Die Dokumentation eines Vorpostengefechts

Martin Walser bestätigt seine Kritiker

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Herbst 1998 erhielt Martin Walser den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und bedankte sich mit einer denkbar unfriedlichen Preisrede: Zumindest wandte er sich entschieden gegen bisherige Formen der Erinnerung an den deutschen Faschismus. Umstritten blieb, ob er darüber hinaus nicht jedes öffentliche Gedenken ablehnte und so eine national ausgerichtete Berliner Republik befördern wollte.

Hatte das Paulskirchenpublikum noch fast einhellig Walsers Ausführungen applaudiert, so warnte Ignatz Bubis als Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland am folgenden Tag vor der "geistigen Brandstiftung" des Schriftstellers. Damit stieß er eine Kontroverse an, die über Monate hinweg die Feuilletons prägte und auch grundlegende Muster der Präsentation von Vergangenheit zum Thema hatte.

Der vorliegende, von Walsers damaligem Laudator Frank Schirrmacher herausgegebene Band versammelt auf fast 700 Seiten eine Vielzahl von Debattenbeiträgen. Die umfassende Auswahl berücksichtigt nicht nur redaktionelle Beiträge, sondern auch Leserbriefe; neben den großen, überregionalen Zeitungen sind wenigstens am Rande Lokalblätter, deren meinungsbildende Funktion nicht unterschätzt werden sollte, vertreten. So ist hervorragend dokumentiert, wie die deutsche Öffentlichkeit auf Walsers Rede reagierte.

Stimmen aus dem Ausland sind allerdings nur mit wenigen Texten vertreten. Die Resonanz der Debatte etwa in Frankreich läßt sich nur insoweit erschließen, als in deutschen Zeitungen darüber berichtet wurde.

Zwei weitere Leerstellen fallen auf. Links von der "taz" gibt es, glaubt man Schirrmacher, nichts. Ein konsequenter linker Antinationalismus ist nur mit wenigen Leserbriefen vertreten. - Schwerwiegender ist, daß die Rezeption Walsers im nationalkonservativen und rechtsextremen Bereich fehlt. Dies ist zu bedauern, denn in der Kontroverse war umstritten, in welcher Weise sich nun die "Junge Freiheit" oder Freys "Nationalzeitung" auf einen angesehenen Schriftsteller berufen können. Möglich ist, daß Schirrmacher diesem Personal nicht noch eine weitere Bühne verschaffen wollte oder dass der Abdruck an fehlenden Rechten scheiterte. Das allzu knappe Herausgebernachwort informiert leider über solche Aspekte nicht.

Die chronologische Anordnung der Beiträge lässt Verlauf und Ertrag der Debatte anschaulich werden, oder besser: den Nicht-Ertrag. Denn es finden sich hier nur wenige Gedanken zu den Formen des Erinnerns, die nicht mindestens ebenso präzise schon während der mehrjährigen Diskussion über das Berliner Holocaust-Mahnmal geäußert wurde. Auch zeigte spätestens das in der "Frankfurter Allgemeinen" und nun wieder im Sammelband gedruckte Gespräch mit Walser und Bubis, dass an der selbstmitleidigen Aggressivität des Schriftstellers jeder Versuch einer Verständigung scheitern musste. Mangel an Substanz ist jedoch kein Mangel an Bedeutung: Allein der geschichtspolitische Stellenwert der Auseinandersetzung rechtfertigt Schirrmachers Dokumentation.

Der größte Wert des Bandes liegt jedoch in der Veröffentlichung einiger der zahlreichen Briefe, die Walser und Bubis geschrieben wurden. Damit ist nachzuprüfen, was beide Kontrahenten über die Rezeption der Rede behaupteten. Die Briefe, die Bubis vor seinem Tod noch auswählen konnte, sind dabei wenig spektakulär. Er verzichtete auf einen Abdruck der antisemitischen Beschimpfungen, die ihn auch erreichten, und belegte statt dessen, dass nicht er allein Walsers Rede als bedrohlich auffasste. Die Einsender setzen sich meist bedächtig und immer sachbezogen mit Walsers Rede und mit Anzeichen für einen wachsenden Antisemitismus und Nationalismus auseinander. Dabei hatte Bubis genügend Selbstbewusstsein, auch punktuelle Kritik an seiner Position drucken zu lassen. Offensichtlich ging es ihm um offene Diskussion über einen Umgang mit der Vergangenheit, der dazu dient, ähnlichen Verbrechen vorzubeugen.

Aussagekräftiger als Bubis' Auswahl ist die Walsers. Immer wieder hatte der Preisträger betont, tausend Einsender zeigten ihm, dass er nicht missverstanden worden sei. Die von ihm getroffene Auswahl der Briefe erlaubt also weitere Aufschlüsse über sein Selbstverständnis. Das Resultat bestätigt jede Befürchtung.

In der Oktoberausgabe der "Blätter für deutsche und internationale Politik" hatte Wulf D. Hund, der die Briefe vollständig einsehen konnte, den antisemitischen Gehalt zahlreicher Einsendungen analysiert. Immerhin blieb zu hoffen, dass Walser diese nicht als Bestätigung auffassen, sondern sie schamhaft verschweigen würde. Leider ist das nicht der Fall. So ist man froh, wenn man lediglich Lob lesen muss, das in dieser Konstellation zum allerdings peinlichen Selbstlob wird: So lässt Walser seine "ungeheure Ehrlichkeit und Wahrheit" feiern, sonnt sich in "Bewunderung und Verehrung" und zögert auch nicht, sich als einen "Mann, dessen Gradlinigkeit, Offenheit und Mut die Haarspitzen berührte, während er sprach", und dessen Rede - mindestens - "in die Geschichte eingehen" wird, preisen zu lassen. Doch Stil- und Charakterfragen deuten aufs Politische hin. Der Erhöhung der eigenen Person entspricht der Verweis auf die Meute der Verfolger; fast sieht man die Weisen von Zion neue Protokolle zusammenmauscheln. In den harmloseren Fällen ist das eine übermächtige "Medienmafia", in schwereren steigert sich das zum umfassenden Verfolgungswahn, der nur noch eine anonyme Bedrohung wahrzunehmen vermag: "Mein erster Gedanke: die sind hinter Dir her."

Walsers Gegner sind - so meint offensichtlich Walser - durch niedere Beweggründe motiviert: Ihnen gehe es um die "Festigung der eigenen moralischen Position, die neben materiellen Vorteilen ja auch Macht in der Gesellschaft bringt". Anders formuliert: "Herr Bubis meint und will etwas völlig anderes als Sie. Seine Ziele unterscheiden sich grundsätzlich von Ihren Gedanken, denen Macht und finanzieller oder politischer Einfluß nicht als Antrieb gelten." Dass es dem Juden nur ums Geld gehe, hatten wir auch schon einmal klarer formuliert gefunden als bei diesem Briefschreiber, der nicht ohne Grund meint versichern zu müssen: "Ich bin übrigens kein Antisemit. Im Gegenteil", schließlich erhalte seine Frau zu Weihnachten ein Buch von Michael Wolfssohn. Einen jüdischen Zeugen bemüht auch ein anderer Briefschreiber, um abfällig von "Berufsjuden" schreiben zu können.

Naturmystische Sichtweise deutet sich an, wo jeder Kritiker "unter dem Zwang des mechanistischen Weltbildes und" - natürlich! - "unter dem Druck des Geldes, der Konzerne und der öffentlichen Meinung steht." Doch ist der Jude in Walsers Auswahl nicht rassisch determiniert, er kann auch besser: nämlich weise aufs Geld verzichten. So ist die Rede von einem "Vater aus dem wirklichen Leben, der im KZ Dachau und bei den Zwangsarbeitern war, und trotzdem, obwohl er keine Entschädigung bekam [...], einfach vergab". Schließlich fand er ja auch eine Deutsche, die ihm Nahrungsmittel zusteckte, so dass schließlich die Verschleppung auch ihr Gutes hatte: "Und er schwärmte sein Leben lang über deutsche Kartoffeln, die seien besser als unsere gewesen..."

Leider ist vornehme Selbstbescheidung beim Juden nicht verbreitet, und so fragt sich, wie man mit dem Rest umgeht. Die freundliche Minderheit plädiert gegenüber Walser für mildes Verständnis, denn den Überlebenden sei es "oft nicht möglich, die von Ihnen angesprochenen Fragen rein sachlich, rational und unvoreingenommen wahrzunehmen und zu diskutieren", woraus eine "prinzipielle Dialogunfähigkeit" resultiere, die "von uns nichtjüdischen Deutschen ein hohes Maß an Nachsicht, Diskretion und Verständnis abverlange."

Doch ist umstritten, ob solche Toleranz möglich ist, da ja die Deutschen als "Opfer [...] fremden Zwangs" in "Fesseln" schmachten. So muss endlich einmal das Wort "gegen die dauernde Hetzerei und Diffamierung gegen uns Deutsche" erhoben werden, denn "es widert einen so langsam an", wie "dauernd von den gleichen Verantwortlichen und Vertretern der Juden in Deutschland gegen uns polemisiert wird." "Herr Bubis und seine Juden" sollten, wohl im eigenen Interesse, an ihre "Verantwortung für Ausgleich und Friedfertigkeit in Deutschland erinnert werden." Wenn "jüdische Kreise" rechtzeitig aufhören könnten, "unser Denken und Äußern" zu "manipulieren", mag es noch einmal gut gehen. Andernfalls aber ist eine deutliche Warnung fällig: "Daß Herr Bubis durch seine polemische Umdeutung ihrer Aussage am Ende vielleicht tatsächlich Rechtsextremen eine Legitimation gibt, Ihre Rede zu missbrauchen, muss er mit seinem Gewissen ausmachen", meint ein Walser-Freund. Das künftige Opfer, so wird vorweg suggeriert, sei selber schuld.

Offen aber kann man Faschismus heute nicht vertreten. So ist in Walsers Lieblingsbriefen gerade Bubis' Position in die Nähe des Faschismus gerückt: als "Sippenhaft" gegen Deutsche etwa, oder als "Nationalzeitungsdenken". Der Vorwurf ist perfide und macht Hoffnung: Die explosive Mischung aus Selbstmitleid, Verfolgungswahn und Aggression, die Walsers Unterstützer mehrheitlich kennzeichnet, kann sich eben nicht auf das berufen, was ideologisch am nächsten läge. "Es" denkt zwar in den Briefeschreibern, doch kann es - noch? - nicht konsequent denken. Die Gefahr, und das vielleicht Rettende auch, anschaulich zu machen, ist Verdienst der Dokumentation.

Ihr Gebrauchswert ist eingeschränkt durch den mikroskopischen Druck des Inhaltsverzeichnisses; ein Verfasserregister wäre hilfreich gewesen, zumal manche der Beteiligten sich mehrfach, in verschiedenen Zusammenhängen, geäußert haben. Die Debatte beginnt, natürlich, mit Walsers Rede - wann endet sie? Jede Entscheidung ist willkürlich, Schirrmacher wählt einige thematisch verwandte Artikel vom Februar bis Juli 1999 aus. Dass Dagmar Barnouws in anderem Kontext sinnvolle Warnung vor amerikanischer political correctness den Schlusspunkt setzt, sollte kein Signal sein für die Auseinandersetzung in Deutschland: Denn hier gilt es, einer weiteren Nationalisierung entgegenzutreten.

Titelbild

Frank Schirrmacher (Hg.): Die Walser-Bubis-Debatte. Eine Dokumentation.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
688 Seiten, 17,40 EUR.
ISBN-10: 3518410733
ISBN-13: 9783518410738

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