Am offenen Schädel

"Über die Chirurgie": Paulus Hochgatterer schneidet tief in die Seelen seiner Figuren

Von Ulrich RüdenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Rüdenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt Autoren, die ihren Figuren nicht zu nahe kommen. Sie tasten die Oberfläche ab und sind neugierig, wie die Sprache von dieser Oberfläche reflektiert wird. Und es gibt Autoren, die sich mit dem Skalpell an die Arbeit machen. "Nach Öffnen der Haut-, Subkutan-, Muskel- und Peritonaealnähte und Erweiterung der Schnitte präsentiert sich der Abdominalsitus so, als hätten hier in unmittelbarer Folge sieben Operationen stattgefunden..." Die Haut ist nicht mehr die Grenze. Hier wird aufgerissen und gebohrt und gestochert und geschnitten, bis alles darunter liegende ins grelle Licht gerückt ist. Literatur wird verstanden als Operation am offenen Herzen, und das Gehirn wird auch gleich mit auseinander genommen.

Paulus Hochgatterer ist ein Spezialist dafür, ins Innere seiner oftmals psychisch labilen, zwischen Wahn und Wirklichkeit verlorenen Figuren zu schauen. Und er tut das nicht unbedingt mit den Mitteln des psychologischen Romans, nicht mit Empathie, sondern kühl und chirurgisch genau. Erschreckend daran ist, dass diese präzise Vorgehensweise gar keine Klarheit erzeugt, sondern eine bedrohliche Stimmung: Wo vieles definiert wird, greift keine Definition mehr. Alles kann sich jederzeit auflösen, verschieben, verrücken.

Nun wurde Paulus Hochgatterers "Über die Chirurgie" aus dem Jahr 1993 erfreulicherweise neu aufgelegt. Der 1961 in Amstetten/Niederösterreich geborene Autor, der in Wien als Kinderpsychiater arbeitet, hatte mit damals 32 Jahren einen höchst ungewöhnlichen, irritierenden Roman veröffentlicht, der als beachtlicher, wenn auch wenig beachteter Auftakt für weitere höchst ungewöhnliche und irritierende Romane gelten darf. Drei Figuren - ein Arzt, ein Schriftsteller und eine Psychologin - verlieren darin nach und nach die Fähigkeit, der Norm entsprechend zu funktionieren. Ihre Ausbrüche werden penibel notiert. So inszeniert der Chirurg im Operationssaal blutige Dramen, die seinem Kopf entspringen, aber auf gewisse Weise nur kleine Gedankensprünge vom realen Geschehen entfernt liegen. Alle drei Erzähler vereint in ihrem beruflichen Dasein die Notwendigkeit, das Subkutane zu betrachten - der Schmerz, den das erzeugt, endet entweder im Zynismus oder im Wahnsinn. Hochgatterer lüpft die Schädeldecke, und seine pathosfreie Beschreibungssprache lässt das Gefundene noch viel obskurer erscheinen. Den montierten, zerstückelten, selbst Schnitte und Einschnitte aufweisenden Text aber nacherzählen zu wollen, stellt einen vor erhebliche Schwierigkeiten. Die Darstellung eines Kippzustands benötigt eine ebenso haltlose Erzwählweise. Das ist beim Lesen nicht immer leicht zu ertragen. "Über die Chirurgie" ist ein zerrissener, skeptizistischer Text, der sowohl das Schreiben als vages Konstrukt wie auch die Wissenschaft als Phantasmagorie entlarvt. "Der ganzen modernen Weltanschauung liegt die Täuschung zugrunde, dass die sogenannten Naturgesetze die Erklärungen der Naturerscheinungen seien." Dass es auch ein passagenweise absurd-witziger Text ist, zeigt sich etwa, als sich eine der Figuren durch eine Palette von Selbstmordmethoden arbeitet. Und am Ende zufrieden feststellt: "Als suizidales Gesamtkunstwerk entschlummerte ich diesem erfolgreichen Tag."

Titelbild

Paulus Hochgatterer: Über die Chirurgie. Roman.
Deuticke Verlag, Wien 2005.
187 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3552060030

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