Erzählen als Passion

Michael Köhlmeiers Erzählband "Der traurige Blick in die Weite"

Von Brigitte RubanRSS-Newsfeed neuer Artikel von Brigitte Ruban

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die erste Geschichte handelt von der Großmutter des Erzählers, die Geschichten erzählte, um die Welt durch Erzählen wieder ins Lot zu bringen. Demnach bedeutet für Köhlmeier Erzählen, die Welt besser verständlich zu machen und den Zerfall aller Werte, den Zerfall der modernen Welt mittels Erzählen aufzuhalten. In einem Gespräch erklärt der Autor: "Ich bin der altmodischen Meinung, daß man gegen den Zerfall der Dinge, den Zerfall von Ursache und Wirkung, anschreiben muß. Der einzige Sinn kann nur darin bestehen, daß ich Dinge und Geschehnisse in der Welt in eine Beziehung bringe. Wenn ich das nicht mehr kann, dann zerfällt die Welt in lauter, für sich stehende Einzelheiten. Das ist meiner Meinung nach eine Katastrophe. Daß alles miteinander in Verbindung steht, ist von mir eine fixe Idee. Wahrscheinlich deshalb, weil ich halb daran zweifle, mir keinen Reim darauf bilden kann, und halb daran glaube, daß alles wiederherstellbar ist. Ich betreibe Literatur nur aus diesem Grunde. [...] Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Ich sage zu Ihnen: 'Ein rosarot gefärbtes Bier, ein Kamm, in dem etliche Zacken fehlen, und ein Taxi, das einen Platten hat, jetzt bringen Sie diese drei Dinge in Zusammenhang!' Es gibt nur eine Möglichkeit, diese Dinge in Zusammenhang zu bringen, indem sie eine Geschichte erzählen! [...] Den Zerfall aller Werte kann man nicht mehr rückgängig machen, man kann vielleicht die Einzelteile zusammenhalten, indem man erzählt. Eine andere Existenzberechtigung für meine Person sehe ich nicht, so definiere ich mich."

In der letzten Geschichte fungiert ein Rezept für fränkischen Sauerbraten als Metapher. Familiengeschichten, Märchen etcetera werden von Generation zu Generation weitererzählt und immer wieder wird etwas verändert, verwandelt - werden Rosinen weggelassen, wird Gorgonzola dazugegeben, statt Weißbrot anderes Brot verwendet wie "Schwarzbrotbrocken, Süßbrotbrocken, Pumpernickel, aber natürlich hauptsächlich Weißbrotbrocken."

So verfährt Köhlmeier auch in den restlichen Erzählungen des Bandes. Er nimmt Märchen, Legenden, Anekdoten und Mythen und bildet daraus seine eigenen Geschichten, läßt immer wieder eine ganz andere Erzählerstimme sprechen, variiert die Formen und verwendet mitunter auch Sonette, Balladen und Lieder. Lose zusammengehalten werden diese aber auch durch eine Sehnsucht der Figuren, sei es eine Sehnsucht nach der Heimat oder eine nicht zu definierende, die nicht einmal die Figuren selbst zu benennen wissen. So hat auch kaum eine ein Happy End. Köhlmeier erzählt Geschichten aus England, Irland, Dänemark, Schweden, Finnland, Portugal und Holland, er berichtet von einem Treffen zwischen Bobby Fischer und Bob Dylan, vom Tod Hank Williams', von Elfen und Riesen, von Jack Buttermilch und von Johannes dem Täufer - "so oder so ähnlich."

Auch wenn nicht alle Geschichten gelungen sind, so machen Kleinigkeiten, kleine Wendungen, das Weitausholen Köhlmeiers Geschichten liebenswert; wenn der Erzähler etwa über Pallas Athene sagt: "In voller Rüstung stand sie da, prächtig, gescheit, humorlos."

Titelbild

Michael Köhlmeier: Der traurige Blick in die Weite. Geschichten von Heimatlosen.
Deuticke Verlag, Wien 1999.
207 Seiten, 20,40 EUR.
ISBN-10: 321630485X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch