Die Semantik nationaler Architektur

Über die stofflichen Bemühungen zur geistigen Fundierung Israels

Von Johannes SpringerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Springer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Denkt man an israelische Architektur, gibt es meist drei sehr exponierte Varianten, die jeweils in den öffentlichen Diskurs gerückt werden. Hat man es mit einem positiven Bezug zu tun, der zudem eher auf einer ästhetisch-kunstwissenschaftlichen Ebene argumentiert, wird der Verweis auf die "weiße (Bauhaus-)Stadt" Tel Aviv sehr wahrscheinlich sein. Die 1909 gegründete Stadt, welche mittlerweile auch als Weltkulturerbe eingestuft wurde, wird vor allem aufgrund ihres in den 20er/30er Jahren entstandenen, ziemlich einzigartigen International Style-Ensembles wegen als architektonisches und wegen ihres symbolischen Wertes für den Zionismus als politisches Dokument geschätzt. Dann gibt es noch den archäologischen Architekturdiskurs, der sich politisch sehr relevant behaupten kann, indem in ihm über diverse Ausgrabungsprojekte an religiösen Orten Beweise für eine begründete Kontinuitäts-Argumentation von biblischen Schilderungen bis hin zu heutigen Besiedlungen gesucht werden, die Archäologie also insofern eine unglückliche staatslegitimierende Ideologisierung erfährt. Die öffentlichkeitswirksamste Debatte behandelt die Siedlungs- und Raumplanung Israels in den Gebieten Gaza und Westjordanland.

Die Architekturhistorikerin Anna Minta setzt in ihrem Buch "Israel Bauen" einen Untersuchungszeitraum, der zumindest die erste und die letzte Debatte vordergründig ausspart. Der von ihr gewählte Zeitrahmen beginnt mit der Staatsgründung 1948 und endet 1967. Innerhalb dieser Spanne legt sie den Fokus auf israelische Architektur-, Städtebau- und Denkmalpolitik. Der Ausgangspunkt ihrer Untersuchung zu diesen Bauformen ist die Annahme, hier grundlegende symbolisch-kulturelle, also auch politische Manifestationen israelischen Nationalverständnisses entdecken zu können. Im Zentrum ihrer Arbeit steht folglich die politisch/sozio-kulturelle Bedeutung dieser drei eng miteinander verwobenen Kategorien für die Begründung der nationalen Identität Israels und der Selbstverständigung über diese sowie für die Konstruktion eines homogenisierenden Nationalnarrativs. Obwohl dem Buch viel daran gelegen ist, eine kunst- und architekturhistorische Auseinandersetzung mit israelischer Baupolitik zu leisten, werden auch häufiger und unvermeidlicherweise geopolitische und geostrategische Argumentationen mit eingearbeitet. Interdisziplinäre Ansätze kumulativ zusammenwebend finden auch politik- und kulturwissenschaftliche Klassiker zum Konstruktionscharakter nationaler Assoziationen Anwendung. So treten Hobsbawm und Anderson auf den Konstruktionsplan sowie Jan Assmann mit seinem um den Topos des kulturellen Gedächtnisses entwickelten Begriffsapparat samt der Mythomotorik. Stark beeinflusst ist Minta auch durch die israelischen Diskurse um die "New Historians", was in der partiell sehr eindeutigen Argumentation wider die zionistische Logik Ausdruck findet. Minta übernimmt u. a. die sehr umstrittenen Behauptungen von den geplanten ethnischen Vertreibungen im Unabhängigkeitskrieg oder zitiert verschwörungstheoretisch anmutende Aussagen des arabischen Bürgermeisters von Jerusalem, was dazu führt, dass ihr größtenteils sehr plausibler Versuch aufklärerischer Kritik zentraler Nationalmythen zu einem wenig aufgeklärten Bild des Zionismus als substanziell aggressiver Bewegung in einen wenig aufgeklärten und sehr unangenehmen latenten Antizionismus führt. Zu danken ist ihr allerdings, dass sie sich nicht darum bemüht, Gegenmythen und -erzählungen zu entwerfen, die letztendlich dem Zionismus die alleinige Schuld für die Konflikte mit den arabischen Nachbarn anlastet.

Spannend ist das Beispiel Israel für den Konstruktionscharakter nationaler Bewegungen, weil hier die extreme Zeitkonzentration und die außerordentliche Heterogenität der den Staat bildenden Gruppen noch schwerer wiegt als anderswo. Umso erwartbarer erscheint der Umstand, dass man für öffentliche, repräsentative Gebäude des jungen Staates eine sprechende, bedeutungsschwangere Architektur einforderte und größtenteils verwirklichte. Am Beispiel Jerusalem, der nach dem Unabhängigkeitskrieg zur Hauptstadt gekürten Metropole startet Minta ihre erste, israelische Gründungsmythen betreffende Dekonstruktionsanstrengung. Hier zeigt Minta bravourös, mit welchen Anstrengungen und internen Konflikten es verbunden war, dem Staat Israel eine positiv bestimmbare und historisch herleitbare Identität zu verleihen. So wird die Kulissenpolitik und die auf sehr oberflächlich konservierende Muster angelegte Altstadtsanierung klug kritisiert. Die anfangs noch großen Diskussionen ausgesetzte Monumentalität der öffentlichen Gebäude, die als Identifikations- und Repräsentationsorte entworfen werden, sind in Mintas Interpretation historisch-legitimative Selbstinszenierung. Sehr anschaulich wird der symbolische Bedeutungsrahmen der staatlichen Gebäude entwickelt, die vor allem innenpolitische Wirkung entfalten sollen. Insbesondere bürgerlich-säkulare Projekte spielen eine große Rolle, angefangen bei der Knesset, dem Israel-Museum über die später besprochenen Hochschulgründungen oder die Bibliotheken. Der Versuch, über eine möglichst breite Wirkung auf die sehr differenten Gruppen, eben auch der religiösen Fraktionen, eine große Homogenisierung und Identifikation mit dem Staatsprojekt zu erreichen, wird aber auch in hybriden Projekten wie dem "Schrein des Buches" manifest. Dass der politische Zionismus weder auf den Mythos der göttlichen Erwählung noch den der Landverheißung verzichten konnte, also religiöse, messianische Axiome übernahm, wird besonders für die Anfänge Israels als pragmatische Staatsgründungsräson gedeutet. Ohne jene Zugeständnisse, die Minta sehr gut in den Repräsentationsbauten und der Baupolitik insgesamt herausgearbeitet, wurde befürchtet, dass sich Palästina zu einem Luftschloss für "Nachtasylanten" entwickelt.

Als Differenz zwischen der Bebauungspolitik in Jerusalem und den Arbeiten im von ihr zum zweiten Untersuchungsgegenstand erkorenen Wüstenort Beer Sheva fällt Minta folgendes auf: "Sie [die Siedlung Beer Sheva] bedient das fundamentale Bedürfnis, über die Demonstration jüdischer Siedlungspräsenz den Besitzstand am Territorium zu wahren. Kulturarbeiten gewinnen erst nach dieser ersten Phase der räumlichen Aneignung des Landes an Bedeutung." Dass eine Siedlung, deren militärisch-strategischer Wert schon unter osmanischer Herrschaft erkannt und gefördert wurde, nicht sofort mit dem Bau großer repräsentativer Projekte beginnt, während es permanent von Vernichtungsdrohungen der Anrainer begleitet ist, erscheint überaus nachvollziehbar, nur Minta hat damit Probleme. Ben Gurions Aussagen, dass es für die Existenz des Staates Israel eminent wichtig sei, den Süden zu besiedeln und damit zu sichern, tut sie als verkürzt ab und spricht von expansiver Siedlungsförderung; obwohl auch sie betont, dass in den jeweiligen Verteidigungskriegen gegen die arabischen Nachbarstaaten und vor allem im Unabhängigkeitskrieg diese geografisch marginalen Siedlungen eine wichtige Rolle für die Verteidigungskraft Israels gespielt haben. Die Schilderungen der in Nacht und Nebel errichteten Mauer und Turm Siedlungen, die als Ergebnis "geheimer Transaktionen" in den 30er Jahren an den Restriktionen der Briten vorbei errichtet wurden, erzeugen den Eindruck einer aggressiven und hinterhältigen Strategie. Dabei sollte tatsächlich "nur" ein reell existenz- und verteidigungsfähiger Staat fundiert werden. Dass Staatsgründungen stets auf Kosten nicht integraler Bevölkerungsgruppen stattfinden, soll dabei nicht verschwiegen werden. Minta stellt die Planungen zur dezentralen inneren Kolonisation nicht nur als einen nach außen sehr fragwürdigen Vorgang dar, sie beschreibt auch die in die Stadtneugründungen integrierten Immigranten als "flexible und steuerbare Masse", die von der Regierung sozusagen als humangeographisches Strategiepotenzial missbraucht worden sei.

Gab es für die Autorin bei den Jerusalemer Bauprojekten zu kritisieren, dass sie eine zu wenig funktionalistisch-moderne, sondern stattdessen symbolisch-monumentale Formensprache verwendeten, so hält Minta den Siedlungsneugründungen ihren trostlosen Funktionalismus vor, der zudem verdeutliche, dass Bedürfnisorientierung und Identifikation der Bewohner mit ihrer Stadt nicht die primären Planungsziele waren. In der Verwendung kleiner, seriell produzierter Wohnungsmodule kann sie darum auch nur territoriales Aneignungsdenken sehen, anstatt sie zunächst einmal im Kontext der sozialen Frage zu diskutieren, die in Israel durch die unglaubliche Immigration besonders relevant ist. Ihr scheint keine Baumaßnahme der israelischen Politik außerhalb des nationalen Instrumentalisierungsgedankens anzusiedeln zu sein. Folgerichtig deutet sie denn auch die flexiblere und qualitativ verbesserte Planung in den 60er Jahren funktional hinsichtlich der einfacheren Stiftung nationaler Zugehörigkeit. Um den von ihr zitierten Kommentar Ben Gurions zu dieser sanften Richtungskorrektur - er spricht davon, dass nicht mehr nur nationale Sicherheit, sondern die stete Verbesserung der Demokratie, der individuellen Lebensstandards, der Aufbau einer Modellgesellschaft usw. anvisiert werden müsse - angemessen integrieren zu können, fehlt Minta manchmal die Vorstellung eines humanistischen Inhaltes israelischer Baupolitik. Ihre Deutung des planungstheoretischen Paradigmenwechsels von der aufgelockerten Stadt zur kompakten, verdichteten, gerät so auch nur zur Transformation des physisch angeeigneten Territoriums in eine für die Nationskonstruktion konsolidierende Rolle. Obwohl ihre Ausführungen zu den strukturellen, grundsätzlichen Irrtümern der israelischen Siedlungsgründungen der 40/50er Jahre sehr erhellend sind. Denn beispielsweise die Konzipierung der Wüstensiedlung Beer Sheva als gartenstädtisch durchgrünte, blühende, agrarwirtschaftlich geprägte und zergliederte Stadt, ging sowohl auf Kosten der wirtschaftlichen Profilierung, als auch zu Lasten der urbanen Qualitäten. Die fragmentierten Städte konnten auch nicht die gerade für die israelische Gesellschaft wichtige Funktion der Vermittlung von Gleichheit und Gemeinsamkeit gegenüber den extrem heterogenen Gesellschaftskonstituenten erfüllen. Die Orientierung an europäischen Modellen zur Regulation von Agglomerationsbildungen erwies sich hier als völlig unbrauchbar, wie Minta unterstreicht. Allerdings betont sie auch, dass die Abkehr von den aufgelockerten, fragmentierten Städten mehr oder weniger im Gleichklang mit den meisten anderen westlichen Gesellschaften eingeleitet wurde.

Dass die ständige Bedrohung der Existenz Israels in Mintas Argumentation außerhalb der Streifung des Unabhängigkeitskrieges nahezu gar nicht vorkommt, muss insgesamt als Defizit gewertet werden. Die Schwierigkeiten, unter solchen Vorraussetzungen autonome Politik zu machen, die in positiv formulierbaren und nicht ausschließlich defensiv reagierenden Praxen gründet, bleiben leider unerwähnt. Während Minta in vielen feinen, kunsthistorisch fruchtbaren Interpretationen wichtiger Planungen in Jerusalem, auch in ihrer Einschätzung zur für die nationale Narration funktionalen Umdeutung des Holocaust, wesentliches herausarbeitet, so verstellen ihr ihre postzionistisch entlehnten Vorstellungen von den politischen Rahmenbedingungen den Blick für manche israelische Planungsnotwendigkeit. Der Blick auf die Konstruktion einer kollektiven Identität via symbolischer Baupolitik, die, wie interessanterweise betont wird, auf einen nationalen Stil verzichtet, wäre noch überzeugender gewesen, wenn auch die realpolitische Bedrohungslage besser integriert worden wäre, die deutlich gemacht hätte, aus welchen Motiven heraus ein stabiler und nach innen hin legitimierter Staat in diesem Fall so notwendig war.

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Anna Minta: Israel bauen. Architektur, Städtebau und Denkmalpolitik nach der Staatsgründung 1948.
Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2004.
462 Seiten, 59,00 EUR.
ISBN-10: 3496013184

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