Zeit für Mystik

Simone Weil im vierten Band ihrer "Cahiers "

Von Peter ReichenbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Reichenbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Besucht man die Tate-Gallery in London in diesen Tagen, so kann man einen Raum besichtigen, in dem Forscher und Taucher alle gefundenen Gegenstände eines bestimmten Abschnitts der Themse ausstellen. Es finden sich dort unter anderem Knochen, Dosen, Flaschen, Tonscherben, Autoreifen, Angelzubehör und alle anderen nur denkbaren und nicht denkbaren Gegenstände. "Was soll das?" ist der unvermeidlich erste Gedanke des Betrachters, doch sieht man genauer hin und verweilt etwas länger, versteht man, dass sich hinter jedem einzelnen dieser Gegenstände eine Geschichte verbirgt, eine kleine Welt, aufgeladen mit der transzendenten Mystik der eigenen Phantasie, die die einfachen Gegenstände plötzlich sakral erscheinen lässt.

Da diese Erfahrung ist mein Schlüssel zu Simone Weils "Cahiers 4. Zum einen muss man sich auf dieses Buch einlassen wollen, um den auf den ersten Blick zusammengestückelten Bibelzitaten und Gedanken folgen zu können, zum anderen sind die erzählten Mythologien und die damit zusammenhängende Mystik ein zentrales Thema der Aufzeichnungen Weils: "So muss die Mystik den Schlüssel für alle Erkenntnis und alle Werte bereithalten", heißt es bereits im ersten Teil des Buches.

"Wie richte ich mein Leben nach Gott aus" - hier wird die Existenz Gottes weder bewiesen noch in Frage gestellt, sondern als gegeben vorausgesetzt. Auffallend ist jedoch, dass Weil sich nicht mit der Institution Kirche identifiziert und ein Zitat aus dem Katechismus beispielsweise mit einem einfachen "Schlecht!" kommentiert.

Weil wehrt sich gegen die Dogmen der Kirche und deklariert im Gegenzug den Zweifel zur Tugend des Verstandes: Der Zweifel ist für den Verstand eine Tugend, und deshalb gibt es einen Zweifel, der nicht unvereinbar ist mit dem Glauben; und der Glaube ist nicht das Gläubigsein." Obwohl es sich hier also größtenteils um eine Bibelexegese handelt, muß sich der Leser niemals eingeengt fühlen, es bleibt immer Raum für das Zweifeln und das Weiterdenken.

Bleibt Gott auch bei Weil der Urheber allen Seins, so entwickelt sie doch ein ungewöhnlich pragmatisches Gottesbild, wie am Beispiel der Nächstenliebe deutlich wird: Wenn man Hunger habe, esse man nicht aus Liebe zu Gott, sondern weil man Hunger habe. Jedem hungernden Unbekannten gebe man ebenso essen, habe man auch nicht genug für sich selbst. Dies geschehe nicht aus Liebe zu Gott, sondern einfach, weil der Unbekannte Hunger habe. Doch verantwortlich für dieses "animalische Empfinden", sei Gott. "Man liebt nicht 'für Gott', 'in Gott', sondern man entscheidet, dass die Eigenliebe rechtmäßig ist, welche die Natur auf dem Grund der Seele verankert, insofern man ein Geschöpf Gottes ist."

Scheinen die Notizen von Simone Weil im ersten Moment auch unzusammenhängend, so folgt sie doch konsequent einer Methode, indem die Autorin zu den unterschiedlichen Themen die passenden Bibelstellen und Volksdichtungen zu Rate zieht und allen Textquellen eine Gemeinsamkeit abgewinnen kann. Aus einer dieser Textquellen nimmt sie dann ein Thema, oft nur ein Wort auf und denkt schreibend weiter. Durch diese Art des Schreibens entsteht im Gegensatz zum ersten Eindruck, ein sehr dicht zusammenhängendes Schreibgefüge.

Die Stärke des 1942 geschriebenen Buches liegt im Gewinnen einer eigenen Mystik. Durch die Vermischung der Mythologien und Bibelstellen kreiert die Jüdin Weil ihre eigene, persönlich zusammengestellte Bibel, die der Zeit des Dritten Reiches und der Ausgrenzung Gemeinsamkeit und Hoffnung formal und inhaltlich entgegenstellt. Inhaltlich geschieht dies durch die Überzeugung, dass es möglich sei, das Gute im Weltlichen zu verwirklichen. Das in sechs Hefte gegliederte "Cahier 4" endet mit dem "Londoner Notizbuch", das aus Simone Weils letzten Lebensmonaten stammt, die sie, nach einem Exilaufenthalt in Amerika, bei der Résistance-Organisation France Libre in London und dann im Hospital von Ashford/Kent verbrachte, wo sie im August 1943 starb.

"Wichtigster Teil des Unterrichts = lehren, was erkennen ist" ist somit der letzte Satz der Autorin. Erkennen, dass die überlieferten Mythologien sowie die Bibel uns immer wieder eine neue Welt erschließen können, wenn es auch nur um das Wiederentdecken von Wörtern und Werten wie Demut und Mitleid in unserer heutigen Zeit geht. Vorrausgesetzt, wir schaffen es, die Metaphern richtig zu lesen: "Man muss den Begriff der wirklichen Metapher wiederfinden. Sonst verliert zum Beispiel die Geschichte Christi entweder ihre Wirklichkeit oder ihre Bedeutung."

Es steht außer Frage, dass der ohnehin interessierte Weil- und Bibelleser dieses Buch gerne und mit Gewinn lesen wird (es finden sich Gedanken zu entstehenden Arbeiten und geplanten Theaterstücken Weils), doch auch der unerfahrene Leser wird über die Frage des "Was soll das?" hinauskommen, lässt er sich von der Mystik Weils gefangen nehmen. Er wird erkennen, dass auch in der Mystik eine Wirklichkeit existiert, die nur über diesen Umweg sichtbar wird.

Titelbild

Simone Weil: Cahiers. Aufzeichnungen. Vierter Band. Hrsg. und übersetzt von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz.
Carl Hanser Verlag, München 1999.
366 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3446164316

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