Aufbruch der Zeilen

Thomas Klings Gedichtband "morsch"

Von Nicolai KobusRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nicolai Kobus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Spätestens seit den 50er Jahren zieht es die Dichter entweder in die karge Wüste linguistischer Selbstbezogenheit oder nach New York City; warum auch immer. Thomas Kling ist Dichter, und Thomas Kling war in New York. Und wie es bei Dichtern so Brauch ist, bringen sie Gedichte mit: "die stadt ist der mund / raum. die zunge, textus; / stadtzunge der granit: / geschmolzener und / wieder aufgeschmo- / lzner text."

"Manhattan Mundraum" - die Ouvertüre zum Eingangszyklus in Thomas Klings neuem, mittlerweile sechsten Gedichtband "morsch". Der Klappentext und eigentlich der Kluge belehren uns, daß hier nicht nur das Brüchige, Poröse und Tote mitschwingt, sondern dass in "morsch" auch der Mörser am Werk ist, der zermahlt, zerstößt und zerreibt, um schließlich aus all dem Pulverisierten einen Mörtel zu gewinnen, mit dem sich trefflich Neues bauen läßt. Und so wird auch die Wahrnehmung der Stadt New York zunächst bedingungslos dem Mörser überantwortet, wobei die Wahrnehmung zuallererst als eine akustische erscheint: "die heizkörper keuchn"; der Klang als Material, "eine mindere menge / tritt aus ausm ventil, kocht dort, verkocht und / geht in luft auf: textus." Der Titel ist natürlich Programm und formuliert, wie jeder einzelne der Texte Klings, die grundlegende Poetologie gleich mit als "textband weißn rau- / schnnz; // schrift schon;... nicht / abstellbares textadersystem" ("gewebeprobe").

Mit "morsch", so scheint es, hat Thomas Kling sein Schreiben im "synapsn-slang" perfektioniert. Mit beeindruckender Souveränität verfügt er über sein Arsenal an poetischen Gestaltungsmitteln: Kaum einer bricht derzeit virtuoser Zeilen auf- und um, bewegt sich leichter durch das permanente Wechselspiel von Demontage und Rekonstruktion, dem Beschaben und erneuten Überschriften verwirrender Palimpseste. Was dabei in seinen frühen Arbeiten leicht in den Verdacht einer effekthascherischen Marotte geriet, die annähernd phonetische Schreibweise, das Ausstanzen der Vokale, das Trommelfeuer der Konsonanten, steht mittlerweile gänzlich ausgebildet da, als personaler und methodisch plausibler Stil. Die Texte erschließen sich erst, wenn man auch hört, was man da liest. Nicht umsonst hat sich Thomas Kling in Lesungen immer wieder vor allem als eines dargestellt: als begnadeten Performer. Gerade "morsch" aber zeigt, wie sehr es ein Trugschluß ist, zu denken, Kling operiere in seiner Lyrik primär mit der Mündlichkeit, der Lautgestalt einer gesprochenen Sprache (gänzlich verfehlt wäre es, ihn - à la mode, der hierzulande wie immer etwas verspäteten - in den Kneipenhumus der slam poetry zu verpflanzen). Die lautliche Umschrift ist nur ein Werkzeug unter anderen, die stumpfe, verkrustete Oberfläche der Sprache aufzubrechen, um in die Tiefenstruktur einer nahezu unabsehbar verzweigten Textur hinabzutauchen. Für den Raum des Gedichtes bedeutet dies, was es immer schon bedeutet hat - und Kling versichert uns aufs neue einer solchen, wenn auch in einer radikal gewandelten techné, noch immer aktuellen Möglichkeit des Schreibens -, daß nämlich der lyrische Text immer auch Selbstvergewisserung seiner eigenen Geschichte ist, bis hin zur alten und ältesten Schrift.

So schreibt sich auch wie selbstverständlich, ohne den leisesten Anflug von Prätention, in Klings höchsteigenem Idiom ein Gesangsfragment der Sappho neu, schleicht sich ein behutsam ironisierter Pastoralenton in die scheinbar so eiskalten Konstrukte, oder es findet von den fernen Bergen des Libanon das biblische Hohelied herüber in ein sehr gegenwärtiges und beinahe schon zärtliches Liebesgedicht: "helles schattnzeug / der stimmen, es regnet jetzt, getriefe, goldlack (wi gesacht) der / frühe, so redn wir. das licht jetzt, deiner augn, / wie ein ritz im granatapfel".

Es ist eben "stimmschur", der zentrale Abschnitt des neuen Bandes, der Thomas Kling in einem bisher kaum bekannten Tonfall sprechen läßt: Unter das zynische Bellen, das vor allem aus dem wirkungsvollen "geschmacksverstärker" (1989) tönte, hat sich ein hochsensibles Flüstern gemischt, das zuvor nur zu erahnen war, sich aber schon jetzt um einiges hartnäckiger im Ohr festgesetzt hat.

Titelbild

Thomas Kling: Morsch. Gedichte.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1996.
112 Seiten, 6,60 EUR.
ISBN-10: 3518407988

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