Machen wir uns nichts vor

Raymond Carvers "Erste und letzte Storys" jetzt als Taschenbuch

Von Mario Alexander WeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Alexander Weber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Was gibt's da zu sagen. Die Leute drüben umarmen sich einen Moment lang, und dann gehen sie zusammen ins Haus. Sie lassen das Licht brennen. Dann erinnern sie sich, und das Licht geht aus."

Raymond Carver: "Pappkartons"

Mit "Erste und letzte Storys" liegt der vierte und letzte Band der Erzählungen Raymond Carvers im Berlin Verlag als Taschenbuch vor. Der Band versammelt sieben neue, noch zu Lebzeiten Carvers in den USA veröffentlichte Texte. Darunter die großartige Erzählung "Botengang", eine Hommage an Carvers literarisches Vorbild Anton Czechov. Desweiteren finden sich darin, zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt, zehn Texte aus seiner Schaffenszeit. Fünf Erzählungen aus dem Nachlass beenden den Band. "Mit ihnen liegt alles vor, was es je geben wird von diesem außergewöhnlichen Autor", muss Carvers Lebensgefährtin Tess Gallagher im Vorwort leider berichten.

Raymond Carver, der 1988 im Alter von 50 Jahren an Lungenkrebs starb - das Cover des letzten Bandes zeigt in Magenta eine Detailaufnahme eines Gesichts, davor eine mit einem Ring "bepatzte" (Jakob van Hoddis) Hand, zwischen Zeige- und Mittelfinger die glimmende Zigarette -, gehört mittlerweile zu den anerkannten, kanonisierten und großen Schriftstellern; ein Erneuerer der Short-Story. Zwar hat sich noch nicht - analog zu Kafka oder Dylan - das Adjektiv "carveresk" durchgesetzt, doch dessen ungeachtet ist sein Einfluss auch auf die deutschsprachige Literatur nicht zu unterschätzen. Die Vorworte von Judith Hermann und Ingo Schulze in zwei weiteren Carver-Bänden der jetzt vollständigen Gesamtausgabe zeugen davon.

"Der Anruf kommt mitten in der Nacht, um drei Uhr früh, und erschreckt uns zu Tode." Mit diesem Satz beginnt die Erzählung "Wer immer in diesem Bett geschlafen hat". Diesen Anfang zitiert der niederländische Kritiker Roel Bentz van den Berg in seinem Carver-Essay "Desillusioniert und ohne jeden Applaus". Am Ende fasst er alles, alles zusammen:

"Der einzige Trost ist, daß das Leben, egal was geschieht [...], einfach weitergeht. Wenn wir sterben, verändert der Lebensstrom vielleicht für einen Moment seinen Lauf, doch er läßt die Lücke, die wir hinterlassen, ziemlich rasch wieder vollfließen. Dies bezeichnen nur die Menschen als einen schwachen Trost, die glauben, es sich - emotional, ökonomisch und spirituell - leisten zu können, sich nicht an jeden auf der schiefen Bahn ihres Lebens an ihnen vorbeirasenden Strohhalm zu klammern. Doch von solchen Menschen handeln die Geschichten Raymond Carvers nicht."

Judith Hermann, der eine literarische Nähe zu Carvers Erzählungen attestiert wird, schreibt in ihrem Vorwort zum Carver-Band "Kathedrale":

"Und natürlich habe ich doch, nachts, betrunken, sicherlich mit anderen über Carver reden können, der ein Trinker war, fast sein Leben lang, ein pathetischer, sehnsüchtiger, liebender Schreiber auf Entzug. [...] Ich erinnere mich, wie wir rätselten und tranken und sagten, dass Carver nur deshalb so habe schreiben können, weil er ein trockener Alkoholiker war mit Geschichten, die sich in der Nüchternheit an der Sehnsucht berauschten."

Alles über Carver ist Carver-Stoff, der oft (ehrfürchtig) erwähnte, einzigartige Carver-Sound findet sich als Nachhall im Schreiben über Carver. Carver lässt wie kaum ein anderer jeden Rezensenten zum Existenzialisten werden. Schreiben über Carver heißt, den Alltagsbeschreibungen nicht die Käseglocke Literaturkritik überzustülpen, sondern den Literaturkritiker mit den Fragen zu konfrontieren, die er sonst selbst stellt. Ohne "Tod nicht Tod" (Tess Gallagher), Sehnsucht, Hoffnungslosigkeit und dem Nachhallen geht es nicht. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Jedes Schreiben über Carver ermuntert auch, vom unverbindlichen, konventionellen "man" in die subjektive Ich-Form zu wechseln. Und Carvers Texte zu lesen, heißt auch fast immer: zu berichten, wo und unter welchen Umständen man sie gelesen hat. Etwa unter Alkoholeinfluss. Ich selbst hatte einmal an einem Sommernachmittag im Frankfurter Brentano-Bad, auf der Bastmatte liegend und furchtbar verkatert, die "Kathedrale" aufgeschlagen. Dann, mit zittrigen Beinen am Grill anstehend, sah ich nur noch Carver-Figuren in Badehose. Es wundert mich sehr, dass "carveresk" noch kein anerkanntes Adjektiv ist, denn jeder Carver-Leser hat seine Geschichte zu erzählen. Über Situationen, von denen er denkt, dass es Carver-Situationen seien - manchmal den Strohhalm mit der Literatur verwechselnd, manchmal jedoch auch nicht.

"Die Leitung ist tot, und ich kann nichts hören."

Titelbild

Raymond Carver: Erste und letzte Storys.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Helmut Frielinghaus.
Berliner Taschenbuchverlag, Berlin 2004.
352 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-10: 3833300981

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