zeigt nicht nur die Fülle französischsprachiger Arbeiten, die im Gedenkjahr 2005 erschienen sind, sondern auch der hier vorgestellte Band. Alles in allem ist diesem neuen Verne-Buch ungeteiltes Lob auszusprechen und von daher der Leserschaft unbedingt zu empfehlen. An seinem kritischen Gehalt und der Fülle des aufgearbeiteten Materials werden sich künftige Biografen sicherlich zu orientieren haben. Dem interessierten Laien sowie dem Fachmann gibt Dehs darüber hinaus ein Kompendium an die Hand, das einen dauerhaften Platz unter den Verne-Publikationen verdient.

Titelbild

Jules Verne. Biographie.
Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf 2005.
547 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3538072086

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