Die Furcht vor den Danaern, auch wenn sie Geschenke bringen

Pierre Bourdieu zum 75. Geburtstag

Von Heiko GrunenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heiko Grunenberg

"Der berühmte französische Soziologe", "einer der letzten großen Soziologen des 20. Jahrhunderts", "das 'enfant terrible' des europäischen Universitätsbetriebs", "ein intellektueller Machthaber", "einer der letzten großen engagierten Intellektuellen", "der Wortführer der linken Intellektuellen", "ein intellektueller Volkstribun", "der denkende Kämpfer und kämpfende Denker", "der engagierte Streiter für die Rechte der Benachteiligten und der Unterdrückten", "einer der letzten Soziologen-Popstars", "eine der meinungsbildenden Persönlichkeiten des Landes", "der Großmeister der Intervention", "der Zola der Finanzplätze", "der Beamtensohn", "der Südfranzose", "der kleinwüchsige Franzose", "der Mann mit dem Gesicht eines schlauen Bauern und einer maskulinen, fast groben Aura" - um nur einige Titel zu nennen, mit denen man Pierre Bourdieu bedacht hat.

"Au boulot!" - "An die Arbeit!" rief Bourdieus Sohn Jérôme in seiner Trauerrede den gut Tausend Versammelten im Théâtre de la Colline in Paris zu. Sie waren am 3. Februar 2002 gekommen, um die sterblichen Überreste seines Vaters Pierre-Felix zum nahe gelegenen Friedhof Père-Laichase zu geleiten. Vor nunmehr 75 Jahren, am 1. August, begann eine Biografie, die ihr vorläufiges Ende gefunden hat auf dem Gräberfeld 28, in einer schlichten Gruft in zweiter Reihe, versehen mit einem hüfthohen Grabmal aus Sandstein. Als sei es Bourdieus Absicht gewesen, fragt sich der Besucher: Was mag der Verdienst derjenigen sein, die in Sichtweite all die ungleich mächtigeren Austattungen haben auftürmen lassen? Postmortale Segregation hat das einmal jemand genannt - und die Frage ist Unsinn. Was der Volksmund seit Jahrhunderten mit dem Spruch "Das letzte Hemd hat keine Taschen" beschreibt, hat der säkulare Arm der Aufklärung ausgeweitet auf Geist, Körper und Psyche. Der Abschied vom zirkulären Zeitverständnis verschiebt den Fokus auf das Diesseits. Pierre Bourdieu hat seine Zeit genutzt, das Œuvre ist schwer überschaubar, und noch immer erscheinen neue Werke: Übersetzungen, Sammelbände, Interviewtranskriptionen und dergleichen mehr.

Wie groß Bourdieus Verdienste sind, darüber herrscht Uneinigkeit. Einvernehmen besteht dagegen in der Einschätzung, dass da ein eigentümlicher Mensch gelebt hat. Das derzeitige Wissenschaftssystem dürfte einen vergleichbaren Soziologen nicht so schnell wieder hervorbringen, charakterisieren ihn doch die momentanen Karrierekiller für Wissenschaftler: Engagement für eine normative Praxis, theoretische Arbeit auf vielen verschiedenen Gebieten, Parteinahme, die Aufwertung des Stellenwertes von gesellschaftlicher Praxis, fehlender akademischer Habitus und Interesse an verschiedenen Fachdisziplinen. Max Weber kann ihn kaum gemeint haben in seinem Albtraum vom Wissenschaftler als Fachmensch ohne Geist und Genussmensch ohne Herz. Daraus folgt fast zwangsläufig eine Persönlichkeit, der der bereits zitierte Volksmund viele Feind' und viel Ehr' zugleich zuschreibt. Über beide hat er zweifelsohne verfügt.

Bisweilen wird behauptet, Bourdieu habe der akademische Mainstream erst dann Probleme bereitet, als er begann, politisch-praktisch zu intervenieren. Sollte dies kausal zusammenhängen und keine zufällige zeitliche Koinzidenz sein, so wäre es eine weitere Begebenheit in einer langen und alten Tradition der Wissenschaftsgeschichte, die charakterisierbar ist durch zwei Ausprägungen: Zum einen die wichtige und immer aktuelle Diskussion um das gute alte Werturteil in der Wissenschaft und zum anderen die meist von den jeweiligen Apologeten geführte Auseinandersetzung um Veränderung und Bewahrung des Bestehenden. Die nahezu triviale Lehre aus "Kuhle Wampe", dass diejenigen die Welt verändern würden, denen sie nicht gefällt, findet die Entsprechung im akademischen Betrieb. Häufig gefällt den Leuten die Welt eben, wenn die Etablierung stattgefunden hat. Diejenigen, die Veränderung denken wollen, werden beargwöhnt. Auf den ersten Blick erscheint es in diesem Zusammenhang merkwürdig, dass ausgerechnet an der Theorie Bourdieus bemängelt wird, sie beinhalte den Aspekt des Wandels nur unzureichend. Doch fällt auf den zweiten Blick noch etwas anderes auf. Betrachtet man nämlich das Habituskonzept Bourdieus, eines seiner wirkmächtigsten Konzepte, so fallen zwar konkrete Angebote auf, die er bietet, um Wandel zu erklären. Das aber dennoch genau hier oft Kritik ansetzt, scheint an einigen gesellschaftlichen Kontextbedingungen zu liegen. Nebenbei bemerkt sind kaum Theorien bekannt, in denen die Verknüpfung von Mikro-Ebene des konkreten Handelns und gesamtgesellschaftlicher Makro-Ebene greifbarer erscheinen als durch das Habituskonzept. Kristallisationspunkt des ganzen ist die Herausbildung geschmacklicher Urteilskraft betreffend Kultur, Kunst, Literatur, aber auch Nahrung, Kleidung oder Bewegung.

Nun ist den einen, die Bourdieu von Haus aus recht nahe stehen und die sich gern pauschalisierend unter dem Label des kritischen oder gar globalisierungskritischen Lager subsumieren, die Konzeption meist zu deterministisch. Wenngleich die Marx'sche Annahme vom Sein, das das Bewusstsein bestimmt, viel weiter in dieselbe Richtung geht, erscheint das Habituskonzept deshalb so treffend, weil es vordergründig nur einen seichten und sachten Wandel vorsieht, hintergründig einen anderen Wandel aber nicht ausschließt, dies andererseits auch nicht zum expliziten Gegenstand der eigenen Theorie macht. Jedenfalls wird hier Determinismus gesellschaftlicher gedacht, im Sinne eines Fortbestands, als bei denjenigen, die sich nicht damit anfreunden können, dass der freie Wille des Menschen vielleicht nicht so frei ist, wie sie gerne möchten. Störend ist der Einzelfall der eigenen Biografie. Wer hat es schon gern, wenn jemand behauptet, die vielen Aktivitäten des eigenen Lebens gingen nicht auf eine individuelle Auswahl bastelbiografischer Wahlmöglichkeiten zurück. Hier geht es ins Herz der Ich-Konzeption des 20. und 21 Jahrhunderts, es ist ein Stich in die Selbstreferenzialität: Ich als Kultur-Subjekt wähle meine ganz persönliche Lieblingsmusik, meinen Lieblingsautor, meine Kleidung, mein Lieblingsreiseland und meine Kunstrichtung. Heraus kommt das ästhetische Gesamtkunstwerk der eigenen Person - und das habe ich mir doch schließlich selbst ausgewählt! "Distinction" heißt das Hauptwerk Bourdieus, "Die feinen Unterschiede" im Deutschen, ausnahmsweise ein nicht schlecht gewählter Titel.

Diejenigen, die Bourdieu nicht sonderlich nahe stehen, kritisieren anders, meist formaler, methodologischer und wissenschaftstheoretischer. Es scheint daher manchmal, als stünden sie ihm gerade deshalb näher als ihnen lieb ist.

Auch die Betrachtung der Gesamterscheinung menschlicher Niederschriften, im Speziellen der Literatur, ist durch Bourdieus Theorie bereichert worden. In "Die Regeln der Kunst" (Orig. "Les règles de l'art", 1992) entfaltet er im Anschluss an zahlreiche vorangegangene Artikel, die Theorie des literarischen Feldes in der Schnittmenge zwischen Literaturwissenschaft und Soziologie. Wie so oft, wenn die Grenzen der Disziplinen überschritten werden, werden diese Bereicherungen jedoch als Danaergeschenk betrachtet, das nicht in die Einfriedung passt. Die Analyse von Literatur wird nach Bourdieu aus der Perspektive der literarischen Produktion betrieben. Sie befindet sich weder auf der Seite der Autonomieästhetik noch auf der Auslegungshermeneutik, lehnt die Beschreibung des künstlerischen als zweck- und funktionsfrei sowie das Primat von der Form über den Inhalt ab. Im Fall der reinen Hermeneutik handele es sich um Auskünfte gebildeter Literaturkenner, die ihren historisch kontingenten Elitegeschmack für repräsentativ hielten, meint Bourdieu. Seine Theorie vermag sich selbst theoretisch zu betrachten. Bourdieu versucht mit Hilfe seines Feld-Konzepts und seinen altbekannten Kapitalarten, eine Strukturierung der Produktionsbedingungen von Kultur zu ermöglichen. Dem Vorwurf, die soziologische Analyse profaniere das künstlerische Werk, tritt er en gros mit dem Argument entgegen, dass damit ein Ausnahmestatus eines Gegenstands postuliert werde, der diesen dem wissenschaftlichen Zugriff entziehe. Zerstört werde gerade nicht die Individualität des Werkes, die klar werde nach geduldiger Rekonstruktion des sozialen Raumes. Darüber hinaus müssten zu Beginn jeder Analyse semantische und formale Strukturen der Werke freigelegt werden.

Freilich hat Bourdieu auch der Literaturkritik etwas zu sagen. Zwar ist seine Sichtweise ur-soziologisch, doch bietet sie für eine Disziplin, der oft von außen vorgeworfen wird, es mangele ihr an validen Methoden, eine bereichernde und nicht vereinnahmende Perspektive, die ein spezifisches Instrumentarium an die Hand gibt. Vielleicht wird dieser Zugang einmal ein weiterer Standardweg sein zwischen Autonomieästhetik und Auslegungshermeneutik. Schwierig an der Handhabung ist letztlich die ständige Konfrontation mit sich selbst und der eigenen Kapitalart-Gebundenheit. Die eigene Analyse der Geschmacksausbildung im Verlauf eines Lebens führt die Lesenden oft in unangenehme Bereiche, die aufschlussreicher sein können als die angenehmen.

"An die Arbeit!" lässt sich nicht nur als Aufruf zu einer Aktivität verstehen, die nun begonnen werden muss, denn Aktivität im Bourdieu'schen Sinne ist auf einer allgemeineren Ebene mit Theorie verschränkt - beide Ebenen können nicht ohne einander. Die Theorie des Feldes und des Habitus ist keine, die um ihrer selbst betrieben werden kann, sie hat in jeder überindividuellen Äußerung zugleich eine Relevanz für und Wirkung auf das ihr eigene Feld. Selbst wer unterstellt, dass Kunst einen Selbstzweck aufweist, der kann dies nur schwerlich für die Arbeit mit Kunst oder für ihren Konsum behaupten. Bourdieu jedenfalls hätte dies nie getan.