Kritik der Paranoia

Elias Canetti und Karl Kraus

Von Manfred SchneiderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Schneider

"Wie soll man sie ertragen, diese Mit-Paranoiker,
die genau so funktionieren wie man selbst..."
(Elias Canetti: "Die Fliegenpein")

Die folgenden fragmentarischen Bemerkungen zur Beziehung von Elias Canetti und Karl Kraus bilden einen Baustein zu einer noch ungeschriebenen "Kritik der Paranoia". Der Leser ist gehalten, den Begriff "Kritik" dabei in einem kantischen und damit theoretischen Sinne zu denken. In lockerer Verbindung mit dem Projekt der Kritiken Kants sollen Grundzüge einer Kritik der Paranoia, und zwar einer Selbstaufklärung der Paranoia, skizziert werden. Ganz so wie Kants Kritiken die Selbsterkenntnis der Vernunft ins Werk setzen, sollen hier an der Beziehung von Elias Canetti und Karl Kraus Elemente einer Selbsterkenntnis der paranoischen Vernunft erfasst werden. Diese Selbsterkenntnis der Paranoia erfolgt jeweils am Beispiel eines anderen, denn, so schreibt Canetti, es sind diese Mit-Paranoiker, die "einen in jeder Kleinigkeit, erschreckend präzis, spiegeln" Die Spiegel-Konstellation der beiden Autoren wird um den Paranoia-Theoretiker Immanuel Kant sowie um den größten Paranoia-Praktiker deutscher Zunge, Daniel Paul Schreber, ergänzt. Beide Namen tauchen in wichtigen Werken Canettis auf. Der Senatspräsident Daniel Paul Schreber, Autor der 1903 erschienenen "Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken", ist eine der Gestalten, an denen Canetti in "Masse und Macht" die Beziehung von Herrschaft und Paranoia analysiert. Kant wiederum war der ursprüngliche Name des Helden in "Die Blendung", die zunächst den Titel "Kant fängt Feuer" tragen sollte. Dieser erste Roman des geplanten Zyklus einer "Comédie humaine an Irren" wollte den Irrsinn des Helden als Revers der (kantischen) Vernunft erzählen.

Das ist freilich wenig Personal und Material, um nach Kants Untersuchung aller Abteilungen und Unterabteilungen der reinen, der praktischen Vernunft sowie der Urteilskraft eine "Kritik der Paranoia" zu entwerfen. Aber es sollen erste Begriffe entwickelt werden.

Die Vernunft der Paranoia ist psychologisch und vor allem sprachlich als unangreifbare Festung konstruiert. Das lässt sich am Helden der "Blendung", Kant alias Kien, studieren. Kien ist ein glänzender Philologe, der in seiner Wissenschaft, der Sinologie, als Meister der Textkritik und der philologischen Konjekturen gilt: "An schadhaften oder verderbten Stellen uralter chinesischer, indischer, japanischer Manuskripte fielen ihm Kombinationen ein, soviel er wollte." Das darf als die produktive Seite der Paranoia gelesen werden als das Kritische, Kantische, Intuitive an diesem Kien, der in der Lage ist, innerhalb der Grenzen seiner Erkenntnis alle schadhaften Texte zu füllen und zu ergänzen. Diese kritische Tätigkeit, die Reparatur überlieferter Texte, die Ergänzung und Vereindeutung unvollständiger und unklarer Sätze, die Ausfüllung von Leerstellen, die Vervollständigung des Wissens, erfolgt in einer skrupulösen Weise, so dass Kien über Tage, Wochen, Monate eine Ergänzung prüft, ehe er sich der Unangreifbarkeit seiner Lösung sicher ist.

Die Unangreifbarkeit ist einer der Schlüsselbegriffe für die auf Eindeutigkeit und Gewissheit versessene Paranoia. Der Paranoiker vermeidet es, Gelegenheit zu Angriffen zu geben. Er kommt sogar allen Angriffen zuvor, und zwar selbst den eingebildeten und gefürchteten. Seine Bearbeitung von Weltdaten erfolgt abduktiv. Kant selbst hat eine bis auf den heutigen Tag unübertroffene Beschreibung der Paranoia gegeben. Sie findet sich in der "Anthropologie in pragmatischer Absicht", die in erster Auflage 1798 erschienen ist. Im Kapitel von den Gemütskrankheiten umschreibt Kant den paranoischen Wahnsinn als "falsch dichtende Einbildungskraft". Die Paranoiker interpretieren indifferente Zeichen als feindlich, und er fährt fort:

"Von der Art sind diejenigen, welche allerwärts Feinde um sich zu haben glauben; die alle Mienen, Worte oder sonstige gleichgültige Handlungen andrer als auf sich abgezielt, und als Schlingen betrachten, die ihnen gelegt werden. - Diese sind in ihrem unglücklichen Wahn oft so scharfsinnig in Auslegung dessen, was andere unbefangen tun, um es als auf sich angelegt auszudeuten, dass, wenn die Data nur wahr wären, man ihrem Verstande alle Ehre müsste widerfahren lassen."

Diesen Wahnsinn nennt Kant die "rasende Vernunft". Die rasende Vernunft der Paranoia arbeitet zur Sicherung ihrer Unangreifbarkeit als überstürzte Auslegung und Vereindeutung von vermeintlich feindlichen Zeichen. Diese Ausdeutung dient, wie Kant unterstreicht, der "eigenen Erhaltung". Die rasende Vernunft lieferte perfekte Auslegungen, wenn die Daten, die sie interpretiert, nur immer stimmten. Die rasende Vernunft arbeitet unfehlbar, aber häufig mit falschen Informationen. Eine solche aus Hypothesen, abduktiven Schlüssen gebildete Erkenntnis hat vor allem der amerikanische Logiker Charles Sanders Peirce analysiert. Seine Arbeiten schließen unmittelbar an Kant an. Nur sieht er diese Fähigkeit zur intuitiven abduktiven Urteil als ein "göttliches Privileg" des Menschen, das ihm im Laufe der Evolution zugewachsen ist. Die abduktive Logik gehört zur Überlebensausstattung der Menschheit. So greift der Paranoiker nach diesem Verfahren. Sein Verlangen nach Unangreifbarkeit, sein Festungswille, erfordert den Einsatz von gewaltigem abduktivem Scharfsinn. Aber er setzt nicht selten zu viel, nämlich übermäßige oder rasende Interpretationsvernunft in Gang. Man könnte noch einmal mit Peirce der Vermutung Raum geben, dass die paranoische Vernunft unter Katastrophenbedingungen von ihrem sicheren Instinkt verlassen wird. Jedenfalls scheint eine solche sich selbst erhaltende und bisweilen rasende, nämlich fehlerhaft interpretierende, Daten falsch auslegende Vernunft das Betriebsgeheimnis sowohl von Kiens wie auch von Daniel Paul Schrebers Wahnsinn zu sein. Ihre Erkenntnisvermögen geraten immer dann auf abduktive Abwege, wenn sie, Weltkatastrophen vor Augen, aus Daten Schlüsse ziehen. Dann verwandelt sich die abduktive Intuition in rasende Vernunft, die überall Feinde erblickt. Die Affinität zwischen Kien und Schreber besteht nun darin, dass sich die feindlichen Data bei ihnen über die Kanäle des Sprechens und der Zeichen einstellen.

In welcher Weise lässt sich nun diese Kritik der Paranoia, das Modell einer rasenden Vernunft, des abduktiven Deliriums auf Karl Kraus und Elias Canetti anwenden? Bekanntlich hat Karl Kraus die Quelle aller zeitgenössischen Übel in der Entstellung der Welt durch den journalistischen Sprachgebrauch gesehen. Seine Mission, die er in den 37 Jahrgängen der von ihm herausgegebenen Zeitschrift "Die Fackel" zu erfüllen suchte, war der immer neue, neu ansetzende, nicht ermüdende Versuch, an Sätzen, Formeln, Entstellungen der Sprache, an falschen Bildern, verunglückten Metaphern, kurzum: an verderbten Texten und Sprechweisen die Verhängnisse seiner Zeit aufzuzeigen. Dass die Katastrophe des Ersten Weltkriegs von der Presse verursacht sei, von einem Sprechen, dessen Falschheit, Unbedenklichkeit, dessen Zynismus, Dummheit und latente Mordlust sich dem genauen Lesen offenbart, das hat er immer wieder durch Zitate ausgestellt. Die Fackel ist eine riesige Blütenlese misslungenen Sprechens, von sprachlich entstellter Welt und ruinierten Texten, aus denen die zerstörerische Gewalt von Krieg und Faschismus hervorgeht. Das verdorbene journalistische Sprechen setzt die ganze Welt den Mächten der Verderbnis aus. Was aber ist das für ein Leser, was für ein Textdeuter, der schon aus einem falsch verwendeten Fremdwort die Apokalypse hervorbrechen sieht? In den Eingangssätzen des großen Essays "Untergang der Welt durch schwarze Magie", der in der "Fackel" vom Dezember 1912 erschienen ist, liefert Kraus ein Selbstporträt. Dort nimmt Kraus den schon in den ersten Jahren seiner "Fackel"-Tätigkeit erhobenen Vorwurf auf, dass er "zufällig Ärgernisse [...] für Symptome" nimmt, dass er aus Kleinigkeiten große Affären macht, dass er die unscheinbaren Alltagsgeschichten der Zeitungen ins welthistorisch Katastrophale erhebt:

"Ich habe Erscheinungen vor dem, was ist. Ich mache aus einer Mücke einen Elefanten. [...] Und der Mücken werden immer mehr: Oft kann ich sie nicht mehr unterscheiden. Tausend habe ich zu Hause und komme nicht dazu, sie zu überschätzen. Bei Nacht sehen sie wie Zeitungspapier aus und jedes einzelne Stück lacht mich an, ob ich nun endlich auch ihm die Verbindung mit dem Weltgeist gönnen wolle, von dem es stammt. Gegen die Plage dieser Ephemeren gibt es keinen Schutz, als sie unsterblich zu machen."

Das sind die Mücken, die durch viele paranoische Systeme schwirren, die Kleinigkeiten, die durch blitzschnelle Schlüsse, durch Scharfsinn oder falsch dichtende Einbildungskraft, durch Konjekturen oder Abduktionen zu großen Bedrohungen der Welt hochgerechnet werden. Wie will man diese radikale, stets apokalyptisch gestimmte Pressekritik, die in Wörtern, Sätzen oder Absätzen der Zeitungen den Untergang der Welt durch schwarze Magie vorhersieht, einordnen? Nach welchem Modell arbeitet diese paranoische Vernunft? Welcher evolutionäre Erfolg steht dahinter? Man könnte diese Presse- und Sprachkritik von Karl Kraus einmal, wie es Walter Benjamin angedeutet hat, mit jenen Schreib- und Schriftskrupeln in Verbindung bringen, von denen der "Talmud" berichtet. Dort findet sich die Frage: Warum füllen die jüdischen Kopisten Heiliger Schriften Vitriol in die Tinte? Antwort: Das giftige Vitriol muss in die Tinte des Schreibers, damit keine Fliege darin leben bleibt, denn mangelnde Vorsicht beschwört die Weltgefahr herauf, dass das Tierchen vielleicht auf dem Papier herumkriecht, durch flüssige Tinte am Flügel oder an seinen Beinchen ein falsches Zeichen, einen Punkt oder Strich oder ein Komma hinterlassen könnte und damit die gesamte Schöpfung in Gefahr bringt. Denn die Buchstaben der Tora waren nach der Vorstellung des Talmud-Buches "Sanhedrin" das Werkzeug Gottes bei der Erschaffung der Welt. Mit der Verrückung einer einzigen Letter würde die ganze Schöpfung verrückt. Diese paranoische Vernunft arbeitete also nach den Skrupeln und skripturalen Vorbehalten talmudischer Schriftgläubiger. Diese Vernunft wäre buchstabengläubig, ihre Ratio folgte einer radikalen Theologie des Wortes und des Weltheils. Der anderen Möglichkeit nach wäre Karl Kraus ein Paranoiker, der überall Feinde sieht und wittert, der jedes winzige Zeichen - und sei es nur der Mückenflug der Zeitungslettern - einem bösen, fremden Willen zurechnet, der die Welt in den Abgrund zu stürzen versucht. Hier erinnerte Karl Kraus an den berühmten Senatspräsidenten Schreber, der in seiner vollendeten, großartigen Paranoia alle Ereignisse um ihn herum als Wunder betrachtete, die vom verschwörerischen Willen Gottes gelenkt und gesteuert waren. Schreber gelangte darum auch bisweilen zu der Auffassung, dass Fliegen und Mückenschwärme, die ihn störten, von Gott weltordnungswidrig in seine Nähe gewundert worden waren. Mücken, Insekten und Fliegen sind das Emblem des Paranoikers: "Welcher Dichter hat nicht zu seiner Fliege gesprochen?" fragt Canetti.

Denkt man nun allerdings daran, dass die siebenunddreißig Jahre der "Fackel" die Zeit der Katastrophen des Ersten Weltkriegs und auch des aufkommenden Faschismus waren, dann muss man diesem rabbinischen Gelehrten oder auch diesem pressekritischen Paranoiker Karl Kraus zustimmen und sagen, dass er mit Recht, mit gutem Recht die Macht der Druckpresse, ihre Sprachmacht erkannt hat und ihre Gewalt bis in die Grammatik, die Orthografie und Zeichensetzung hindurch anprangerte. Die Kritik der "Fackel" hätte danach der Welt keine paranoische Missdeutung der Zeichen, keine wahnhaften Konjekturen des universalen, apokalyptischen Unheils aufgeschwatzt, sondern die tatsächlichen Verhängnisse, das volle historische Desaster angekündigt. Eine an Kant geschulte Kritik der Paranoia müsste also die große Erkenntniskraft dieser rasenden Vernunft anerkennen, sie müsste an einer solchen Sprachauffassung, die Exaktheit, Unumstößlichkeit, den Scharfsinn und die prognostische Kraft der Kraus'schen Befürchtungen anerkennen.

Es war Elias Canetti, der hellsichtig davon gesprochen hat, dass Karl Kraus Festungssätze, zyklopische Mauersätze geschrieben und gesprochen hat. Alles war bei Kraus auf "Unangreifbarkeit" ausgerichtet. Mit ungeheurem Aufwand und beispielloser Sorgfalt kontrollierte Kraus jede Seite der "Fackel", die der der Öffentlichkeit übergab. Kein Fehler sollte diese Sprachbastion schwächen, sie durften "keine Lücke, keine Ritze, kein falsches Komma" enthalten. Selbst seine Leser forderte Kraus auf, sich an der Suche nach möglichen Druckfehlern zu beteiligen. Die Fackel sollte eine kollektive Festung bilden. Ein solches Gespür für die inneren Motive der Sprachbehandlung in der "Fackel", für die paranoische Vernunft bei Kraus konnte nur ein "Mit-Paranoiker", eine ganz gleich disponierte Wahrnehmung entwickeln. Es ist inzwischen bekannt, dass Elias Canetti in den ersten Jahren seiner Ehe mit Veza Canetti wahnhafte Anflüge hatte. Wie sein Biograf Sven Hanuschek dokumentiert, wandte sich Veza im Jahre 1936 brieflich des Öfteren an ihren Schwager Georg Canetti und berichtete besorgt von paranoischen Anfällen ihres Mannes, und Elias Canetti teilt in dieser Zeit dem Bruder auch persönlich mit, dass mit ihm alles "möglicherweise im Verfolgungswahn enden" werde.

Den Paranoiker "erregen Verdächte und nicht Tatsachen", schreibt Canetti in "Die Fliegenpein", und er fährt fort: "Tatsachen [...] können ärger sein als der Verdacht selbst - sie machen ihm keine Angst." Daher beruhigt sich der Paranoiker erst dann, wenn er sich davon überzeugt hat, dass er "wirklich vergiftet ist." Die Katastrophe ist das Milieu, wo er seiner geistigen Normalität sicher ist, während der Gleichlauf der Dinge die paranoische Vernunft dauerhaft beunruhigt. Die höchste Stabilität erreicht der Verdacht im Hass. Kraus wie Canetti waren große, unvergleichliche Hasser. Vermutlich ist Canetti in den Jahren von 1924 bis 1928, da der die Schule des Karl Kraus besuchte, in die Schule des Hasses gegangen. Und daher zeigen sie die Gemeinsamkeit, mit Kant zu sprechen, dass sie "sonst gleichgültige Handlungen anderer" als ganz auf sich und auf die Weltordnung gezielt betrachten. Es geht ihnen darum, allen Verstand und alle aus Hasskräften gespeiste Kritik zur eigenen Erhaltung aufzuwenden, aber die eigene Erhaltung setzen sie mit der Erhaltung der Welt gleich. Es ist nun ein bekannter dynamischer Zug, dass dieses paranoische, nämlich kritische Erkenntnis, dass dieser Hass, der sich die Wahnformen der Welt zum Gegenstand erhoben hat, auch ihre Feinde und Götter rasch wechseln kann. Die Monotonie des Bösen, der Macht, der Übel, der Gewalt, der Todesdrohung kann diverse Gesichter annehmen. Schlagartig kann ein und dieselbe Person sich von einem Gott in einen Teufel verwandeln. Dies nun widerfuhr gewiss auch nicht ganz zufällig Karl Kraus. In seinem Kraus-Essay "Die Schule des Widerstandes" aus dem Jahr 1965 hat Canetti diesen Prozess beschrieben, wie er den Götzen Karl Kraus, den Diktator und Festungsarchitekten der "Fackel", erst zu einem Gott erhob und es anschließend zertrümmerte. Er beschreibt genau den Verfolgungswahn von Karl Kraus, nämlich dass er von Stimmen verfolgt wurde, freilich von keinen eingebildeten, sondern von wirklichen Stimmen. Und er beschreibt die eigenen Verfolgung durch die Stimme von Kraus, die "Fackel im Ohr", die ihn unter der Diktatur dieser Stimme leben ließ und ihn der Anhängerschaft von Kraus einverleibte, deren größtes Vergnügen darin bestand, bei den öffentlichen Vorlesungen des Satirikers den Exekutionen der Feinde beizuwohnen: "Was eine Art von reißender Erwartung unter den Menschen im Saale schuf, war nicht so sehr der Urteilsspruch selbst als seine sofortige Vollstreckung." Das ist eine gleichförmige Aktionsart der paranoischen Macht, die Canetti dann in dem Kapitel über die Paranoia in "Masse und Macht" wieder aufnimmt. Der Sultan von Dehli, Muhammad Tughlak, der 1325 den Thron bestieg und 26 Jahre regierte, gilt Canetti als der "reinste Fall eines paranoischen Machthabers" Tughlak ließ jeden Tag Hunderte von gefesselten Untertanen vor seinen Thron führen und töten, foltern oder schlagen. Diese Strafen verhängte er beim bloßen Verdacht oder der Vermutung von Ungehorsam. Da die Hingerichteten immer drei Tage liegen bleiben mussten, fanden sich stets Haufen und Berge von Leichen im Hof des Palastes. Ganz nach dieser Herrscherart zeigt auch Kraus alle Züge des paranoischen Machthabers, wenn auch seine Hinrichtungen in effigie oder in littera stattfinden. Aber irgendwann, den Augenblick hat er nicht genau beschrieben, erwachte Canetti aus diesem Bann des Diktators Karl Kraus, irgendwann löste sich der "Fackel"-Ton aus seinem Ohr. Da aber setzte die Umkehrung ein: Kraus wurde vorübergehend zum Feind. In einer Notiz aus dem Jahre 1942 bezeichnet Canetti den zuvor so verehrten Kraus als einen Despoten, als "einen Mann, so persönlich und eigensinnig, so beschränkt und beinah so ungebildet wie Hitler" Der Hitler-Vergleich taucht noch einmal in einem Brief an den Bruder Georg auf, in einer Reaktion auf das große, mehr als 300 Seiten starke Fackelheft, das Ende Juli 1934 mit dem Titel "Warum die Fackel nicht erscheint" herauskam. Nachdem Kraus mehr als ein Jahr zur Machtergreifung der Nazis in Deutschland geschwiegen und seine Anhänger in tiefe Verzweiflung gestürzt hatte, erklärte er sich in diesem langen Text zu Gunsten des austrofaschistischen Kanzlers Dollfuß und gegen die Sozialdemokratie. In dem zu Lebzeiten nicht veröffentlichten Heft "Die dritte Walpurgisnacht" stand dann der unbegreifliche, aber satirisch gemeinte Satz "Zu Hitler fällt mir nichts ein." Im "Fackel"-Heft vom Juli 1934 hatte Kraus zuvor eine Wendung vollzogen und die Sozialdemokraten und die Arbeiterschaft politisch abgeschrieben. Er machte den Führern der Sozialdemokraten, die im Februar 1934 nur halbherzig einen Aufstand des Arbeiterschutzbundes unterstützt hatten, den Vorwurf, den Faschismus selbst verschuldet zu haben. So erklärt er: "Keine Möglichkeit sei gescheut, Intellektuellen, deren Horizont mit Für und Gegen abgesteckt ist, die Enttäuschung nicht zu ersparen, dass einer, der gegen Hitler schweigt, keine Bedenken trägt, für Dollfuß zu sprechen: dem er seit jenem zweiten Aspern Eigenschaften zuerkennt, die er Herrn Otto Bauer abspricht." 1809 war bei Aspern Napoleon geschlagen worden, im Februar 1934 hatte die österreichische Armee bei Aspern die aufständischen Arbeiter niedergemacht. Kraus sah keine Chance mehr dafür, dass die Arbeiterbewegung Einfluss auf den Gang der Dinge nehmen könnte. Sein politisches Urteil war keineswegs falsch. Aber auch Dollfuß, der im Juli 1934 ermordet wurde, konnte Hitler nicht "überhitlern", wie er es selbst ausdrückte. Nach der Lektüre dieses "Fackel"-Heftes schrieb Canetti an seinen Bruder:

"Ich schäme mich, von einem solchen Monstrum beeinflusst gewesen zu sein. Ich schäme mich des ungeheuren und bestimmenden Eindrucks, den seinerzeit der Kampf, den er nach dem 15. Juli gegen Schober führte, auf mich gemacht hat. Ich fürchte Spuren seines Einflusses in meinen Dramen und möchte ausmerzen in jeder Arbeit und in mir, was an ihn erinnert. Ich möchte ihn, obwohl er so schwach ist, körperlich züchtigen. Welch ein Thersites! Welch ein Goebbels im Geiste!" Und an anderer Stelle heißt es: "Karl Kraus ist der Meister der Phrase, er war so etwas wie ein Hitler der Intellektuellen."

Eigentlich bedürften beide Dokumente, die "Fackel" mit der Erklärung "Warum die Fackel nicht erscheint" sowie Canettis Reaktion eines ausführlichen Kommentars. Es sind beides eigentlich mörderische Texte, radikale Umkehrungen von Freund und Feind und zugleich selbstzerstörerische Akte. Canetti rückt den einst verehrten Despoten in die Rolle des Feindes oder vielmehr in die Hassposition, auf der für ihn bisher nur Hitler, Goebbels und die Phrase platziert waren. Er setzt exakt die Hinrichtungsformeln ein, die er dem großen Vorbild verdankt, und doch soll sein Fluch so effektiv sein, dass sich alle Spuren des verfluchten Idols in ihm selbst verflüchtigen. Man kann nicht die eigene Sprache verfluchen. Man könnte es bei dem Kommentar bewenden lassen, dass hier eine Erkenntnishaltung durch ihre eigene Paradoxie zermalmt wird. Sie beschreibt aber doch in paradoxer Gestalt wieder sehr genau, wie die Kritik der Paranoia unmittelbar an dem partizipiert, was sie befeindet.

Es sind vier Elemente, aus denen Canettis Kritik der Paranoia aufgebaut ist: aus dem Tod, dem Überleben, aus der Masse und der Sprache. Sie hängen miteinander zusammen. Ich erwähne nur zwei aus diesem System, das Überleben und die Sprache. Zunächst zum Überleben.

Canettis Kritik von Schrebers Wahn in "Masse und Macht" bildet den dichtesten und am klarsten ausgearbeiteten Teil seiner Kritik der Paranoia. Allerdings verstünde man diese Analyse nur unvollständig, wenn nicht die intellektuelle Familie dieses Schreber in Canettis Denken klar wäre. Zu dieser paranoischen Familie zählen er selbst, Hitler und Karl Kraus. Ich möchte nun kurz die wesentlichen Punkte von Canettis Kritik der Schreber'schen Paranoia anführen. Sie lassen sich unschwer auf den Schreibenden selbst beziehen.

"Er ist zum Glück kein Dichter" bemerkt Canetti gleich im ersten Absatz über Schreber. Was Schreber vorträgt ist gleichfalls ernst, es ist lächerlich, es ist eine Religion. Es geht um das ewige Leben. Schreber wird von einer ganzen Meute von Feinden bedrängt. Subjektiv, erklärt Canetti, ist das die Erfahrung eines jeden Machthabers. Aber Schrebers Wahn enthält ja auch die Vorstellung, dass er als einziger Mensch, als einziger menschlicher Rest einer Weltkatastrophe übrig geblieben ist. Dies ist allerdings der höchste Triumph der Mächtigen, und tatsächlich lässt sich das Verlangen, gleich die ganze Menschheit mit einem Schlage zu beseitigen, bei Machthabern wie Nero, Caligula oder dem bayrischen Ludwig II. beobachten. Dieser Einzige zu sein, bildet aber für Schreber kein selbstverständliches Privileg, sondern verdankt sich dem Überleben von unzähligen Attacken, die er über sich ergehen lassen musste: Angriffe durch Strahlen, Stimmen, kleinen, "hingemachten Männern". Diese Woge von Verfolgungen hat er überlebt und ihm das Gefühl eingeben, unsterblich zu sein. An dieser Stelle also, so dürfte sich die Lektüre Canettis im Geheimen weiter entwickelt haben, hat Schreber seine wahnhafte Größe erlangt. Jene Überlebensgröße nämlich, die Canetti selbst als Religion zu stiften gedachte.

Aber um welchen Preis? Wie präsentiert sich die Welt, wie formuliert sich die Erfahrung für einen solchen, durch Überlebenswahn Privilegierten? Der Wahn arbeitet als eine Maschine des Immergleichen. Hinter der Mannigfaltigkeit der Welt tauchen die Schatten der gleichen Gestalten und Figuren auf. Wie ein Platoniker erkennt der hellsichtige Paranoiker nur noch die wenigen Urgestalten des Seins, und das sind seine Feinde. Mit großer Aufmerksamkeit untersucht Canetti den Prozess des Gestaltverlustes und des Monotonwerdens der Welt im Auge des Paranoikers.

"Der Paranoiker leidet an einem Verwandlungsschwund, der von seiner eigenen Person ausgeht - sie ist in allem das Unveränderliche - und von da aus die ganze Welt überzieht. Sogar das wirklich Verschiedene sieht er gern als dasselbe. Seinen Feind findet er in den verschiedensten Gestalten wieder. Wo immer er eine Maske wegzieht, steckt sein Feind dahinter. Um des Geheimnisses willen, das er hinter allem vermutet, um der Demaskierung willen, wird ihm alles zur Maske. Er lässt sich nicht täuschen, er ist der Durchschauer."

Im Zuge dieser Entwandlung, die Canetti analysiert, nehmen zum Beispiel alle Patienten der Pierson'schen Anstalt, in der Schreber auch einige Zeit verbringt, das Gesicht von Bekannten an. Schreber beobachtet sogar, dass die Leute im Gesellschaftszimmer der Klinik ihre Köpfe wechseln, ohne das Zimmer zu verlassen und "auf einmal mit einem anderen Kopf herumlaufen".

Die Kehrseite oder die Spiegelseite dieser wachsenden Monotonie der Welt, die Canetti beobachtet, ist die Monotonie seiner Interpretation, die sich mit einer ähnlichen Hartnäckigkeit dieses Wahnsystems bemächtigt, indem sie die vier Elemente des paranoischen Wahns, die Masse, den Tod, das Überleben und die Sprache, ihre Herrschaft über die Interpretation ausüben lässt. Denn nicht nur in der Klinik, die Schrebers Auge abtastet, tragen ganz verschiedene Leute die gleichen Gesichter; auch in der von Apokalypsen bedrohten Welt des Kritikers der Paranoia stellen sich solche wahnhaften Verwandlungen ein. In der Welt des Pressefeindes Karl Kraus waren es der Verleger Ernst Benedikt, die beiden Kaiser Wilhelm und Franz Joseph, der Theaterkritiker Alfred Kerr, der Verleger Békessy, der Polizeipräsident Schober, die die lange Reihe der Feinde anführen, die das gleiche Gesicht der Welt zuwenden. Sie sind lediglich Kopien des "österreichischen Antlitzes", das die Synthese aller abscheulichen Physiognomien im Pandämonium der "Fackel" bildet. Alle diese auf den gleichen Nenner des Feindes, des Untergehers, gebrachten Gestalten werden auch mit der gleichen polemischen Gewalt, mit der gleichen satirischen Vehemenz angegriffen und zur Strecke gebracht. Dieser völlig homogen gezeichnete, immergleich konspirative Weltzerstörer, dieser monotone Feind dient ja eigentlich als Katalysator der kritischen Kräfte der Paranoia, die immer schon bereit stehen. Aber um in Bewegung gebracht zu werden, sind diese Kräfte der "Fackel" auf Zeichen angewiesen, auf unvollständige Texte, auf missglückte Äußerungen, auf Leerstellen, in denen das Verhängnis nisten kann, das der stets gleich redigierten Auslegung, der bereits protokollierten Erkenntnis zuarbeitet, dass Tod, Untergang und Weltverhängnis drohen.

Während Karl Kraus die Verzerrung, die Entstellung, die "falsch dichtende Einbildungskraft" der Journalisten mit dem klinischen Modebegriff der Hysterie bezeichnet und seine Kritik der Paranoia beziehungsweise seine paranoische Kritik die Hysterie zerschlägt, setzt Canetti bereits bewusst den Begriff Paranoia ein. Seine kritische Methode, seine kritische Investition ist die gleiche, nämlich eine radikale Reduktion der Phänomene auf wenige Grundbegriffe. Die gefährliche Welt, die Welt als Gefährdung wird nur von wenigen gleichgesichtigen Todesgefahren heimgesucht.

In seinem Kommentar zu Schrebers "Denkwürdigkeiten" ist dies besonders augenscheinlich, wenn es um die zentralen Themen dieses Buches geht: um Sexualität und Sprache. Gegen Freuds bekannte Abhandlung zu Schreber, den "Psychoanalytischen Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia" von 1911, die auf eine verdrängte Homosexualität des Mannes abhebt, weil dieser sich in ein Weib verwandelt fühlt, wendet Canetti ein, dass "alles" zum "Anlass" einer Paranoia werden könne. Entscheidend seien die Struktur und die Bevölkerung des Wahns. Er hebt hervor, dass das Zentrum der "Denkwürdigkeiten" Schrebers Abwehr der Angriffe auf seinen Verstand sei, nicht aber die Verwandlung in ein Weib. Das ist eine merkwürdige Verkehrung der Dinge: Denn wahnhaft ist gerade diese Verwandlung des Geschlechts, und der Angriff (der Krankheit) auf seinen Verstand ist vollkommen tatsachengemäß. Das Buch will den Wahn gegen alle Zweifel verteidigen. Canettis Abwehr der Psychoanalyse und seine Feindschaft gegen Freud bildet nun ihrerseits eine Hinterlassenschaft des Satirikers Karl Kraus. Mit einer gewissen Berechtigung darf man allerdings auch Freud zu den genialen Paranoikern zählen, zu den Männern, die rasch Feinde wittern und auf der Hut vor ihnen sind. Auch die Psychoanalyse trug in ihren Anfängen Züge eines Wahns, einer sich gegen zahlreiche Feinde zusammenschließenden Festung. Und die Psychoanalyse ist selbst eine Theorie der Feindschaft, der Abwehr, des Widerstandes, der Verdrängung, also eines dauernden innerpsychischen Kriegsgeschehens. Der Analyse dieser psychoanalytischen, "falsch dichtenden Einbildungskraft" widmet sich Canetti mit großem Einsatz. Allerdings kann es dabei nicht Wunder nehmen, dass Canetti in seiner Freud-Kritik alle Argumente anführt, die seine eigenen Analysen von "Masse und Macht" tragen. In einer nicht veröffentlichten Notiz des Nachlasses aus den vierziger Jahren heißt es:

"Das Peinlichste an Freud ist seine Enge; die Härte, mit der er gewisse Dinge aus seinem Gesichtskreis ausschließt, erinnert an die Härte des Geldes und an die Ausübung jüdischer Reinheitsvorschriften. Er gibt sich nie her, er bleibt immer geprägt und derselbe, und er weiß meist, was er denken will, bevor er sich umgesehen hat. [...] Seine Konzilianz ist einen Millimeter tief, seine Härte geht durch die ganze Erde. Er glaubt nur, was er kennt. Er kennt nur, was er sich denkt. Was er sich denkt, ist auf eine schrecklich manifeste Weise vorbestimmt. Es wird ihm Gesetz, sobald er denkt. Dieses im Tiefsten durchaus unkritische und zugleich phantasielose Denken hat den Charakter des jesuitischen Gesetzes wie nichts Andres das mir bekannt ist."

Diese in ihrer Radikalität und Schärfe unvergleichliche Bemerkung lässt sich erneut als Canettis Kritik der Paranoia lesen. Die Paranoia ist eine Bedrohung, die Psychoanalyse ist eine Bedrohung. Alle Bedrohungen sind vor allem daran erkennbar, dass sie als Maschinen der Homogenisierung arbeiten. Sie kennt keinen Zufall. Sie ist ein Wahn. Aber an den Kritiker der psychoanalytischen Paranoia geht die Frage: Was hat diese Härte und Gewaltsamkeit Freuds mit der Härte des Geldes zu tun? Was mit jüdischen Reinheitsvorschriften? Was mit dem jesuitischen Gesetz? Die Härte Freuds gehe durch die ganze Erde und kontaminiert die Welt. Gar nicht zu übersehen ist hier der Zusammenprall zweier paranoischer Kritiken. Sie sind keineswegs verrückt, sie sind keineswegs wahnsinnig. Sie sind auf eben beängstigende Weise scharfsinnig. Oder sie wäre es, um mit Kants Paranoia-Kritik zu urteilen: "Wenn nur ihre Data wahr wären".

Ich will mit einer Bemerkung zur Sprache schließen. Die Kritik der Paranoia ist einer zugleich realistischen und übertriebenen Auffassung von der Macht der Sprache auf der Spur. Diese Macht wird erlitten, wie es auch der große Paranoiker Daniel Paul Schreber bestätigt, der jahrelang vom Hören fremder Stimmen heimgesucht wurde. Und die Macht wird ausgeübt, denn Schreber war auch der höchste Richter des Königsreichs Sachsen. Die Macht der Sprache ist die Macht, der Canetti als Feind des Todes stets auf der Spur blieb. "Jedes Wort hat seine Opfer, auf die es mit Gewalt wirkt; manchmal glaube ich, dass ich aller Worte Opfer bin", heißt es in "Die Fliegenpein". Es sind Wortmassen, Wörtermassen, die aus ihm ein Opfer machen. Das ist in jeder Hinsicht wahr. Aber es wird erst vollends deutlich, wenn man in Canettis Ansprache mit der Überschrift "Wortanfälle" nachliest, welche eigentümliche Kraft und Energie der Worte er erlebt hat. Canetti beschreibt diese Wortanfälle als eine Macht des Lexikons selbst, dessen Einträge ihn in eine Art von pathologischem Furor versetzten und ihn während des Exils in England dazu zwangen, ganze Seiten mit solchen Worten zu füllen. Wörtermassen aus der in den Hintergrund verdrängten deutschen Sprache suchten ihn heim und zwangen ihn, sie niederzuschreiben. Canetti bringt diese private Erinnerung in Zusammenhang mit der aktuellen Weltlage, die im Jahr 1969 noch durch die Gefahr eines Atomkriegs bestimmt war. Zwar betont er den Kontrast zwischen der Vernichtung der Menschheit und den privaten, pathologischen Wortanfällen. Aber exakt das ist die Arbeitsweise der Paranoia. Sie macht aus Mücken Elefanten, sie macht aus Wortanfällen Weltuntergänge und Überlebensfantasien. Das ist ihr abduktives Delirium. Auch Canettis Beziehung zur Sprache ist ein großes Kapitel aus der Selbstaufklärung der rasenden Sprachvernunft, die die Kritik der Paranoia erst in Anfängen unternommen hat.