Ein Leben, in dem nichts geschehen ist

Helmut Göbels Monografie über Elias Canetti

Von Carolina SchuttiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carolina Schutti

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Dichter ohne Werk bezeichnete sich Canetti, obendrein als Autor, in dessen Leben nichts geschehen sei. Seine einzige Errungenschaft sei es gewesen, im 20. Jahrhundert gelebt zu haben. Dieses Leben allerdings war geprägt von starken Empfindungen, Reflexionen und der schriftstellerischen Durchleuchtung des menschlichen Wesens. Genauer als andere Autoren nahm Canetti sein Umfeld wahr und machte es sich in seinen Texten zu Eigen, um es in äußerster Schärfe vorzuführen.

Helmut Göbel sieht Vieles, was Canetti später wichtig wurde, in seiner unsteten Kindheit begründet und widmet ihr aus diesem Grund die größte Aufmerksamkeit. Dabei erliegt er lobenswerter Weise nicht der Verlockung, die Autobiografie gleichermaßen zusammenzufassen und bestenfalls zu ,korrigieren', sondern er überzeugt durch seinen differenzierten Umgang mit dieser neben dem mehr als 220 Kartons umfassenden Nachlass immer noch wichtigen Quelle. Vieles wird es bei Elias Canetti noch zu entdecken geben, wenn seine Notizen nach und nach erarbeitet sein werden und die jetzt noch gesperrten Briefe und Tagebücher ab dem Jahr 2024 gelesen werden dürfen. Doch schon jetzt ist eine umfassende und objektivierte Darstellung seines Lebens auf der Basis vorliegender Texte und Dokumente ansatzweise möglich.

Das 160 Seiten umfassende, in der gewohnten Qualität und Aufmachung der Reihe "rowohlts monographien" verlegte Buch bietet einen soliden Überblick über Leben und Werk Canettis. Der Anhang, bestehend aus einer ausführlichen Zeittafel, Zeugnissen von Thomas Mann bis Michael Krüger und einer äußerst nützlichen Übersicht der Orte, an denen der Nachlass verwahrt wird, rundet die Biografie ab. Die Bibliografie schließlich führt neben einem auch die Erstausgaben berücksichtigenden vollständigen Werkverzeichnis zusätzlich Tondokumente und eine (freilich sehr begrenzte) Auswahl von Literatur zum Leben und Werk Canettis an.

Von Anfang an berücksichtigt Göbel das historische Umfeld der jeweiligen Stationen im Leben Canettis. Geschichtliche Daten, bekannte Namen und wichtige Ereignisse tragen neben zahlreichen Bilddokumenten wesentlich zu einem umfassenden Verständnis des historischen Kontexts bei. Schon bei seiner Geburt im bulgarischen Rustschuk wird Canetti unter anderem durch die Namensgebung in Familientraditionen eingebunden, gegen die er sich zeitlebens wehren wird. Auch, wenn er das Bulgarische später vergisst und nur sechs Jahre in Rustschuk lebt, wird ihn diese erste Heimat dennoch prägen. Alle folgenden Lebensstationen in England, in der Schweiz, ihn Deutschland und in Österreich sind mit schrecklichen Ereignissen verbunden; oft enden sie mit Vertreibung der Canettis. Zur letzten Heimat des Schriftstellers wird schließlich Zürich. Ab seiner Wiener Zeit werden für Canetti Menschen außerhalb der Familie immer wichtiger. Allen voran Veza Taubner-Calderon, die ihm trotz seiner Untreue bis zu ihrem Tod eine geistige Partnerin war und ihn in seinem Schreiben unterstützte. Neben ihr und seiner zweiten Ehefrau, Hera Buschor, werden auch andere Personen porträtiert, die Einfluss auf sein Leben hatten. Am ausführlichsten geht Göbel auf Iris Murdoch ein, über die sich Canetti trotz der langjährigen Freundschaft und Beziehung auf eine unverständlich beleidigende Art geäußert hat. Göbel scheut in diesem Zusammenhang nicht davor zurück, auf Canettis verstörende, schwer verständliche und durchaus abstoßende Seiten hinzuweisen, ohne aber dabei seine oder die Intimsphäre anderer zu verletzten. Generell ist die vorliegende biografische Darstellung sehr um Objektivität bemüht: Auf Sensationen und Anekdoten wird - das mag freilich auch an der Art der Rowohlt-Monographien liegen - in der Arbeit jedenfalls verzichtet.

Dem Werk Canettis wird dabei ein gebührender Platz eingeräumt, wobei die wichtigsten Veröffentlichungen in ihren jeweiligen Entstehungskontext eingebettet werden. Leider nicht ganz geglückt ist die interpretierende Inhaltsangabe der "Blendung", in der missverständliche und allzu vereinfachende Interpretationsansätze auf ein Fazit abzielen, das es in dieser Form bei einem so komplexen Roman nicht geben kann. Dem Anspruch der mittlerweile um die 500 Bände umfassenden Reihe, neben der Lebensdarstellung auch "instruktive Interpretationen des Werks" zu geben, kann hier nicht Genüge getan werden, was aber nicht allein dem Autor angelastet werden soll, sondern wohl hauptsächlich an der notwendigen Verknappung des Unternehmens liegt. Positiv hervorzuheben ist die Erwähnung wenig bekannter, kleiner Veröffentlichungen und unveröffentlichter Manuskripte (z. B. des satirischen Caneti-Librettos "Affen-Oper").

Insgesamt zeichnet Göbel ein prägnantes, aber doch rundes Bild vom Leben und Werk Elias Canettis, weshalb das Buch zur Einführung bestens geeignet ist. Darüber hinaus kann die durchwegs um Sachlichkeit bemühte Darstellung dazu beitragen, die eine oder andere Irreführung, der man durch die Lektüre der literarisierten Lebensgeschichte erlegen sein mag, aufzudecken und den Menschen Canetti ins rechte Licht zu rücken.

Titelbild

Helmut Göbel: Elias Canetti.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2005.
160 Seiten, 8,50 EUR.
ISBN-10: 3499505851

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