Und Gott strahlte vor Weltlichkeit

Joseph Winigers Feuerbach-Biografie würdigt den atheistischen Philosophen, der von Gott eine hohe Meinung hatte

Von Ludger LütkehausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ludger Lütkehaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 1. Dezember 1848 begann im Heidelberger Rathaussaal eine Reihe von "Vorlesungen für's Volk". So berichtet jetzt, mit einer ironischen Anspielung auf eine berühmte, immer wieder falsch zitierte Formel von Karl Marx, Josef Winigers Biografie Ludwig Feuerbachs. Den freilich muss man heute als Autor und Menschen mit Hilfe seines Biografen erst einmal wiederentdecken. Als am 28. Juli 2004, dem 200. Geburtstag, das Feuerbach-Jahr zu eröffnen gewesen wäre, da war er kaum noch präsent. Seither hat sich die Szene mit einigen Symposien und Gedenkveranstaltungen immerhin etwas belebt. In Josef Winigers "Ludwig Feuerbach" ist jetzt die erste größere Biografie seit 1909 zu begrüßen, sieht man von Hans-Martin Sass' hochkonzentrierter Rowohlt-Monografie ab.

Das Thema jener "Vorlesungen für's Volk" war das "Wesen der Religion". Ludwig Feuerbach, um diese Zeit der populärste deutsche Philosoph, galt als "Spinoza Deutschlands", ergo als Atheist, auch als politisch und gesellschaftlich Radikaler, als Sozialist. Schon die Tatsache, dass er nicht in der Universität vortrug, sondern seine Unabhängigkeit vom regierungstreuen akademischen Zunft- und Kastenwesen betonte und vor einem sozial gemischten, zu mehr als der Hälfte aus Handwerkern und Arbeitern bestehenden Publikum las, trug ihm den Vorwurf einer "kommunistischen, auf alle Stände sich erstreckenden Lehrweise" ein. Spinozas Lehre, deren Pantheismus als "höfliche" Form des Atheismus Gott und die Natur gleichgesetzt hatte, schien er unhöflicherweise sogar zu überbieten.

Religion als Seufzer der bedrängten Kreatur

Gleichwohl erschöpfte sich das "Wesen der Religion" in diesen "Vorlesungen für's Volk" nicht in jenem "Opium des Volks", auf das der ehemalige Feuerbach-Schüler Karl Marx die Religion reduziert hatte. Das gab der Droge auch bei ihm den gewissen Wert, dass sie zugleich der "Seufzer der bedrängten Kreatur", das "Gemüt einer herzlosen Welt", der "Geist geistloser Zustände" sei. Feuerbach selbst machte Gebrauch von der bei Hegel erlernten Methode der "Aufhebung", die das Negieren mit dem Konservieren und Höherheben verband, dem dialektischen Dreiklang par excellence, mit dem man Traditionen ebenso enterben wie beerben konnte. In hymnischen Worten, die noch bei Marx anklangen, pries er die Religion als "die feierliche Enthüllung der verborgenen Schätze des Menschen, das Eingeständnis seiner innersten Gedanken, das öffentliche Bekenntnis seiner Liebesgeheimnisse".

Einer der zahlreichen Hörer, ein seinerzeit noch unbekannter Dichter, hat in bestrickenden Worten festgehalten, was bei Feuerbach mit dem Gott und dem Menschen geschah: "Da ist Ludwig Feuerbach, der bestrickende Vogel, der auf einem grünen Aste in der Wildnis sitzt und mit seinem monotonen, tiefen und klassischen Gesang den Gott aus der Menschenbrust wegsingt!" - so der 30-jährige "grüne Heinrich" Gottfried Keller. Er ließ keinen Zweifel daran, dass er Zeuge eines sich in Gesangesform vollziehenden Zerstörungswerkes geworden war.

Anders aber als ein halbes Jahrhundert zuvor, als Jean Pauls toter Christus vom Weltgebäude herab die unfrohe Botschaft verkündet hatte, dass kein Gott sei; anders mehr noch als ein halbes Jahrhundert später, als der Pastorensohn Friedrich Nietzsche in der Rolle eines toll gewordenen Menschen sich und seine Leser in die Depression des Gottesmordes stürzte, beginnt es bei Keller dank dem Gesang des philosophischen "Zaubervogels" auf hoffnungsvoll grünem Ast in der entgotteten Menschenbrust zu leuchten: "Die Welt glänzte in stärkerem und tieferem Glanze." Gott strahlt vor Weltlichkeit.

Keller bezeugt so nicht nur die überragende Bedeutung Feuerbachs um die Mitte des Jahrhunderts, in einer Zeit, in welcher der Stern Hegels niedergeht und der Schopenhauers erst langsam aufgeht. Der autobiografische Roman Kellers, dessen zweite Fassung freilich die dunkleren Töne des Gesangs verstärkt, spricht vor allem davon, dass es beim Atheismus Feuerbachs nicht um eine depressive Verlustgeschichte, sondern um die Intensivierung des Lebens und die Aneignung der Welt, um die Wiedergewinnung der Natur und die Selbstgewinnung des Menschen geht.

Religion und Theologie werden in Anthropologie zurückübersetzt, weil nach der Logik der Projektion und Reprojektion der Gott, der den Menschen "nach seinem Bilde" schuf, umgeschaffen wird in die kreativste Bildschöpfung des Menschen: "homo homini deus". Von radikalaufkärerischer Priestertrugtheorie war keine Rede mehr. Schwerlich konnte man höher von Gott und dem Menschen denken als der Atheist und Humanist Feuerbach.

Das hat freilich nicht verhindern können, dass der "grüne Ast" Feuerbachs nur für kurze Zeit lebendig war. Die Restauration nach den Karlsbader Beschlüssen, deren Gottesgnadentum man nicht mit menschlichem Gotteswesen und göttichem Menschenwesen kommen durfte, hat Feuerbach verfemt; schon dem brillanten Autor der frühen "Gedanken über Tod und Unsterblichkeit" wurde trotz eines berühmten Vaters die institutionelle Verankerung in der Universität verschlossen. Feuerbach ist ein markanter Zeuge dafür, dass Philosophie und Universitätsphilosophie zweierlei sind.

Aber auch auf der revolutionären Gegenseite war Feuerbach nicht auf Dauer wohlgelitten. Sosehr die Hegel'sche Linke in ihm für die Kritik der Religion als die "Voraussetzung aller Kritik" (Marx) ihre Leitfigur fand, so sehr bemühte sie sich, ihn hinter sich zu lassen. Der lange Zeit Marx zugeschriebene Satz "Es gibt keinen anderen Weg für euch zur Wahrheit und Freiheit, als durch den Feuerbach", diese geradezu messianische Verkündigung musste inzwischen Feuerbach selbst als Autor zugeschrieben werden. Marx' Thesen über Feuerbach schlugen ihn schließlich umstandslos den praxisfernen Philosophen zu, die die Welt nur verschieden interpretiert hätten. Ohne sie zu verändern - so die, Feuerbachs Intentionen durchaus verändernde, Marx-Interpretation.

Zu seinem Begräbnis kam die Arbeiterschaft in Massen

Tatsächlich hatte Feuerbach trotz seines entschiedenen revolutionären Engagements schon früh erkannt, dass allein mit voluntaristischen Parolen noch keine Republik zu machen war. Auch die Fundamentalismusgefahr im Sozialismus mit "Anlage zum Fanatismus und Despotismus" hat er früh gesehen. Der Dogmatismus des alten Glaubens sollte nicht just in der Revolution wiederkehren. Die sozialdemokratisch organisierte Arbeiterbewegung hat ihn trotzdem bei seinem Begräbnis 1872 mit einer massenhaften Teilnahme in geradezu Sartre'schen Dimensionen geehrt.

Philosophisch gab es kurze, aber nicht allzu eindrückliche Wiederbelebungen: durch die dialogische Philosophie etwa, als deren früher Begründer Feuerbach mit seiner freilich sensualistisch und erotisch konkretisierten Bestimmung des menschlichen Gattungswesens als Du und Ich, Weib und Mann firmieren kann. "Religion haben" heißt: "an Andere denken". Die DDR-Philosophie - das ist eines ihrer Ruhmesblätter! - hielt Feuerbach in ihrer Besinnung auf das humanistische Erbe trotz aller dialektischen Aneignungsgymnastik die Treue.

In der eindrucksvollen, noch unabgeschlossenen Feuerbach-Ausgabe des Akademie-Verlages und dem Werk Werner Schuffenhauers, des Nestors der Feuerbach-Forschung, hat sich das dokumentiert. Von Karl Löwith über Alfred Schmidts Würdigung der "emanzipatorischen Sinnlichkeit", des "anthropologischen Materialismus" Feuerbachs bis zu Hans-Martin Sass hat es auch im Westen nicht an renommierten Feuerbach-Lesern gefehlt.

Und nun also Winiger. Der Untertitel, den seine Biografie trägt, Denker der Menschlichkeit, könnte humanistisch Gutgemeintes befürchten lassen. Aber diese Biografie meidet die falschen Töne. Sie ist bei aller Sympathie für diesen eindrucksvollen Charakter nicht identifikatorisch. Im Ganzen ist das Buch so gut lesbar geschrieben wie gründlich recherchiert, keine Pioniertat, aber eine sehr respektable Leistung auf avanciertem Forschungsstand.

Vorzüglich ist die Einbeziehung des historischen Hintergrundes: beste "Aufbau"-Tradition. Das Existenzielle, das Psychologische kommt etwas zu kurz. Von Feuerbachs konsequent praktizierter "emanzipatorischer Sinnlichkeit", seinen Liebesgeschichten, in denen er dem sexuell anarchischen berühmten Vater kaum nachstand, seiner unehelichen Vaterschaft (Plural?) würde man gerne noch Genaueres wissen, überhaupt von seinem beträchtlichen Temperament, das sich hinter seinem "klassischen" Stil eher verbirgt. Die Galle war seine Muse, wenn er über die politische Restauration oder auch die gelegentlich wenig gottgleichen Menschen schrieb.

Das religionsphilosophische Kernthema erhält bei Winiger den gebührenden Rang. Aber es wird auch nicht übersehen, wie unterschiedlich, öfters widersprüchlich die affirmativen und die kritischen Impulse in Feuerbachs Aufhebungsversuch der Religion sind. Die Antwort auf die Frage, welches Subjekt sich denn da in welchen Gott projizierte, bleibt schwankend. Wunsch und Furcht, die Selbststeigerung menschlichen Wesens im Gott und eine Theorie der an die Stelle des Gottes tretenden "Natur" stehen einander entgegen.

Die Zeitläufte könnten aber wieder günstiger für Feuerbach werden, gerade weil sich allerorten eine fundamentalistische Religiosität regt, die dringend der Humanisierung bedarf. Feuerbachs Rückübersetzung der Theologie in Anthropologie ist aktueller denn je. Er ist der Analytiker jener Größenfantasien, die den Namen Gottes trugen und heute den einer menschengemachten Zeit nach dem Menschen tragen. Er beharrt darauf, dass der Mensch mehr ist als bloß ein Gesicht am Himmel.

Anmerkung der Redaktion: Der Artikel erschien zuerst am 31. Dezember 2004 in "DIE ZEIT". Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung.

Titelbild

Josef Winiger: Ludwig Feuerbach. Denker der Menschlichkeit. Eine Biographie.
Lambert Schneider Verlag, Darmstadt 2011.
373 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783650240309

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