Bemerkungen zur Flaubert-Rezeption deutscher Autoren

Zum 125. Todestag des Dichters

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Oft bietet ein Gedenktag den willkommenen Anlass, einen Autor der Vergessenheit zu entreißen, der er unverdientermaßen anheimgefallen gefallen ist; Flaubert hat einen solchen Anlass nicht nötig. Als er am 8. Mai 1880 in seinem Landhaus in Croisset vermutlich an einem Schlaganfall starb, war er längst ein anerkannter Romancier, obschon der Beifall eher von Kollegen und dem wegweisenden Teil der Kritik kam als vom breiten Publikum, und seit seinem Tod ist sein Ruhm so gewachsen und international geworden, dass er heute ganz selbstverständlich zu den kanonisierten Autoren der Weltliteratur gehört. In der Literaturgeschichte führt kein Weg an ihm vorbei.
Davon zeugt auch seine Rezeption in Deutschland. Anfangs konnte es so scheinen, als sähe man dort in ihm wenig mehr als einen Vorläufer von Zola; denn um dessen Werk und Theorie wurde zum großen Teil die Realismus- bzw. Naturalismusdebatte geführt. Aber bald stellte sich heraus, dass 'Realismus' nicht der einzige und wahrscheinlich nicht der ergiebigste Aspekt ist, unter dem Flauberts Werk gewürdigt zu werden verlangt. Bereits Zola erlebte bei seiner ersten persönlichen Begegnung mit Flaubert eine Enttäuschung: Er hatte geglaubt, einem Realisten zu begegnen, und traf auf einen unverbesserlichen Romantiker, von dem er hören musste, dass "Madame Bovary" geschrieben worden sei, um den Realisten eins auszuwischen, um zu beweisen, dass man die Welt, wie sie ist, darstellen und dabei ein großer Stilist sein könne. Der Wunsch, den Stil über Stoff und Gehalt triumphieren zu lassen, ist Ausdruck von l'art pour l'art, jener Konzeption von Zweckfreiheit der Kunst, wie sie in der französischen Romantik in Abgrenzung vom bürgerlichen Utilitarismus propagiert worden ist.

Das ist der Punkt, an den Nietzsche bei seiner Flaubert-Lektüre anknüpft, wobei die Selbstzeugnisse mehr Denkanstöße geben als die fiktionalen Werke. Er sieht in ihm einen Prediger des "Artisten-Evangeliums", für den die Kunst nicht nur zweckfrei ist, vielmehr die eigentliche Aufgabe des Lebens. Flaubert dient als Beispiel für die Antinomie von Kunst und Leben und für das Opfer des letzteren zugunsten der ersteren, ein Opfer, das gutzuheißen Nietzsches Lebensphilosophie nicht erlaubt. Er gehöre zu den "Artisten", die aus "Haß gegen das Leben" und nicht aus "Überfluß an Leben schöpferisch geworden" seien: "In Goethe zum Beispiel wurde der Überfluß schöpferisch, in Flaubert der Haß: Flaubert, eine Neuausgabe Pascals, aber als Artist, mit dem Instinkt-Urteil aus dem Grunde: 'Flaubert est toujours haïssable, l'homme n'est rien, l'œuvre est tout' ... Er torturierte sich, wenn er dichtete, ganz wie Pascal sich torturierte, wenn er dachte - sie empfanden beide unegoistisch ... 'Selbstlosigkeit' das décadence-Prinzip, der Wille zum Ende in der Kunst sowohl wie in der Moral." Es handelt sich um eine der Umwertungen herkömmlicher Werte, wie man sie von Nietzsche gewohnt ist: Ein Autor, der sich selbst verleugnet und seine Person dem Werk unterordnet, leidet an einem unbewussten Minderwertigkeitsgefühl und an Vitalitätsschwäche; er ist ein décadent.

Die Analogie zwischen der asketischen Lebensführung des religiösen Denkers Pascal und der einsamen Schreibarbeit des Romanciers Flaubert scheint zwar weit hergeholt, doch sind kühne Assoziationen bei Nietzsche im Zusammenhang mit Flaubert nicht außergewöhnlich. So vergleicht er ihn mit einem anderen Künstler, der für ihn das Muster eines décadent ist, mit Richard Wagner, bei dem wie bei Flaubert der "Haß auf das Leben" Herr geworden sei, und er spricht von "jener typischen Verwandlung, für die unter Franzosen Gustave Flaubert, unter Deutschen Richard Wagner das deutlichste Beispiel ist, wie der romantische Glaube an die Liebe und die Zukunft in das Verlangen zum Nichts sich verwandelt, 1830 in 1850." Das ist in nuce ein Kapitel der europäischen Geistesgeschichte um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Weniger anspruchsvoll klingt der Hohn auf die Frauengestalten Wagners und Flauberts: "Würden Sie es glauben, daß die Wagnerschen Heroinen samt und sonders, sobald man nur erst den heroischen Balg abgestreift hat, zum Verwechseln Madame Bovary ähnlich sehn! - wie man umgekehrt auch begreift, daß es Flaubert freistand, seine Heldin ins Skandinavische oder Karthagische zu übersetzen und sie dann, mythologisiert, Wagner als Textbuch anzubieten." Eine schwer nachvollziehbare Einebnung von Unterschieden! Der Ehebruch allein kann es doch nicht sein, der es erlaubt, die französische Kleinbürgerin neben Isolde oder Sieglinde zu stellen; und auch zwischen der Karthagerin Salammbô und Wagners Heroinen sind signifikante Ähnlichkeiten schwerlich auszumachen.

Scharfsichtiger ist Nietzsches Polemik, wenn er in einem sprachlich und gedanklich recht verschachtelten Aphorismus über die "Psychologen Frankreichs" deren "bittres und vielfältiges Vergnügen an der bêtise bourgeoise" aufs Korn nimmt: "Flaubert [...], der brave Bürger von Rouen, sah, hörte und schmeckte zuletzt nichts andres mehr - es war eine Art Selbstquälerei und feinerer Grausamkeit." Doch die Klagen würden langweilig, und vorzuschlagen sei eine psychologische Analyse der instinktmäßigen jesuitischen Verschlagenheit, mit der das Mittelmaß sich gegen die Ausnahme zur Wehr setze: "da habt ihr [Frankreichs Psychologen] ein Schauspiel, gut genug für Götter und göttliche Boshaftigkeit! Oder noch deutlicher: treibt Vivisektion am 'guten Menschen' [...] an euch!" Der Aphorismus läuft darauf hinaus, dass die "bêtise bourgeoise" letztlich lebensklüger sei als der Verstand zum unbewussten psychischen Abwehrapparat derjenigen gehöre, die unter ihr litten; deswegen die Aufforderung zur Selbstanalyse. Dass die Verbissenheit von Flauberts Kampf gegen die für ihn allgegenwärtige Dummheit mit simplen Ärger über sie nicht erklärt werden kann, ist offensichtlich. Nietzsche ist ein früher Gewährsmann dafür, dass eine im weiteren Sinn psychoanalytische Beschäftigung mit Flaubert aufschlussreich sein kann. Freilich setzt Sartres voluminöse psychologisch-soziologische Flaubert-Studie "Der Idiot der Familie" andere Akzente.

Aus den negativen Urteilen Nietzsches zu folgern, er habe Flaubert gering geschätzt, wäre verfehlt. Er hat sich an ihm gerieben, gerade weil er nicht blind für die Bedeutung des französischen Autors war, und das zu einem frühen Zeitpunkt; die Äußerungen stammen aus der Mitte der 1880er Jahren, als sogar "Madame Bovary" noch nicht ins Deutsche übersetzt war (erste deutsche Übersetzung 1892). Verglichen mit der französischen Literatur, lag die deutsche in einem Dornröschenschlaf. Kein Wunder, dass Nietzsche wie viele europäische Intellektuelle nach Paris schaute. Im November 1887 schrieb er an Peter Gast: "Der II. Band des 'Journal des Goncourt' ist erschienen. Die interessanteste Novität. Er betrifft die Jahre 1862-65; in ihm sind die berühmten dîners chez Magny auf das handgreiflichste beschrieben, jene Diners, welche zweimal monatlich die damalige geistreichste und skeptischste Bande der Pariser Geister zusammenbrachten (Sainte-Beuve, Flaubert, Théophile Gautier, Taine, Renan, die Goncourts, Schérer, Gavarni, gelegentlich Turgenjew usw.). Exasperierter Pessimismus, Zynismus, Nihilismus, mit viel Ausgelassenheit und gutem Humor abwechselnd; ich selbst gehörte gar nicht übel hinein "Mehr Anerkennung lässt sich kaum erwarten; doch es folgt der Umschlag: 'ich kenne diese Herrn auswendig, so sehr daß ich sie eigentlich bereits satt habe. Man muß radikaler sein: im Grunde fehlt es bei allen an der Hauptsache - 'la force'." Also: Die Pariser Literaten sind zwar Geistesverwandte, aber ohne die eigene Radikalität und "force" - dass sich für die Bezeichnung dessen, was an den französischen Intellektellen vermisst wird, eine französische Vokabel einstellt, ist fast eine kleine - unfreiwillige? - Pointe.
Nach Frankreich schaute auch der junge Heinrich Mann und versuchte, die große französische Romantradition des 19. Jahrhunderts mit Flaubert als ihrer Summe und als ihren Höhepunkt für sich fruchtbar zu machen. Er war gewiss nicht so unbedarft, ein 'deutscher Flaubert' werden zu wollen, aber vermutlich hätte ihm eine solche Bezeichnung auch nicht gänzlich missfallen, und mit Zustimmung dürfte er gehört haben, was Gottfried Benn 1931 in einer Geburtstagsrede mit Rückblick auf die Jahrhundertwende über ihn gesagt hat: Er habe den Speer dort aufgenommen, "wo Flaubert ihn liegen ließ", und "das Phänomen der Kunst in ein anderes Volk und verwandeltes Zeitalter" gebracht. In seiner Rede bezieht sich Benn u.a. auf Heinrich Manns Essay "Gustave Flaubert und George Sand" (1905), der als das herausragende Dokument deutscher Flaubert-Rezeption gelten darf und in dem sich der Autor mit dem Ästheten Flaubert weitgehend identifiziert, allerdings gleichzeitig die soziale und politische Rolle der Ästheten in Frage stellt. Die Lebensfeindlichkeit des Ästhetizismus sieht er ganz wie Nietzsche, dessen Urteile über Flaubert er zumindest teilweise kennt; doch nicht durch amoralischen Lebensrausch soll sie überwunden werden, sondern durch Menschlichkeit. George Sand wird die Rolle der Erlöserin zugewiesen, obwohl die Erlösung bestenfalls ansatzweise gelingt. Der Briefwechsel zwischen George Sand und Flaubert wird zur Hauptquelle, um Gegensätze wie "l'art pour l'art" - "art social", Geist - Herz, Lebensverneinung - Lebensbejahung, Pessimismus - Optimismus, Einsamkeit - Gemeinschaft, Geistesaristokratie - Demokratie u. ä. herauszustellen.

Der Flaubert-Essay lässt bereits Heinrich Manns Entwicklung vom Ästheten zum politisch engagierten Schriftsteller erahnen, über die sein Zola-Essay (1915) Rechenschaft ablegt. Dort heißt es: "Flaubert hat nicht gekämpft, er hat verachtet; und die Idee erwuchs ihm nicht aus der Arbeit, sondern aus der Form. Er stellte nicht die arbeitende Menschheit dar, nur die Dummheit der Menschen. Er liebte nicht sein Jahrhundert, nicht die Mitlebenden [...] er, romantischen Empfindungsprunk zu tief noch verpflichtet, hatte sich wohl durchgerungen bis zur Wirklichkeit, aber unter Opfern, aber mit Murren. Er würde die Wirklichkeit gern verlassen haben, er verließ sie, wo es anging. Dem alten, unfruchtbar gewordenen Spiritualismus entwachsen, verharrte er in Skepsis und gelangte unter allen zum tiefsten Einblick in das Nichts. So wert war ihm niemals die Wirklichkeit, die er doch bemeisterte, daß er ihr die Hervorbringung neuer Ideale zutraute. An solchen aber schuf Zola. Flaubert schrieb um des Schreibens willen. Wozu sonst? [...] Flaubert war berühmt, war dabei ohne Feierlichkeit und hilfsbereit, ein guter Mann, und schuf doch um sich her weder Bewegung noch Wärme. Gealtert, war er nicht einmal ehrwürdig. Denn der Ästhet hat kein Alter. Autorität, Ehrwürdigkeit, jede hohe menschliche Wirkung ist bei dem Moralisten ...". Deutlicher kann die Absage an den Ästhetizismus und an das einstige Vorbild kaum ausfallen. Heinrich Mann ist beim 'art social' angekommen.

Sein Bruder jedoch sah das anders. In den "Betrachtungen eines Unpolitischen", der kulturkonservativen Kampfschrift, die zu nicht unerheblichem Teil eine Polemik gegen Heinrich ist, charakterisiert er diesen als einen westlich orientierten "Zivilisationsliteraten" und einen "geistig in Frankreich naturalisierten romancier mit deutscher Wirklichkeit", der trotz gegenteiliger Beteuerung dem Ästhetizimus insofern noch immer huldige, als er der deutschen Realität, die er als Ästhet verachte, französische Muster überstülpe, um sie mit den der französischen Literatur entlehnten Versatzstücken darzustellen. Möglicherweise hat Thomas Mann, um sich von seinem Bruder und Rivalen zu unterscheiden, den französischen Einfluss und damit auch den Flauberts auf sich selbst heruntergespielt, obwohl er Flaubert nachweislich gut kannte und schätzte. Vom Französischen sprach er anerkennungsvoll als der "Sprache Flauberts", und dessen selbstquälerisches Ringen mit dieser Sprache dürfte ihm, dem Schreiben erklärtermaßen schwerfiel, vertraut vorgekommen sein. Auch die Mannsche Künstler-Bürger-Problematik ist bei Flaubert vorhanden: Was ein ständiger Refrain Flauberts ist, wiederholt Tonio Kröger, ein Künstler mit "artistischem Nervenkostüm": "Die Bürger sind dumm". Aber der entscheidende Unterschied ist, dass Tonio Kröger für den Bürger "nur ein klein wenig Verachtung" empfindet und dass größer als die Verachtung die sentimentalische Bejahung bürgerlicher Banalität ist. Dagegen bleibt die Darstellung des Bürgers in Heinrich Manns frühen Werken viel näher bei Flaubert: der Bürger als die hässliche Verkörperung der Verbindung von Dummheit und Unmoral. Noch die Gestalt des wilhelminischen Untertans Diederich Heßling steht zum Teil in der Tradition Flaubert'schen Bürgerhasses.

"Der Ästhet", so heißt es in Heinrich Manns Flaubert-Essay, "ist eine der letzten Ausdrucksformen des Bürgers". Dass der Ästhetizismus wegen seiner dialektischen Abhängigkeit vom Bürgertum an Bedeutung verliert, wenn es mit diesem zu Ende geht, liegt auf der Hand, und ein Erlahmen der Flaubert-Rezeption nach dem Ersten Weltkrieg scheint folgerichtig. Anlässlich von Flauberts 50. Todestag glaubt Heinrich Mann konstatieren zu können, dass Flauberts "mächtiger Name" sich den Nachkommen zwar noch immer aufzwinge, aber er "nicht mehr ganz ihresgleichen und teilweise doch wohl verdunkelt" sei. Flaubert "gehörte dem dichtesten Teil der Bürgerzeit an; einige seiner gewohntesten Vorstellungen und Begriffe sind mit ihr dahingegangen." Eine dieser Vorstellungen sei der Ruhm, an den Flaubert dem eigenen Zeugnis zufolge glauben musste, um Dauerhaftes zu schaffen. Aber der Ruhm, so Heinrich Mann, sei seither durch den Erfolg ersetzt worden. Abgesehen davon, dass schon Flaubert selbst darüber geklagt hat, dass die schreibende Zunft nur an den "succès" dächte - wo verläuft die Grenze zwischen Nachruhm und anhaltendem Erfolg? Flauberts Werke sind nicht nur berühmt geblieben, sondern sie werden auch weiterhin gekauft und gelesen, weil er, "vom Wahn der Perfektion geschlagen" - so eine selbstironische Bemerkung in einem Brief an George Sand -, ihnen die dauerhafte Form gegeben hat, die sie befähigte, das bürgerliche Zeitalter unbeschadeter zu überleben als die meisten anderen Werke des neunzehnten Jahrhunderts. Vielleicht kommt das Verblassen von Problemen und Fragestellungen, die eher der Person des Autors als den Texten gelten, der Beschäftigung mit diesen sogar zugute.

Anders als Zola, dessen Romane eine unverkennbare Gleichartigkeit aufweisen und größtenteils miteinander verknüpft sind, hat sich Flaubert nicht wiederholt und ein trotz des geringen Umfangs vielseitiges Œuvre geschaffen, das entsprechend unterschiedlich rezipiert worden ist und immer noch wird. Den entscheidenden Durchbruch zu Erfolg und Ruhm brachte bereits der Erstling, die 1856 als Fortsetzungsroman in einer Zeitschrift und 1857 als Buch veröffentlichte "Madame Bovary". Das Debut prägte das Bild, welches sich das Publikum vom Autor machte, der unter solcher Festlegung litt: "Bovary, ich kann es nicht mehr hören; der Name schon bringt mich auf. Als ob ich nichts anderes gemacht hätte!", so eine briefliche Klage aus dem letzten Lebensjahr. Bis heute ist er für viele der Autor der "Madame Bovary" geblieben, wobei die deutsche Rezeption durch eine Besonderheit gekennzeichnet ist: Spricht man vom deutschen Realismus, dann spricht man von Fontane, und spricht man von Fontane, dann spricht man von "Effi Briest". Ein Vergleich zwischen dem bekanntesten deutschen Ehebruchsroman und dem bekanntesten französischen liegt nahe und ist beliebt, um die nationalliterarisch unterschiedlichen Ausprägungen von Realismus zu veranschaulichen. Er hat sich literaturwissenschaftlich und vor allem literaturdidaktisch bewährt. (Oft ist Tolstois "Anna Karenina" die Dritte im Bunde.) Er fördert aber die Tendenz, natürlich nicht bei Literaturkennern, aber beim Durchschnittspublikum, Flaubert - wie auch Fontane - als Autor nur eines Buches wahrzunehmen.

Dabei ist es keineswegs ausgemacht, dass "Madame Bovary" Flauberts lesenswertester Roman ist; es gibt Wertungen von prominenter Seite, die anders klingen. Zwar unterstreicht der sehr junge Heinrich Mann 1896 die literarhistorische Bedeutung von "Madame Bovary" mit schwer zu überbietender Emphase: Sie "ist von mehreren Literatengenerationen studiert worden wie die Bibel von Theologen studiert wird. Ihr Geist und Teile ihrer unvergleichlichen Lebensfülle sind in unzählige Bücher übergegangen." Aber gerade gegenüber der verhältnismäßig leichten Adaptierbarkeit von "Madame Bovary" deutet H. Mann in seinem Flaubert-Essay Vorbehalte an und gibt der "Éducation sentimentale", die bei ihrem ersten Erscheinen ein Misserfolg war, den Vorrang: "Die Éducation sentimentale ist in einem bestimmten Leben das, was sich nicht wiederholen läßt. Salammbô kann von weit vorgeschrittenen Artisten eingeholt werden, die Bovary (oder doch das, was sich ohne weiteres von ihr sehen läßt) ist hundertfach nachgemacht worden. Die Éducation bleibt unzugänglich." Kurz: "Die Kunst dieses Romans konnte seitdem in keinem mehr überboten werden." Mit der "Éducation" sei der Roman als Kunstgattung auf einsamer Höhe angelangt.
Auch Thomas Mann hat die "Éducation" geschätzt und als einziges Werk Flauberts auf französisch gelesen, was aber möglicherweise damit zu erklären ist, dass zur Zeit seiner Lektüre eine deutsche Übersetzung noch nicht vorlag. Eine solche erschien mit dem Titel "Roman eines jungen Mannes" erst 1904, und für sie schrieb Hugo von Hofmannsthal eine Vorrede, in welcher er die "Éducation", die er im Original bereits mehrfach gelesen habe und auch in Zukunft nicht beiseite legen werde, ähnlich wie Heinrich Mann über "Madame Bovary" und "Salammbô" stellt: "für mich gehört die 'Éducation sentimentale' zu jenen Büchern - wie wenige gibt es ihrer, wie sehr wenige! - die uns durchs Leben begleiten. Eines jener seltenen Bücher scheint sie mir zu sein, die sich auf das Ganze des Lebens beziehen, und neben dieser zur durchsichtigsten Einheit zusammengeflochtenen Vielheit scheint mir selbst die wundervoll aufgebaute Katastrophe eines Lebens und die wundervoll aufgebaute Katastrophe einer Stadt, scheinen mir die mächtigen Qualitäten der beiden Bücher, die 'Madame Bovary' und 'Salammbô' heißen, zu verblassen." Obschon etwas preziös, könnte die Empfehlung diejenigen unterstützen, welche die einseitige Bevorzugung "Madame Bovarys" beklagen und eine ausgeglichene Rezeption des Flaubert'schen Œuvre wünschen.
Selbst die von Heinrich Mann und Hofmannsthal etwas geringer geschätzte "Salammbô" verdient keine Vernachlässigung. Georg Lukàcs' Verdikt, sie sei zu exotisch und zeige in ihrem Mangel an Realismus alle Tendenzen des Niedergangs des historischen Romans, fußt auf einer heute obsoleten Literaturtheorie und geht zu sehr vom Stoff aus. Obwohl der Stoff reizvoll ist und dem Autor, der eigens eine Reise nach Tunesien unternahm und in den Ruinen von Karthago recherchierte, gewiss nicht gleichgültig war, sollte er bei der ästhetischen Würdigung keine Rolle spielen. Den Brüdern Goncourt sagte Flaubert: "Die Geschichte, das Geschehen eines Romans interessiert mich nicht. Wenn ich einen Roman schreibe, habe ich die Vorstellung, eine Farbe wiederzugeben, einen Ton. In meinem Roman Carthago [d. i. Salammbô] möchte ich etwas Purpurrotes machen." "Madame Bovary" habe einen "grauen Ton". Das "Purpurrote" ist geglückt, und die anschauliche Bemerkung sagt mehr über die Ästhetik des Erzählers aus als ein abstraktes Programm.
Der unvollendet gebliebene Roman "Bouvard und Pécuchet", der ganz im Zeichen des Hasses auf die "bêtise humaine" steht, ist dem deutschen Publikum vor nicht langer Zeit durch eine von Hans-Horst Henschen besorgte Neuübersetzung (2003) wieder ins Gedächtnis gerufen worden. Fast noch verdienstvoller ist Henschens Übersetzung der "Universalenzyklopädie der menschlichen Dummheit" (2004, vgl. die Rezension "Nicht alles ist dumm" in dieser Ausgabe), einer reichhaltigen Auswahl aus Flauberts Materialsammlung zu "Bouvard und Pécuchet". Sie ist umfänglicher als die bisher vorliegenden französischen Ausgaben und vermittelt nicht zuletzt dank der detaillierten Kommentierung eine gute Vorstellung davon, wie umfassend, aber auch wie problematisch Flauberts Dummheitsbegriff ist.

Eine weitere Neuerscheinung ist Cornelia Hastings Übersetzung des Briefwechsels zwischen Flaubert und den Brüdern Goncourt (2004, vgl. literaturkritik.de 12/2004). Sie ist geeignet, den Blick auf den Briefschreiber Flaubert zu lenken. Seine Korrespondenz gibt mit angenehmer Lebhaftigkeit nicht nur Auskunft über Person und Leben des Autors, sondern sie ist darüber hinaus ein Dokument der ganzen Epoche. Der französische Literaturhistoriker René Dusmesnil preist sie als Flauberts "chef-d'œuvre". Der Biograf kann ihr entnehmen, dass das Bild von dem Einsiedler in Croisset zwar nicht falsch, aber einseitig ist und der Ergänzung bedarf. Zu Zeiten war Flaubert gesellig, besonders wenn er in Paris weilte. Er unterhielt Bekanntschaften und hatte vertraute Freunde, von seinen Liebesbeziehungen und amourösen Eskapaden ganz zu schweigen. Manche der inzwischen unzensiert vorliegenden Briefe sind nicht für prüde Leser. "Eine relative Keuschheit, eine grundsätzliche und kluge Vorsicht vor Eroticis selbst in Gedanken" gehöre zur "besten Lebensweisheit" der Künstler, meint Nietzsche und beruft sich dabei u. a. auf Flaubert. Vielleicht konnte Nietzsche es noch nicht besser wissen. Wir aber wissen heute, dass vor 125 Jahren nicht nur ein künstlerisch fruchtbares, sondern ein zuweilen sozial und auch erotisch stark bewegtes Leben zu Ende gegangen ist.