"Von den scheußlichen Dingen habe ich nichts gewusst"

Albert Speer und die Reinszenierung seiner Legende

Von Wolfgang BenzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Benz

Die Herrschaft über unser Geschichtsbild üben längst die Medien aus, und zwar mit größerem Unterhaltungswert, als sie die dröge Geschichtswissenschaft gemeinhin entfaltet, woraus größerer Erfolg beim Publikum resultiert. Historiker sind beim medialen Verfahren freilich nicht überflüssig, sie werden zur Absonderung knapper Statements im O-Ton benötigt, zur Bekräftigung oder Relativierung von Thesen, als Stichwortgeber. Die Deutungshoheit haben Regisseure und Darsteller übernommen, im Zweiten Deutschen Fernsehen geschieht das in extenso mit geschniegelter Virtuosität, anderswo waltet nachahmender Eifer in der Hoffnung auf gleichen Erfolg.

Unverzichtbar bei der medialen Historiografie ist der Zeitzeuge, der trotz seiner Beliebigkeit und Auswechselbarkeit Autorität dank Lebensalter und Deutungshoheit kraft Herkunft, Erfahrung oder zufälliger Nähe zum behandelten Gegenstand zugewiesen bekommt. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion sind aufgehoben. Wenn es kein Archivmaterial gibt, wird nachgedreht, aber auch wenn es authentische Dokumente gibt, wird neu in Szene gesetzt, damit es perfekter wird, damit die Botschaft besser rüberkommt - oder einfach so. Die Unterscheidung Spielfilm versus Dokumentarfilm hat sich im Doku-Drama verflüchtigt - mit erheblicher Wirkung über das Genre hinaus: Die Hauptdarsteller werden nämlich zu eigentlichen Zeugen historischer Wahrheit. Expertenrang bekommt, wer Hitler mimt oder Sophie Scholl verkörpert. An Albert Speer wurde gerade das Exempel statuiert. Darüber ist zu berichten.

Sechs Stunden öffentlich-rechtlicher Geschichtslektion über das NS-Regime und seine Wirkungen, opulent aufbereitet und dargeboten, aus didaktischen oder medienästhetischen Gründen reduziert auf das Verhältnis zweier Männer, das Verhältnis zwischen dem Diktator und seinem Liebling, dem Architekten, Technokraten, Organisationstalent und Inszenierungskünstler. Das Stück im Genre Kompilationsfilm wurde gegeben als Familiensaga, als Anamnese einer libidinösen Beziehung zweier bedeutender Männer, als Epos über Aufstieg, Fall und Katharsis eines Ehrgeizigen. Was haben die Zuschauer, deren Zahl von Folge zu Folge abnahm, gelernt? Nichts. Jedenfalls nichts Neues über die Rolle Albert Speers im Dritten Reich. Der Trailer hatte viel versprochen (und war vielleicht der beste Teil der ganzen Inszenierung, weil er noch Fragen stellte und auf Antworten hoffen ließ).

Aber lehrreich waren die abendfüllenden Veranstaltungen trotzdem. Sie haben nämlich einmal mehr den Beweis erbracht, wie genial Albert Speer als Regisseur eines Geschichtsbildes war, in dem er stellvertretend für eine Generation deutscher Bürger die Rolle des Gentleman-Nazis, des Verführten, des schließlich Geläuterten gab, der von guten Absichten und, nun ja, ein wenig Opportunismus (man konnte ja angeblich nicht ahnen, wohin das alles führen würde) getrieben worden sei und der wie so viele einfach dem Faszinosum Hitler erlegen sei. Das Bild, von Speer entworfen und von hilfreichen Mitwirkenden ausgemalt, hielt auch dem Aufklärungsbemühen der ARD stand. Heinrich Breloer ist es nicht gelungen, den Mythos Speer zu entzaubern.

Der wirkliche Regisseur des Stückes hieß wieder einmal Albert Speer. Auf den Gleisen, die er verlegte, ratterte auch Heinrich Breloers Zug dahin. In der Sparte Medienkunst mag das Projekt ein Meisterwerk sein, zur Wahrheitsfindung taugt es wegen seiner Machart nicht. Die Suggestion des Zeitzeugen macht das Bedenkliche der Methode Doku-Drama transparent: Die Historikerin Susanne Willems demonstriert mit Dokumenten die Verbindung Speers zum Judenmord und führt die Beweise für seine konkrete Verstrickung mit Auschwitz vor Augen, aber dem Zeitzeugen, einem Neffen Albert Speers, wird mindestens die gleiche Kompetenz dadurch eingeräumt, dass er ausführlich vor der Kamera Ahnungslosigkeit demonstrieren darf und wie er sich wundern muss und gar nicht vorstellen kann, was der Held der Geschichte alles gewusst und getan hat. Oder das Gespenst Leni Riefenstahl, das über den Bildschirm geisternd Unschuld kongenial zu Albert Speer agiert und fade Ahnungslosigkeit vorspiegelt. Die drei Kinder Albert Speers haben Kompetenz, sie sind integer und sympathisch. Aber interessiert es wirklich, ob Hitlers Rüstungsminister ein guter oder ein schlechter Vater war? Ist die menschliche Tragödie der Familie Albert Speers öffentlicher Besitz? Das wäre wohl so, wenn damit etwas vom Wesen des Nationalsozialismus oder seiner Folgen für die Nachkriegsgesellschaft zu erklären wäre. Auch Speers Beziehung zum Diktator ist nur mäßig interessant, und Neues dazu erfahren wir nicht.

Gewiß, Historiker dürfen beim Nachtarock auftreten und einiges erklären, der treue Gefährte Wolters wird als Retouscheur der Geschichte vorgeführt. Aber die visuelle Mischung aus Fiktion und Dokumentation, aus seriöser Expertise und banaler Zeugenvermutung stiftet mehr Verwirrung, als sie zur Klärung des Sachverhaltes beiträgt. Legitimes Interesse an Speer kristallisiert sich zum einen an seiner Funktion als Rüstungsminister, der Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge bis zur Vernichtung ausbeuten ließ. Dazu blieb die Darbietung alles schuldig. Zum andern zielt die Kardinalfrage auf seine Rolle in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik. Der Erfolg seiner Memoiren seit Ende der 60er Jahre war Resultat einer Strategie, die Speer in Nürnberg den Kopf rettete, ihn nach 20 Jahren Haft zur Lichtgestalt erhob und ihn mit der Aura des Geläuterten zum Idealtypus der "Vergangenheitsbewältigung" machte.

Breloer folgt den Regieanweisungen Speers: Die Mitangeklagten und Mithäftlinge sind Popanze, als dumpf und uneinsichtig gezeichnet, vor denen sich der Bußfertige sympathisch abhebt, weil er der Wahrheit ins Auge sieht. Natürlich nur dem kleinen Teil, der den Nimbus nicht zerstört. Auf verzwickte Weise versucht sich der Nachspann zum Dreiteiler, der "Dokumentarfilm" zum Dokudrama, wenigstens am Problem der behaupteten Ahnungslosigkeit Speers in Sachen Judenmord. Leider mit den falschen Mitteln, denn Leni Riefenstahl und Wolf Speer sind in dieser Hinsicht inkompetent, und die beiden Herren, die an der Erzeugung des Markenartikels Speer Ende der 60er Jahre erheblichen Anteil hatten - Joachim Fest und Wolf Jobst Siedler - geben sich distanziert und unbeteiligt. Fest, der Publizist, hatte die Hebammendienste an Speers Memoiren geleistet, Siedler hatte vom Feldherrenhügel des Verlegers aus die Medienkampagnen geleitet, die Speer reich und berühmt machten. In Breloers Film dürfen sie sich als Zeitzeugen bekümmert über die Unlauterkeit ihres Pfleglings zeigen. Er habe sie getäuscht, habe ihnen eine Nase gedreht, sagen sie. Dass der Speer der letzten Jahre ohne ihre Hilfe nicht hätte agieren können, scheinen sie vergessen zu haben. Hat Heinrich Breloer das auch nicht gewusst oder nicht gefragt, weil als Rolle für diese Zeitzeugen zurückhaltende Noblesse im Drehbuch vorgesehen war?

Die Vorstellung, dass Schulklassen als Ersatz für Geschichtsunterricht den "Untergang" besuchen ist nicht deshalb grauenhaft, weil der Film besonders schlecht ist oder gefährliche Botschaften transportiert, sondern, weil er statt Aufklärung zu leisten, nur abbildet. Das ist im Spielfilm nicht illegitim, aber die Verwechslung von Unterhaltung mit Aufklärung ist schlimm, und die Pädagogen haben versagt, die ihre Schüler ins Kino treiben, anstatt sie fundiert zu informieren. "Speer und Er" erhebt trotz des unsäglichen Titels den Anspruch auf Aufklärung und Erkenntnis. Solches aber ist das dreiteilige Gemenge aus Information und Emotion, Archivmaterial und Zeugenaussagen, Fiktion und Montage schuldig geblieben, und auch der vierte Aufguss zur späten Stunde, als Dokumentarfilm zum Doku-Drama elaboriert, blieb unter seinem Anspruch.

Anmerkung der Redaktion: Der Artikel erschien zuerst in der "Süddeutschen Zeitung" vom 17. Mai 2005. Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung.