Entschädigung mundgerecht

Thomas Kuczynski rechnet vor, was Deutschland den NS-Zwangsarbeitern wirklich schuldet

Von Christian WerthschulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Werthschulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Erscheinen einer neuen Studie zur Problematik der Zwangsarbeiterentschädigung überrascht zunächst, liegen die erfolgreichen Verhandlungen zwischen den Vertretern der Opfer, der Bundesregierung und der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft doch bereits fünf Jahre zurück. Seitdem haben sowohl die Stiftungsinitative wie auch der Unterhändler der US-Regierung, Stuart Eizenstat, die Gelegenheit genutzt, ihre Version des Geschehens zu Papier zu bringen. Mit Thomas Kuczynski veröffentlicht nun ein weiterer Beteiligter des Geschehens seine Niederschrift der Ereignisse.

Im Herbst 1999 legte Kuczynski im Auftrag der Stiftung Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts ein Gutachten für die Anwälte Michael Witti und Ed Fagan vor, welches den Wert der den Zwangsarbeitern vorenthaltenen Löhne beziffern sollte. Dieses wurde nun in überarbeiteter Form unter dem Titel "Brosamen vom Herrentisch" im Verbrecher Verlag veröffentlicht. Kuczynskis Zahlen überraschen: Anstatt 8,1 Milliarden DM, die in den Entschädigungsverhandlungen vereinbart wurden, kommt er auf eine Summe von 180,5 Milliarden bzw. 220 Milliarden in der überarbeiteten Fassung, die den Zwangsarbeitskräften an ausstehendem Lohn zugestanden hätten. Ein Ergebnis, das Kuczynski mit folgenden Worten kommentiert: "Wer meint, es lägen Welten zwischen den Beträgen, hat nicht unrecht." Ein Erklärungsansatz dieser Diskrepanz ist ebenso Gegenstand seiner Studie wie eine detaillierte Aufschlüsselung des Lohnraubs an den verschiedenen Opfergruppen und ein kurzer Abriss über die Geschichte der Entschädigungspraxis.

Diese beginnt im Jahr 1953 mit dem so genannten "Wollheim-Prozess", in dem der jüdische Zwangsarbeiter Norbert Wollheim nach einer Zivilklage 10.000 DM für seine Arbeit im IG-Farben-Werk Auschwitz-Monowitz zugesprochen bekam. Kuczynski hebt an diesem Prozess zwei Aspekte hervor: Zum einen wurde danach in einem Zeitungskommentar die gesamte Summe der Entschädigungszahlungen an Zwangsarbeitskräfte auf 40-50 Milliarden DM geschätzt - ein Betrag, der nach Inflationsausgleich im Jahr 1999 etwa 150-190 Milliarden DM (also der Summe von Kuczynskis Gutachten) entsprochen hätte. Zweitens wurde die Zahlung des Betrags von der IG-Farben seinerzeit auch als "Geste des guten Willens" betrachtet, eine Haltung seitens der Wirtschaft, die sich bis in die Verhandlungen der Jahrtausendwende fortsetzen würde.

Laut Kuczynski waren zivilrechtliche Klagen deshalb nötig, weil strafrechtliche Klagen nach westdeutschem Recht nur wenig Aussicht auf Erfolg hatten. Dies erklärt er mit der offen gelassenen Frage der Reparationszahlungen im Londoner Schuldenabkommen von 1953, das die Frage von Reparationen zwar zum Inhalt eines eventuellen Friedensvertrags machte, deren endgültige Klärung jedoch auch mit dem Zwei-plus-vier-Vertrag nicht zwingend forderte. So fehle auch im vereinten Deutschland nach wie vor eine Rechtsgrundlage für Entschädigungszahlungen. Demgegenüber steht die DDR, in der die Möglichkeit der Entschädigungsforderung ebenfalls nicht gegeben war, da zum einen Polen und die UdSSR bereits 1954 auf Reparationsforderungen gegen die DDR verzichteten und die Konzerne, an die Ansprüche hätten gerichtet werden können, nicht mehr existent waren. Stattdessen gab es eine staatliche Sonderzuwendung für "Verfolgte des Nazi-Regimes", deren Höhe zwar die in der BRD erzielten Ausgleichszahlungen übersteigen konnte, aber bestimmte Opfergruppen vom Anspruch ausschloss.

Es verwundert daher nicht, dass fast sämtliche Entschädigungszahlungen der BRD Resultat außergerichtlicher Vergleiche waren. Den Hintergrund dieser Zahlungen, die nur durch starke Bemühungen der Jewish Claims Conference zustande kamen, bildete in vielen Fällen das Misslingen eines Auslandsauftrags (Abkommen mit Rheinmetall) oder der eventuelle Verlust eines Konzernteils (im Fall von Krupp 1959). "Insofern kann keine Rede davon sein, dass vor 1989 irgendeines der bundesdeutschen Unternehmen freiwillig oder gar als 'Geste der Versöhnung' gezahlt habe, [...] sie haben allein aus ökonomischen Gründen gezahlt."

Nach dem Beitritt der DDR zur BRD 1990 stellte das Bundesverfassungsgericht 1996 die Zulässigkeit von Individualklagen gegen Unternehmen wegen Zwangsarbeit fest. Daraufhin folgte unmittelbar eine Klagewelle vor den Arbeitsgerichten gegen deutsche Unternehmen aufgrund der Gefahr der Verjährung. Das Bundesarbeitsgericht erklärte diese jedoch nicht für zuständig, da es sich nicht um ein ordentlich abgeschlossenes Arbeitsverhältnis gehandelt habe, sodass damit und aufgrund der Verjährung von Ansprüchen aus dem BVG-Urteil von 1996 oder dem Zwei-plus-vier-Vertrag alle Versuche scheitern mussten, auf gerichtlichem Wege eine Entschädigung zu erhalten. Kuczynski sieht in dieser Praxis eine Verletzung des Beschlusses der UN-Vollversammlung vom 27. November 1968, nach dem Kriegsverbrechen (und ein solches war die Zwangsarbeit nach dem Statut des Nürnberger Militärgerichtshofs) und Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht verjähren können.

Die Initiative zu den Verhandlungen der Jahre 1999 und 2000 kam dann auch aufgrund von Spezifika des US-amerikanischen Rechtssystems, wie der Sammelklage oder dem Alien Tort Claim Act (einer Möglichkeit der Klage vor amerikanischen Gerichten gegen Menschen, die nicht Staatsbürger der USA sind) zustande. Eine weitere Ursache sieht Kuczynski in der negativen Publicity, die das Verhalten der Schweizer Banken beim Transport des Nazi-Raubgolds ausgelöst hatte.

Insgesamt geht er von 13,5 Millionen Zwangsarbeitskräften aus, macht jedoch nicht diese Gesamtzahl, sondern die Anzahl der geleisteten Arbeitsjahre zur Grundlage seiner Untersuchung.

Detailliert addiert Kuczynski die Löhne verschiedener Gruppen von Kriegsgefangenen (zivile Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge, sowjetische Kriegsgefangene sowie aus anderen Ländern). Alles zusammengenommen ergibt sich ein Anteil des vorenthaltenen Lohns von 61,7 Prozent, dem ein Durchschnittsbruttolohn von 2098,75 RM pro Arbeitsjahr zugrunde liegt, dies sind bei 6,35 Mio. Arbeitsjahren 8,2307 Mio. RM.

Besonders schwierig gestaltet sich die Berechnung der ausstehenden Lohnforderungen für die Zwangsarbeiter, die in den okkupierten Gebieten eingesetzt wurden. Hier fehle es an verlässlichen Daten.

Als Gesamtergebnis seiner Untersuchung stellt Kuczynski fest, dass die deutschen Unternehmen durch den Einsatz von Zwangsarbeitskräften 20.507 Milliarden Reichsmark an Lohnkosten einsparen konnten, dies entspricht einer Ersparnis von 48,5 Prozent gegenüber dem Einsatz regulärer Zivilarbeitskräfte. Diese Summe kann allerdings laut Kuczynski nicht analog der Währungsreform von 1948 mit einer Abwertung um 90 Prozent in DM umgerechnet werden, da sie nicht der Erhöhung des Kapitalstocks gedient, sondern als Investition in Anlagen fungiert habe: "Trotz des verheerenden Bombenkriegs war das gesamte Anlagevermögen der (west-)deutschen Industrie zu Kriegsende höher als zu Kriegsbeginn, insbesondere in der Schwerindustrie, wo der Vermögenszuwachs während der sechs Kriegsjahre kaum geringer war als während der Rüstungskonjunktur, den sechs dem Krieg vorausgegangenen Jahren. Die Leichtindustrie konnte ihr Kapitalvermögen während des Krieges zwar nicht, wie in den Jahren der Rüstungskonjunktur, erhöhen, aber den 1939 erreichten Stand halten."

Die so investierten Raublöhne stellen damit zugleich eine Basis für den ökonomischen Erfolg der frühen BRD dar. Kuczynski schlägt als Faktor für die Umrechnung in DM das geometrische Mittel aus dem Anstieg des Preis- (Faktor 5,64) sowie des Lohnindex' (Faktor 21,29) vor und gelangt so zu einem Faktor von 11.121, mit dem die 20.507 Milliarden DM multipliziert werden. Dies ergibt eine Summe von ca. 228 Milliarden DM, das entspricht etwa 15.000 DM pro Zwangsarbeitskraft.

Diese eklatante Differenz zum letztlich erzielten Verhandlungsergebnis von 8,1 Milliarden DM erklärt Kuczynski folgendermaßen: Die Beschränkung der Zahlungen an Überlebende verringerte den Betrag um 80 Prozent auf 45,6 Milliarden DM, der Ausschluss Kriegsgefangener vom Entschädigungsanspruch auf 39,34 Milliarden DM, der Ausschluss von Land-, Kommunal- und Hausarbeitskräften auf 20,94 Milliarden DM. Die Tatsache, dass nur Lagerhäftlinge den Höchstbetrag an Entschädigung erhalten, alle anderen Opfer jedoch maximal ein Drittel dieses Satzes, führt zu einer Summe von 8,4 Milliarden DM. Die Restdifferenz von 300 Millionen DM schreibt er mit unverhohlenem Sarkasmus der Einrichtung des so genannten "Zukunftsfonds" zu. "Diese Auflistung belegt nur den Realitätsgehalt der Schätzungen. [...] In den Punkten eins bis vier wird vorausgesetzt, was bei den Verhandlungen nie gegeben war, daß nämlich die historische Realität in den vorgebrachten Forderungen und Erwiderungen irgendeine Rolle gespielt hätte."

Seine Kritik trifft jedoch nicht nur die Seite der Unternehmen und der Bundesregierung, die die Verhandlungen nach der Devise "so wenig wie möglich geführt hätten" und somit eine bemerkenswerte Kontinuität in ihrem Verhalten offenbarten. Auch die frühe Nennung von niedrigeren Zahlen als im Gutachten durch die Opferanwälte Fagan und Witti sowie durch Stuart Eizenstat werden als negativ für das Gesamtergebnis der Verhandlungen gewertet. Dies hindert ihn jedoch nicht, die Zahlungspraxis der Unternehmen anzuprangern, die sich in dem Satz "Wir wollen nicht zahlen" bestens zusammenfassen lässt und damit eigentlich keines weiteren Kommentars bedarf.

Kritik an den Vertretern der Opfer formuliert er vorsichtig und unter Rückgriff auf historische Quellen. Der im seinem Gutachten von 1999 vorgeschlagene Zukunftsfonds falle mit 700 Millionen DM viel zu gering aus, um die Nachkommen der Entschädigungsberechtigten adäquat zu entschädigen. Auch vermisst er bei der Jewish Claims Conference den Willen, die Mühen der Auszahlung an Nachkommen von Zwangsarbeitern auf sich zu nehmen. Die Zustimmung zur Entsolidarisierung der Opfergruppen, durch den Ausschluss von Kriegsgefangenen sowie Opfern aus Ländern, die nicht mit am Verhandlungstisch saßen, ist ihm ein Extra-Kapitel seines Buchs wert. Zu guter Letzt weist Kuczynski noch auf das Verhalten der deutschen Bevölkerung hin, die Brosamen vom Herrentisch gerne als letzte Geste zur Wiedergutmachung akzeptierte: ein Antifaschismus ohne Konsequenzen, der sich quer durch die Parteien zieht und nur von wenigen Individuen deutlichen Widerspruch erfuhr.

Kuczynskis Berechnungen machen einmal mehr das Ausmaß der Profitschöpfung deutlich, der das System der Zwangsarbeit diente. Es dient damit als Kontrapunkt zur immer noch anhaltenden Debatte um die Sammlung von Friedrich Christian Flick, der seine Spende über 5 Millionen Euro an die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft aus "Respekt und Mitgefühl" gegenüber den Opfern der Zwangsarbeit tätigte. Eine Begründung, die verdeutlicht, wie sehr diese Debatte in den Begrifflichkeiten von persönlicher Schuld unter Ausblendung von Aspekten persönlicher und gesellschaftlicher Verantwortlichkeit geführt wird.

Titelbild

Thomas Kuczynski: Brosamen vom Herrentisch.
Verbrecher Verlag, Berlin 2004.
208 Seiten, 13,00 EUR.
ISBN-10: 3935843372

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