Eine Stadt wird erzählt

Das "Leipzigbuch" - 32 Versuche der Annäherung

Von Carolina SchuttiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carolina Schutti

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit drei Jahren gibt der Berliner Verbrecher Verlag eine Reihe mit so genannten "Stadtbüchern" heraus, das "Leipzigbuch" ist das achte der handlichen, schlicht aufgemachten Taschenbücher. So unterschiedlich die 32 Texte sind, die von Leipzig erzählen, so verschieden sind auch die Autoren: Neben Melanie Arns, Peter O. Chotjewitz, Tobias Hülswitt, Philipp Meinhold, Tobias Rentzsch, Ronald M. Schernikau, Christian Y. Schmidt, Tina Uebel, Ambros Waibel und Michael Weins kommen in dieser Anthologie auch bildende Künstler, Illustratoren, Filmemacher, Fotografen, Journalisten, Redakteure und Musiker zu Wort. Nur wenige sind gebürtige Leipziger, viele von ihnen verbrachten hier ihre Studienzeit, andere leben hier, wieder andere verbinden prägende Erfahrungen mit der Stadt.

Vorab sei eines festgestellt: Dieses Buch erhebt nicht den Anspruch eines Reiseführers. Wer erwartet, alle Sehenswürdigkeiten und interessanten Stätten würden in literarisierter Form vorgeführt, wird zwangsläufig enttäuscht. Vielmehr versuchen die Beiträge dieser Anthologie, Stimmungen einzufangen, ungewohnte Blickwinkel zu suchen, normalerweise unbeachtete Details zu präsentieren - eben das zu bieten, was ein Reiseführer nicht vermag.

Die Freiheiten, die die Verleger den Autoren augenscheinlich gelassen haben, erlauben ein Nebeneinander verschiedenster Texte und Themen, auch Zeichnungen finden hier Platz. Stadtteilbeschreibungen, Fußball, WG-Leben, Bautätigkeit, Musikszene, Festivals, Wiedervereinigung, kulinarische Besonderheiten (Tote Oma!), Studium, Kino, Fußgängerzone ... aber auch Menschenbilder, Stimmungen und Momentaufnahmen stehen im Zentrum der Geschichten und Erinnerungen.

Was die literarische Qualität betrifft, so muss leider gesagt werden, dass einigen der Beiträge abseits der lokalen Literaturszene (zu Recht) eine äußerst kurze Halbwertszeit beschieden wäre. Bisweilen lesen sich erste literarische Gehversuche ein wenig mühsam, einiges ist auch inhaltlich wenig ergiebig, weniges ist außerdem nicht an Leipzig gebunden und könnte ebenso gut irgendwo anders spielen. Das Spannungsfeld zwischen nach Möglichkeit zu erreichender Vollständigkeit, rentablem Umfang und den zur Verfügung stehenden Texten ist wohl generell ein Problem von Anthologien zu aktueller Literatur. Zumeist, und das ist auch im "Leipzigbuch" der Fall, enthalten sie aber auch Beiträge, aufgrund derer sich der Kauf des Buches und dessen Lektüre auf jeden Fall lohnen.

Tobias Rentzsch zum Beispiel schreibt in "Blaue Fliesen, Delfter Kacheln" über seinen Lieblingsfleischer. Geboren und aufgewachsen in Leipzig, hängt er an dem traditionellen Familienbetrieb, in dessen Verkaufsraum der derzeit gerade wieder aktuelle Retro-Look noch im Original vorhanden ist. Während der Betriebsferien im Sommer wird er Vegetarier. "Aus Prinzip", wie er sagt. Eine wunderschöne Treueerklärung ist dieser Text, eine Schwärmerei für einen Lieblingsplatz, der "wahrlich nicht im Baedecker steht" - und der zeigt, was eine Stadt zur Heimatstadt macht.

Christian Y. Schmidt, laut Anhang derzeit Möbelverkäufer in Beijing, schaut über die Stadtgrenzen hinaus. In "Meine DDR" handelt es sich vordergründig um eine Begegnung mit zwei Theologiestudenten, um Wohnzimmerkneipen, Trabbi-Taxis und um neue Freunde und Bekannte. Beinahe nebenbei finden sich aber Beobachtungen und Überlegungen zu Politik und Gesellschaft, die trotz des Anscheins der Unreflektiertheit gesellschaftlichen Mechanismen auf den Zahn fühlen. Der anfängliche revolutionäre Überschwang weicht der Ernüchterung: "Untergang der DDR. Schlecht aussehende Leute, die nicht reden können, stürzen schlecht aussehende Leute, die nicht reden können. Sinnlos." Die Geschichte ist fesselnd, die Sprache fließend, und Schmidt versteht es außerdem, mit überraschenden Wendungen, Witz und äußerst treffenden Vergleichen zu arbeiten.

Einen knappen, aber doch interessanten Einblick in die Problematik des (offiziellen) literarischen Lebens Leipzigs gewährt der Beitrag Ambros Waibels. "Glosse Leipzig" beginnt mit einem Brief des Deutschen Literaturinstituts Leipzigs an den Autor, der sich über den bestimmenden Wortlaut "Sie werden das Studium zum Sommersemester 1995 aufnehmen" ärgert, denn für ihn klinge der Satz "nach autoritär und DDR". Waibel ist Münchner, kam für die Bewerbung gerade aus Venedig zurück und war abgestoßen von Leipzig, das für ihn aussah wie ein "verkommener Schrottplatz". Und doch trauert er der DDR hinterher - und vor allem seiner verpassten Chance, die er aus jugendlichem Stolz nicht wahrgenommen hatte. Rückblickend jedoch erkennt Waibel auch die Problematik des Instituts, das ein "Institut für DDR-Literatur und Ästhetik ohne DDR" hätte werden sollen, und sieht die Bemühungen der Literaturprofessoren als gescheitert an: "Das DLL ohne die reale DDR war sinnlos ..."

Was ist es nun, das Leipzig zu Leipzig macht? Zieht man als kleinsten gemeinsamen Nenner Beobachtungen heran, die sich in den vorliegenden Texten wiederholen, scheint abseits vom Klischee einiges tatsächlich typisch für die Stadt zu sein. Da sind die gescheiterte Olympiabewerbung, das unheimliche Völkerschlachtdenkmal, verfallende Häuser und Fabriken - auf der anderen Seite Bach und Goethe, Literatur, Bücher und eine lebendige Kunstszene, nicht zuletzt ist Leipzig Knotenpunkt vielfältiger Erinnerungen an Kindheit, Jugend und Studienzeit. Es ist die Stärke dieses Buches (wie der gesamten Reihe), dass die Annäherung an eine Stadt über private Erlebnisse, Erfahrungen und Geschichten erfolgt, die das Positive zelebrieren, vor Negativem aber trotzdem nicht die Augen verschließen. Auf keine Weise kann Atmosphäre besser eingefangen werden als über die Versammlung vieler subjektiver Zugänge.

Nachsicht mit den weniger gelungenen Texten lohnt sich, denn was nach der Lektüre des Buches bleibt, ist eine Vorstellung davon, wie Leipzig abseits von Reiseprospekten und offiziellen Homepages ist, welcher Geist in Leipzig weht. Es bleibt ein Mosaik, das sich aus wie mit dem Vergrößerungsglas betrachteten Details zusammensetzt, und in das einige besonders schöne Erzählungen als Intarsien eingesetzt sind.

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Susanne Klingner / Jörg Sundermeier (Hg.): Leipzigbuch.
Verbrecher Verlag, Berlin 2005.
216 Seiten, 13,00 EUR.
ISBN-10: 3935843518

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