Auf den Spuren des Historismus

Birger Solheim verrätselt Thomas Manns "Doktor Faustus" und Theodor Fontanes "Der Stechlin"

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Realismus nimmt der Historische Roman eine nicht unbedeutende Stellung ein, wird der Literatur doch die Aufgabe zugeordnet, die historische Ereignisgeschichte literarisch zu reinterpretieren und mit "Sinn" zu erfüllen. Doch auch im 20. Jahrhundert, nach dem Ende des Historismus und seiner Krise, sind noch bedeutende historische Romane geschrieben worden, wie Döblins "November"-Tetralogie (1939-1943) oder Heinrich Manns "Henri Quatre" (1935, 1938) belegen. Vergleichbar, aber nicht kongruent mit dem Genre sind Romane wie Thomas Manns "Doktor Faustus" (1947) oder Theodor Fontanes "Der Stechlin" (1898), ist beiden doch Geschichte und Geschichtsreflexion in spezifischer Weise eingeschrieben. Nicht nur wird Geschichtsdenken in ihnen explizit thematisiert, auch geht es ihnen darum, in der Tradition der "Zeitromane" einen Beitrag zur Realitätsbewältigung ihrer Primärrezipienten zu leisten. Der Exil-Autor Thomas Mann, der "immer auf 'Repräsentanz' eingestellt" war, hatte von Amerika aus versucht, seine Landsleute über das Wahnsystem des Hitlerismus aufzuklären ("Deutsche Hörer!", 1942, 1945) und rekonstruierte in seinem Roman "Doktor Faustus" den Zusammenhang von "nationaler" Stereotypie und "Deutschtum". Fontane hingegen, dessen Repräsentanz im ausgehenden 19. Jahrhundert von ähnlichem Gewicht war, betrachtete die preußische "Zivilisation" als einen Akt der "Rebarbarisierung" der europäischen Denk- und Kulturtradition.

Birger Solheim unternimmt nun den Versuch, Fontanes "Stechlin" und Thomas Manns "Doktor Faustus" als historische und metahistorische Kommentare ihrer Zeit zu lesen, was ihm jedoch nur sehr unbefriedigend gelingt. Denn die verschiedenen Ausprägungen des Historismus werden zwar - ebenso wie das auf Hayden White zurückgeführte Konzept der Metahistory - eingehend analysiert, doch bleibt uns Solheim eine Synthese schuldig, die uns ein schlüssiges Verknüpfungsargument für den vormodernen Fontane und den nachmodernen Mann an die Hand gäbe. Zwar werden allerlei Theoriekonzepte von Nietzsche über Spengler bis hin zu Treitschke und Langbehn aufgeboten, doch ergeben sich in der Auswertung dieser nacheinander abgearbeiteten und nicht befriedigend miteinander in Beziehung gesetzten Œuvres nurmehr Gemeinplätze wie die, dass alle Autoren unter den Bedingungen einer historischen Krise gelebt und gearbeitet hätten und dass hier wie dort der Aspekt der "Staatstreue" eine herausragende Rolle gespielt habe. Solheim wertet Fontane als Propheten, der das "Haus" des Deutschen Reiches "wackeln" sah, und Thomas Mann als "Biographen" des deutschen Unheils im 20. Jahrhundert. Friedrich Nietzsche schließlich wird als Kritiker von Hegels historisch-dialektischem Systemdenken und als Skeptiker der hegelianischen Geschichtsteleologie eingeführt, der im Gegensatz zur "sokratischen Aufklärung" stünde, aber ihr verhaftet bliebe und das "Leben" gegen den traditionellen Historismus verteidigen wolle. Er sei von den deutschtümelnden Gefolgsleuten Hitlers nur falsch interpretiert worden, wie auch Thomas Mann in seinem Nietzsche-Essay zu zeigen versucht habe:

"Und daß das deutsche Bürgertum den Nazi-Einbruch mit Nietzsches's Träumen von kulturerneuernder Barbarei verwechselte, war das plumpste aller Mißverständnisse."

Diese Thesen sind weder neu noch originell, und da Solheim methodisch auf den Spuren der älteren (und eher spekulativen) Einflussforschung wandelt, versucht er die Spuren aufzuweisen, die etwa Kierkegaard, Schopenhauer oder Wagner in den intellektuellen Profilen der Figuren Fontanes hinterlassen haben mögen - oder eben Spenglers Kulturmorphologie (und seine "Schreibweise") und Adornos Beratungstätigkeit im "Doktor Faustus" - doch bleibt es in der Regel bei den üblichen Verdächtigungen: Wesentlich neue Nachweise, die über das hinausgingen, was ohnehin Forschungslage ist, erbringt die Dissertation, die im März 2002 der Universität Bergen zu Annahme vorlag, nicht. Eine der besonders spekulativen Thesen ist die, Adorno habe die Intention verfolgt, mit dem "Doktor Faustus" eine literarische Umsetzung seiner Negativen Dialektik anzustoßen.

Es ist das Missliche des Solheimschen Ansatzes, dass die "direkten Verbindungslinien" oder indirekten Einflusslinien zwischen Fontane und zwischen Mann und "Einzelpersonen" oftmals nur postuliert oder anhand wenig einschlägiger Sekundärquellen (Tagebüchern, Briefzeugnissen) belegt werden können, dass von abstrakten Ähnlichkeiten auf konkrete Identitäten oder Abbildungsverhältnisse (kurz-) geschlossen wird und dass Beobachtungen zur Werkgenese und zum kommunikativen Netzwerk, das die Autoren während des Entstehungsprozesses ihrer Werke unterhalten haben, auf Textstrukturen übertragen werden - ob sie passen oder nicht, so dass beträchtliche Zweifel auch an solchen Untersuchungsergebnissen aufkommen, die auf den ersten Blick plausibel erscheinen. Darüber hinaus werden die eklektisch arbeitenden Autoren auf eine Systematik des Denkens und Argumentierens festgelegt, die den eigenen Ausführungen des Autors über die fehlende Systematizität - etwa bei Fontane - widersprechen und Solheims Ansatz weiter verrätseln.

Titelbild

Birger Solheim: Zum Geschichtsdenken Theodor Fontanes und Thomas Manns. Geschichtskritik in Der Stechlin und Doktor Faustus.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2005.
293 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-10: 3826029933

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