Die fürchterliche Trägheit und die furchtlose Treue des Herzens

Nathan Stoltzfus' Buch über eine erfolgreiche Demonstration im "Dritten Reich"

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mehrere Kilogramm wiegt der Foliant, auf dessen über 1400 Seiten Namen, Adressen, ein paar Angaben zu Leben und Sterben von 55 696 Menschen stehen. Es sind die Namen von Berlins Juden, die zwischen 1933 und 1945 getötet wurden. Das "Gedenkbuch Berlins der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus" erschien 1995 als ein Totenmemorial.

Nur ein Jahr später publizierte Nathan Stoltzfus in den USA ein Memorial der Überlebenden, das nun endlich auch auf Deutsch vorliegt: "Widerstand des Herzens. Der Aufstand der Berliner Frauen in der Rosenstraße - 1943". Es ist ein Mahnmal für die Rettung von fast 2 000 Juden durch ihre deutschen Angehörigen, ein Hohes Lied der Treue und des bürgerlichen Ungehorsams.

Als die Nationalsozialisten 1943 unter dem Decknamen "Schlußaktion" Berlin "judenfrei" machen und nun auch alle mit Deutschen verheirateten und verwandten Juden verhaften und deportieren wollten, kam es zur einzigen bedeutenden regimekritischen Demonstration des "Dritten Reiches". Bis zu 1 000 Menschen, zum größten Teil Frauen, demonstrierten vor dem Gebäude in der Rosenstraße, wo ihre Partner interniert worden waren, obwohl sie immer wieder zum Gehen aufgefordert, von Gestapo- und SS-Leuten eingeschüchtert, schließlich sogar mit Maschinengewehren bedroht worden waren. Ihr tagelanger Protest, der zunehmend politische Züge annahm, bewegte die Machthaber zum Einlenken. Es kamen alle Gefangenen frei; sogar 35, die schon im Viehwaggon nach Auschwitz deportiert worden waren, schickte man im Schnellzug zurück nach Berlin.

Kaum zu glauben wie die Geschichte selbst: Stoltzfus ist der erste Historiker, der diesen Akt zivilen Ungehorsams, diese erfolgreiche Anwendung passiven Widerstands untersucht. Dabei bleibt er nicht, was an sich schon verdienstvoll wäre, bei einer Fallstudie stehen und sichert nur die noch vorhandenen Quellen. Wie der Untertitel der Originalausgabe "Intermarriage and the Rosenstrasse Protest in Nazi Germany" zeigt, geht es ihm neben der Protestaktion selbst auch um die sogenannten "Mischehen" - Verbindungen zwischen nichtjüdischen Deutschen und (oft nur von von den Nationalsozialisten so definierten) "Juden". 1935, als die "Nürnberger Rassegesetze" erlassen wurden, gab es etwa 35 000 Menschen, die in solchen "Mischehen" lebten. 98% der überlebenden Juden in Deutschland hatten einen nichtjüdischen Partner.

Über die Ehe- und Familienpolitik der Nationalsozialisten hinaus aber stellt Stoltzfus die unangenehme Frage nach den Möglichkeiten und Gründen aktiven Widerstands gegen das Regime. In direktem Zusammenhang damit fragt er (Goldhagens Buch lag damals noch nicht vor), wie es Staat und Partei gelingen konnte, die Juden zu isolieren, zu entrechten, zu konzentrieren, zu deportieren und schließlich zu töten, obwohl sie doch damit gegen geltendes Recht und christliche Kultur verstießen, wirtschaftlichen Schaden anrichteten - und das obwohl die "Juden" Kollegen, Bundesbrüder, Freunde, Nachbarn von "Deutschen" waren. Öffentlicher Protest erhob sich erst und nur in der Rosenstraße, als es um Ehepartner und nächste Verwandte ging. Wenn aber dieses unnachgiebige Festhalten an bürgerlichen, menschlichen Werten in öffentlichem Protest das Regime 1943 zum Nachgeben zwang, was hätten Proteste dieser Art 1933 bewirkt!?

Stoltzfus komponiert sein Buch aus mehreren Themen, deren Ineinanderspielen eine unerhörte Intensität bewirkt. Da ist das rührende Thema, das Loblied auf die verdrängte Rettungstat der demonstrierenden Frauen. Seine Durchführung erklingt in den aufwühlenden Charaktervariationen, den immer wieder einkomponierten Fallstudien mit Interviews der Überlebenden: Charlotte Israel, Wally Grodka, Elsa Holzer und andere. Fundamentales Ostinato dazu ist die Untersuchung der Familiengesetzgebung, der Alltagsgeschichte von "Mischehen" nach 1933 und des Wertepreisgebens innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft.

Ein zweites Thema ist das der hypothetischen Geschichtsschreibung: Wie musste erfolgreicher Widerstand gegen die Judenverfolgung 1933ff. aussehen? Was hätte Hitler und Goebbels so beeindruckt, daß sie aus Angst vor politischem Machtverlust ideologische Einbußen akzeptiert hätten. Was also hätten einzelne Personen, aber auch Institutionen, Verbände, Ämter, Kirchen tun beziehungsweise unterlassen müssen, um die Nationalsozialisten nicht förmlich in ihrem immer radikaleren Judenhaß zu unterstützen?

Zuletzt spielt als Nebenmotiv das Forschungsabenteuer hinein, in das Stoltzfus unversehens geriet: seine ganz eigenen Erfahrungen mit den Tätern und den Opfern im heutigen Deutschland. Dieses kompositorische Kunstprinzip dient nicht eitler Darstellungsfreude oder nur der besseren Lesbarkeit, die natürlich davon profitiert. Der Widerstand in der Rosenstraße kann grundsätzlich nur auf solche Art dargestellt werden, weil hier individuelle Geschichte und Staatsgeschichte, Historisches und Gegenwart, akute und grundsätzliche Fragen untrennbar miteinander verknüpft sind.

Hitler und Goebbels achteten sehr genau auf die Stimmung und Zustimmung in der Bevölkerung, waren sich bewußt, daß ihre Politik überhaupt und speziell die Vertreibung und Vernichtung der Juden nur in Kooperation, jedenfalls nicht gegen das Volk durchgesetzt werden konnten. Vor allem Hitler wies häufig auf den Zusammenbruch Deutschlands im November 1918 hin und auf die große Rolle, welche die "Heimatfront" und besonders die Frauen dabei gespielt hatten. Stoltzfus erklärt aus diesem Trauma den Erfolg nicht nur des Rosenstraßen-Protestes, sondern auch den Abbruch der "T 4"-Aktion (Ermordung von Behinderten) und der gegen Kruzifixe in Schulen. Gegen die Kirchen, die sich in diesem Falle stark machten und massiven Widerstand ankündigten oder sogar zeigten, versuchte man nicht gewaltsam vorzugehen. Dies um so weniger, als sie in vielen anderen Punkten ihre christliche Gesinnung weit hintan stellten und bereitwillig mit der neuen Regierung kooperierten.

Am erfolgreichsen und radikalsten sezten die Nationalsozialisten ihre Ideologie dort durch, wo sie auf Stimmungen und Traditionen aufbauen konnten, am wenigsten, wo sie völlige Neuerungen und Änderungen planten.

Die spontane Selbstbeschränkung der Rechte durch Bürger, Institutionen und Kirchen kurz nach 1933 überraschte die Nationalsozialisten selbst. Sie ermunterte die Partei immer weiterreichende Pläne umsetzen zu wollen. Als die "Nürnberger Rassegesetze" erlassen wurden - juristisch ein Schnellschuß und Flickwerk voller ungeklärter Sonderfälle und Ausnahmen, bei dem die Bürokratie vergeblich klare Vorgaben forderte - schlossen zum Beispiel die berufsständischen Vereinigungen der Ärzte und Juristen, aber auch Schulen oder die Pfadfinder ohne jeden staatlichen Zwang und eigenmächtig "Juden" aus ihren Reihen aus, wobei sie sogar noch weiter gingen als die Bestimmungen für Beamte forderten. Selbst die Kirchen spielten mit und gaben Auskunft über konvertierte "Juden". Ähnliche Reaktionen gab es in der Bevölkerung, aus der spontan und in großer Zahl Denunziationen gegen "Mischehen" einliefen, obwohl ein justiziabler Tatbestand noch gar nicht vorlag.

Konnten die Nationalsozialisten so gegen die "Juden" sehr schnell und mit immer größerer Härte vorgehen, scheuten sie sich doch, die Institution der Ehe und der Familie anzutasten, da sie selbst diese Werte propagierten und fest im Volk verwurzelt wußten. Nur aus diesem Grund deportierte man die "Juden" in "Mischehen" (wie z. B. Klemperer) nicht, obwohl gerade sie einen eklatanten und dauernden Widerspruch gegen die Ideologie vom einigen Volk und den auszusondernden Fremden darstellten. Alle diese Paare sahen sich regelmäßigen und schlimmer werdenden Schikanen ausgesetzt, die deutschen Partner immer neuen Versuchen, sie durch Drohung oder Lockung zur Scheidung zu bewegen: das Todesurteil für den Anderen. Viele Ehen hielten dieser Belastung stand, nur 7% wurden bis 1945 geschieden.

Nach der Niederlage von Stalingrad, als der Bevölkerung der "totale Krieg" erklärt wird, droht auch den in "Mischehen" lebenden Juden Deportation und Tod. Goebbels, der das Aufsehen einer solchen Aktion lange gescheut hatte, stimmt jener "Schlußaktion" zu, während der alle Juden aus Berlin abtransportiert werden sollten. In großer Schnelligkeit und möglichst unauffällig verhaftet man mehrere tausend Juden und will sie bis zum 1. 3. 1943 deportieren. Die Versuche von Wehrmacht, Kirche und verschiedenen Betrieben "ihre Juden" freizubekommen, schlagen fehl; sie alle verfrachtet man nach Auschwitz. Nur die mit Deutschen Verheirateten überleben dank der Demonstration ihrer Frauen, die sich - ohne politisch gegen das Regime zu kämpfen - schützend vor ihre Männer stellen. Am 6. 3. 1943 befiehlt Goebbels, die etwa 2 000 Inhaftierten aus der Rosenstraße wieder frei zu lassen.

Stoltzfus vertritt mit seinem Buch Thesen, die nicht weniger provozieren als die Goldhagens. Daß seine Untersuchung nicht ebenso intensiv besprochen, diskutiert und umstritten ist, liegt vielleicht daran, daß sie außer ihrer herausragenden historischen Qualitäten mit persönlichen Fragen aufwartet, die viel unangenehmer sind als die recht pauschale Verurteilung der deutschen Bevölkerung als traditionell antisemitisch. Denn Stoltzfus geht es grundsätzlich um die erschreckend bereitwillige Aufgabe von Werten und Traditionen, um die freiwillige Preisgabe von nachbarlicher und kollegialer Solidiarität, von christlicher Brüderlichkeit, von amtlicher Gesetzestreue; und um die Menschen, welche allen Anfechtungen zum Trotz festhielten an der Ehe, an ihrem Partner, deshalb sogar öffentlich demonstrierten und das Regime zum Rückzug zwangen.

Titelbild

Nathan Stoltzfus: Widerstand des Herzens. Der Aufstand der Frauen in der Rosenstraße 1943.
Carl Hanser Verlag, München 1999.
480 Seiten, 27,60 EUR.
ISBN-10: 3446161236

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