Gehör den Gegenräumen

Zwei Radiovorträge Michel Foucaults

Von Patrick BaumRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Baum

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwischen 1961 und 1982 war Michel Foucault an einer stattlichen Anzahl von Radiosendungen beteiligt, zuerst für die "Chaîne nationale", dann für den Sender "France Culture". Das Gros der Sendungen - zumindest lassen dies die Titel vermuten - dient der Vorstellung von Foucaults Büchern und der Darstellung seiner prägnanten Thesen, sei es im Rahmen eines Interviews oder in der Diskussion mit zeitgenössischen Intellektuellen wie Raymond Aron, Emmanuel Le Roy-Ladurie oder Gérard Genette. Gelegentlich aber nutzte Foucault die Radiobühne auch als Forum für neue Überlegungen. Dies ist etwa der Fall bei zwei Radiovorträgen, die im Dezember 1966 auf "France Culture" gesendet wurden: "Les utopies réelles ou 'Lieux et autres lieux'" und "Le corps utopique".

Im vergangenen Jahr hat das Pariser "Institut national de l'audiovisuel" (INA), das den radiofonischen Nachlass Foucaults verwahrt, die beiden genannten Vorträge in seiner Reihe "mémoire vive" ("lebhafte Erinnerung") unter dem Titel "Utopies et hétérotopies" auf CD veröffentlicht - ergänzt um einen Einführungstext von Daniel Defert und eine Fonografie der Radiosendungen, an denen Foucault beteiligt war. Der Suhrkamp Verlag macht diese Vorträge nun auch dem deutschen Publikum in einem schmalen Bändchen nebst beiliegender CD zugänglich. Der Band bietet neben den souveränen Übersetzungen von Michael Bischoff auch Transkripte der französischen Originaltexte, auf die die französische CD-Edition verzichtet. Damit ist er auch für frankofone Foucault-Leser interessant und der französischen Ausgabe womöglich gar vorzuziehen. Die der Suhrkamp-Ausgabe beigelegte CD unterscheidet sich von der vom INA produzierten nur minimal; es fehlt - aus lizenzrechtlichen Gründen? - der die Vorträge einleitende Auszug aus Pierre Boulez' "Le Soleil des eaux".

Bei dem ersten Vortrag mit dem Titel "Die Heterotopien" handelt es sich um eine frühe Fassung der Überlegungen, die Foucault später in dem stark rezipierten Text "Des espaces autres" ("Andere Räume") vorträgt; insbesondere der in diesem Text entwickelte Begriff der Heterotopie hat im Rahmen des topographical turn (Sigrid Weigel) in den Kultur- und Sozialwissenschaften Karriere gemacht, obwohl er bei Foucault selbst eher marginal ist. Heterotopien - dieser Begriff bezeichnet eine Klasse höchst unterschiedlicher Räume, die im gesellschaftlichen Raum einen genau bestimmbaren Ort einnehmen und eine festgelegte Funktion erfüllen und zugleich doch in gewisser Weise außerhalb der Ordnung dieses gesellschaftlichen Raums stehen und sie letztlich sogar subvertieren. Beispiele für solche "Gegenräume" sind Freudenhäuser, Gefängnisse, Sanatorien, aber auch Gärten, Bibliotheken und Museen. In seinem Vortrag skizziert Foucault die Grundsätze der Heterotopologie, also jener (erst zu entwickelnden) Wissenschaft, die sich der Untersuchung dieser 'anderen Orte' widmet. Bemerkenswert an dieser frühen Fassung sind vor allem die Ausführungen zu den Heterotopien der Kinder: "Die Kinder kennen solche Gegenräume, solche lokalisierten Utopien, sehr genau. Das ist natürlich der Garten. Das ist der Dachboden oder eher noch das Indianerzelt auf dem Dachboden. Und das ist - am Donnerstagnachmittag - das Ehebett der Eltern. Auf diesem Bett entdeckt man das Meer, weil man zwischen den Decken schwimmen kann. Aber das Bett ist auch der Himmel, weil man auf seinen Federn springen kann. Es ist der Wald, weil man sich darin versteckt. Es ist die Nacht, weil man unter den Laken zum Geist wird." An dieser Stelle scheint Foucault an die phänomenologische Topo-Analyse Gaston Bachelards anzuknüpfen, der in seiner "Poetik des Raumes" (1957) zu ähnlichen Feststellungen kommt. Diese (implizite) Anknüpfung ist deshalb so bemerkenswert, weil man Foucaults Ausführungen im Allgemeinen als Gegenentwurf zu den phänomenologischen Rauminterpretationen liest (so etwa Bernhard Waldenfels in seiner "Topographie des Fremden"). In dieser frühen Fassung wird noch stärker als in "Andere Räume" das imaginative Potenzial der "Gegenräume" hervorgehoben: Heterotopien sind "Reservoire der Fantasie", denen Foucault in seinem Vortrag Gehör verschaffen möchte. In ähnlicher Manier bemüht sich der zweite, deutlich kürzere Vortrag um das utopische Potential des Körpers. Der eigene Körper, in der Tradition lange als Käfig der Seele begriffen und ein nicht zu überschreitendes factum brutum, das uns ans Hier und Jetzt kettet, kann auch - so Foucaults Überlegung - als ein "großer utopischer Akteur" begriffen werden, der durch "Maske, Tätowierung und Schminke [...] zu einem Teil des imaginären Raumes [wird], der mit der Welt der Götter oder mit der Anderen kommuniziert."

Die beiden Radiovorträge zeigen keinen völlig neuen Foucault, bereichern das bislang publizierte Material aber um interessante Nuancen. Insbesondere Leser, die am Heterotopiebegriff interessiert sind, werden gerne zu dem sorgfältig aufgemachten Band greifen.

Titelbild

Michel Foucault: Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge. Zweisprachige Ausgabe. Mit 1 CD-ROM.
Herausgegeben von Daniel Defert.
Übersetzt aus dem Französischen von Michael Bischoff.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
104 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3518584286

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