Unterhalten oder Belehren?

Frühneuzeitliches Erzählen im Spannungsfeld der beiden klassischen poetologischen Paradigmen: Andreas Solbachs Studie zu Johann Beer

Von Stefanie ArendRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Arend

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Entweder nützen oder unterhalten oder beides wollen die Dichter", so Horaz in seiner "Ars poetica". Welch eine schwierige Aufgabe das Letztere sein kann, eine überzeugende Synthese aus den beiden klassischen poetologischen Paradigmen zu leisten, und dies zudem im Kontext der recht engen Erzähltraditionen der Frühen Neuzeit, das zeigen uns die Texte Johann Beers - folgt man der umfassenden Studie des Mainzer Germanisten Andreas Solbach. Er führt uns vor, welchen Schwierigkeiten sich der Autor bei seinem Vorhaben ausgesetzt sieht und vor allem, wie er diese Schwierigkeiten im Erzählen selbst variantenreich reflektiert. Als Erzähler wurde Johann Beer (1655-1700) bereits von Richard Alewyn entdeckt, der ihm 1932 seine Untersuchung "Johann Beer. Studien zum Roman des 17. Jahrhunderts" widmete. Solbachs Habilitationsschrift stellt die erste umfassende Studie zum Gesamtwerk des oberösterreichischen Dichters dar.

Die zahlreichen erzählerischen Texte wurden bisher von der Forschung keinesfalls gleichwertig gewürdigt. Solbach unternimmt es zum ersten Mal, sie aus einer einheitlichen Perspektive, unter narratologischen, das heißt für ihn zugleich: rhetorischen Gesichtspunkten, zu betrachten. Seine Studie legt dar, dass Beer nicht etwa nur launisch und unzuverlässig, zwecklos fabulierend erzählt, wie man bisweilen konstatiert hat, sondern durchweg in bestimmter belehrender Absicht, neben dem delectare also ganz dem antiken prodesse verpflichtet ist. Mit verschiedenen Erzählweisen experimentierend und zudem auf sie reflektierend variiert er dabei klassische Formen des satirischen und pikarischen Romans. Die Verbindung von Rhetorik und Dichtung zu einer "narratologischen Rhetorik" weist Solbach als Merkmal des Gesamtwerks nach - vom "Ritter Hopffen-Sack" (1677) über den "Simplicianischen Welt-Kucker" (1677-79) bis hin zur Romandilogie "Die teutschen Winter-Nächte" (1682) und "Die kurtzweiligen Sommer-Täge" (1683).

Während im Frühwerk Rhetorik auch selbst Gegenstand der Erzählung ist, wird sie späterhin deutlich zum Mittel, da sich Erzählen als "rhetorisches Erzählen" profiliert. Insofern will Solbach nicht einfach traditionelle rhetorische Mittel im Erzählen untersuchen, sondern der "Erzählrhetorik" nachspüren, die "erzähltheoretische Konstrukte als Funktion rhetorischer Intention integrieren will". Solbach ermittelt die besonderen Konstruktionen der Erzählerfiguren und Erzählhaltungen, die aus dieser Erzählrhetorik resultieren. Wie auch immer diese beschaffen sein mögen, sie alle sind, so seine These, letztlich der Metanoia verpflichtet, dem Umschwung, der Sinnesänderung. Das Erzählen soll zeigen, wie diese aus der Erkenntnis der Scheinhaftigkeit der Welt erfolgen kann. Ob Groteske, resignative Affirmation des Gegebenen oder versuchter Rückzug von der Welt - als Ziel der Beer'schen Texte sieht Solbach eine in jedem Fall durch narratologische Rhetorik oft verkappt und kunstvoll inszenierte medicina mentis, die zu dieser Metanoia verhelfen soll.

Zunächst stellt Solbach die Frage, wie dieses Erzählziel in den frühen Erzählungen realisiert wird, die Rhetorik selbst zum Thema haben. Wie verhält es sich mit der Moralisationsperspektive, wenn etwa im "Ritter Hopffen-Sack" "die groteske Wut der Ordnungslosigkeit" des Ich-Erzählers dazu führt, dass verschiedene Handlungsstränge geknüpft, aber nicht zu Ende geführt, sondern ständig ironisch gebrochen werden? Zwei Diskurstypen, ein sinnstiftender und ein grotesk-ironischer, kreuzen sich ständig und führen mehr oder weniger in die Irre. Hinzu kommt ein Problem, dass der Rhetorik inhärent ist: Es zeigt sich ein Programm, das "gegen betrügerische und heuchlerische Redeform" zu Felde zieht, gegen eine dissimulatorische Redepraxis, das aber an Glaubwürdigkeit verlieren könnte, da es sich selbst wiederum rhetorischer Mittel bedient oder bedienen muss. Dieses Programm leitet ebenso das Erzählverfahren im "Prinz Adimantus". Weiter ausgeführt werden können hätte hier der interessante Hinweis auf den Begriff der "Freiheit des Autors", die als nichtsprachlicher Habitus der Anti-Rhetorik zu Grunde liegt. Dieser Habitus verlangt, sich ganz von den Fesseln der Konversationslogik beziehungsweise der Erzähllogik zu lösen. Zu fragen wäre, ob dieser nicht auch am Grundmuster der Rhetorik festhält, indem er nichtsprachlich als rhetorisches Mittel simulierter Interesselosigkeit eingesetzt wird, Macht ausübt und insofern an "Beers Rhetorik der Anti-Rhetorik" partizipiert. Auch er würde somit wie die anti-logisch entworfenen Phantasiewelten unter die "grotesken Inventionen" fallen, jedoch in Form nichtsprachlichen Handelns. Zu den sprachlichen Inventionen gehören auch "jene Momente scharfsinnigen, kausalen Räsonnierens", die den assoziativen und anti-logischen Stil unterbrechen. Eine Inventio wäre dann allgemein das Unerwartete, der Stilbruch als solcher.

Groteske Inventionen treibt Beer schließlich im "Spiridon" auf die Spitze, so dass die zunächst ernsthaft verfolgte Form des Ritterromans in der Gegenläufigkeit von hohem Stil und grotesker Invention zusammenbricht. Wo sich hier das Programm der "Rhetorik der Anti-Rhetorik" verbirgt, lässt sich erahnen: im Liebesdiskurs - insofern die Affektdominanz in der Liebe auf groteske Weise kritisiert wird. Statt ihrer wird Freiheit gefordert, offenbar Freiheit von der Rhetorik der Liebe, die ja eminent dem Prinzip der persuasio unterworfen ist. Diese Forderung nach Freiheit von der Liebe beziehungsweise Liebesrhetorik meint laut Solbach gleichzeitig diejenige nach poetischer Freiheit, welche die grotesken Inventionen ermöglicht. Auf den Bachtin'schen Begriff der Dialogizität in Bezug auf das Groteske, dem eine begriffliche Reflexion nicht geschadet hätte, rekurriert Solbach nun erst marginal in seiner Interpretation der Erzählung "Pokazi". Besonders an diesem Text zeigt sich, dass Beers in Satire gehüllte Moralisation sich dem Leser nicht aufdrängen will. Der antiautoritäre dialogische Diskurs scheint eher zufällig, aleatorisch - im Form einer Invention? - durch den monologischen unterbrochen. An das monologische Wort soll, anders als in Bachtins Theorie über den Roman, idealerweise angeknüpft werden, auch wenn es als autoritärer Diskurs bisweilen selbst "Objekt der Satire" wird. Erweist sich dann aber nicht seine Aleatorik als Scheinfreiheit?

Das "Thema der Freiheit der Kunst" im Sinne des Einsatzes von Inventionen wird auch im "Welt-Kucker" mit der Kritik an der Unfreiheit in der Liebe verbunden. Hier wird nun die Liebe offensichtlich durch die Kommentare einer moralisch-religiösen Kritik unterworfen: Fiktionaler und nicht-fiktionaler Diskurs treten deutlich auseinander, so dass das monologische autoritäre Wort gut zu vernehmen ist. Während sich im "Pokazi" "neben den grotesken Formen des dialogischen Diskurses das sentenzhafte, autoritäre 'Autorwort' (Bachtin) bemerkbar macht, dessen apodiktischer Ton keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Kommentare" lasse, verselbständigt sich im Welt-Kucker "dieser monologische Diskurs zur nicht-fiktionalen Redeform". Wenn "Narratio" und "Moralisatio" zunehmend getrennt werden, und letztere sich in Form von Kommentaren zur "Kontrafaktur der grotesken Rhetorik assoziativer Hyperbeln" gestaltet, bleibt die Frage, wo sich das Programm der "narratologischen Rhetorik" mit dem Ziel der Metanoia manifestiert, wenn lange kommentierende Moralisationen außerhalb der Narratio auftauchen.

Beers Programm des neuen Erzählens sucht künftig das monologische Wort mehr einzugliedern - zum Beispiel durch eine spezifische Verortung der Erzählerfigur im "Corylo" und im "Jucundus Jucundissmus". Hatte Beer im vierten Teil des "Welt-Kuckers" den Erzähler aus dem Zentrum heraus und bekehrt in die Peripherie treten lassen, so nimmt dieser nun selbst an der Handlung teil, insofern er auch selbst Verführungsversuchen ausgesetzt wird. Der Erzähler ist bisweilen Handelnder, bisweilen Beobachter, nicht mehr nur Rezipient fremder Lebensläufe, sondern bringt seine eigenen Erfahrungen mit in die Handlung ein. Da erlebendes und erzählendes Ich sich annähern, scheinen sogar die Moralisatio und die nicht-fiktionalen Diskurse bisweilen zu verschwinden. Moralisation ist jedoch weiterhin nur außerhalb der Handlung möglich.

Mit den satirisch-misogynen Schriften ("Weiber-Hächel" "Jungfer-Hobel" "Bestia Civitatis" "Kleider-Affen") haben die sogenannten "politischen" Romane, etwa "Der Politische Bratenwender" oder "Der Verkehrte Staats-Mann", gemeinsam, dass der monologische und nicht-fiktionale Gestus vorherrscht. Bleibt "Der Politische Bratenwender" noch in seiner satirischen Kritik erstarrt, so dass diese "keine organisierte Belehrung" zulässt, so ist "Der Verkehrte Staatsmann" auffällig klar strukturiert, in eine Narratio und eine Moralisatio weitestgehend getrennt, wobei jedoch eher erfolglose Bemühungen zu erkennen sind, diese verschiedenen Stränge miteinander zu kombinieren. Solbach zeigt, dass es Beers noch uneingelöstes Ziel seines erzählerischen Experimentierens bleibt, narratologische Rhetorik so zu gestalten, dass delectare und prodesse, Erzählen und Belehren, dialogisches und monologisches Moment sich nicht zugunsten des Moralisationsziels separieren müssen, sondern eine harmonische Einheit bilden.

Blieb das Problem, "den satirisch urteilenden Helden aus der diegetischen, nicht-fiktionalen Diskursivität zu erlösen", so kann im "Bruder Blaumantel" eine "bedeutsame Wendung" beobachtet werden: "Die Perspektive des urteilenden Satirikers wird zum Thema des Romans", was für den Standort der Moralisation erneute Probleme aufwirft. Das Thema ist der Lebenslauf eines Politicus. Ziel- und Angriffspunkt der Satire ist die Ehrsucht, der Drang nach dem gesellschaftlichen Aufstieg, die politische Praxis, deren Notwendigkeiten des Scheins und der Verstellung ein generelles Thema der frühneuzeitlichen Literatur sind. Der Erzähler, der mit Abstrichen eine pikarische Lebensform nachahmt, ist dabei selbst Darsteller und zugleich Kritiker eines gesellschaftlichen Prozesses, in dem Dissimulation und Insinuation notwendige Verhaltensmuster sind. Auf dem Parkett kommunikativer Selbstbehauptungsstrategien erweist sich dabei neuerlich die Groteske, und zwar das groteske Sprachspiel, als ein Mittel zur Verstellung; die groteske Invention erscheint so selbst als mögliches Sprachhandeln. Da der Erzähler Kritiker und Politicus zugleich ist, offenbaren sich die kritisierten Verhaltensweisen als notwendig im politischen Spiel. Handelt es sich demnach um eine "komplexe Figuration von Kritik und Affirmation", so ist die Frage, wo Moralisation ihren Ort im Erzählen haben kann. Das Adieu-Welt jedenfalls wertet Solbach in diesem Text noch als resignativ: Für den "Blaumantel" zumindest bleibt der Befund, dass delectare und prodesse wiederum kein ausgewogenes Verhältnis eingehen, da die satirische Kritik in ihrer negativistischen Rhetorik verharrt und versiegt und kein Ziel in Form einer überzeugenden Metanoia erfolgt. Einsiedelei ist ebenso wenig in "Der Berühmte Narrenspital" Ausdruck einer erfolgreichen Metanoia. Der zur Einsamkeit bekehrte Ich-Erzähler empfindet resignativ Isolation und Melancholie. Seine Freiheit besteht eher in der Verleugnung. Aus ihr resultiert kein kreatives positives Potential, sondern seine "Gegen-Rhetorik", insbesondere seine "groteske Skatologie" trägt eminent destruktive Züge. Seine "Freiheit des Verzichts auf jegliche Art der Selbstkontrolle und Körperdisziplin", die als Gegenmaßnahme zu seinen demütigenden Erfahrungen der (Sozial-) Disziplinierung zu begreifen sind, ziehen keinen Neuanfang nach sich. Solbach rekurriert hier auf Bachtins Körpergroteske und zeigt die Grenzen des Vergleichs auf: Das neue Leben, die Erneuerung im Sinne einer Metanoia, die in Bachtins Kreislauftheorie des grotesken Karnevals immer als Erlösung folgt, stellt sich hier nicht ein: Mit Blick auf die Forschungen zum Narren konstatiert Solbach, dass die Helden beider Erzählungen Narren, wenn nicht Grobiane "aus dem Reich des Bösen" sind, da sie selbst Gott verachten und zu keiner Metanoia mehr bewegt werden können. Obgleich die Ich-Erzähler vom Zentrum der Geschichten langsam an die Peripherie abwandern und zur reflektierenden Betrachtung allein aufgrund dieser Position befähigt sein müssten, gelingt ihnen kein besserer Lebensentwurf. Sie lernen nicht aus Erfahrung. Die Anti-Logik vermag nichts Positives zu produzieren, sondern erschöpft sich in einem Habitus der "Eigenliebe" und "Gottesferne" im Negativismus. "Glücklosigkeit" ist das Signum der Protagonisten, wobei zu bedenken ist, ob "Glück" bzw. welches "Glück" überhaupt Ziel der Metanoia sein könnte.

Es wird immer deutlicher, dass Beers erzählerische Experimente sich darum bemühen, die Moralisation implizit vorzunehmen, um eine "wirksame Lesesteuerung zu garantieren". Unter diesen Versuchen stellt die Romandilogie die "Teutschen Winternächte" und die "Kurtzweiligen Sommer-Täge" eine Besonderheit dar. Zunächst zeigt Solbach, wie Beer den direkten belehrenden Stil zu vermeiden sucht, indem der Erzähler weitestgehend mit dem erlebenden Ich kongruiert. Der Leser lernt nicht vom Helden, sondern mit ihm. Hinsichtlich der Möglichkeiten des Erkenntnisgewinns ist er ihm gleichgestellt. Stattdessen erklären andere Figuren durch ihre Parallelerzählungen indirekt die Erzählungen des Ich-Erzählers. Ein solches Mit-Erzählen ergibt, schreibt Solbach, eine emblematische Struktur: Die pictura ist die Erzählung des Ich-Erzählers, die subscriptio wird mithin, aber wohl nicht allein, von den Dialogpartnern geleistet, die mit erzählen und mit zur Auflösung des Rätsels beitragen. Andere Lebensläufe schreiben so mit an der subscriptio, die die pictura auslegt. Deswegen spricht Solbach von einer "narrativen Hermeneutik".

Es drängt sich jedoch die Frage auf, ob der Vergleich mit dem emblematischen Prinzip funktioniert, das heißt konkret: Will Beers Erzählen so klar zwischen pictura und subscriptio unterscheiden? Die subscriptio liefert ja im traditionellen Emblem eine klare Auflösung im Sinne einer moralistischen Auslegung. Gerade diese Klarheit in der Struktur will Beer ja offensichtlich vermeiden. Das Emblem ist "stylus theologicus", den Solbach ja seinem erzählerischen Verfahren abspricht, er spricht sogar vom "Verschwinden des Kommentars und der Moralisatio in der Erzählung": Die "Angleichung von erzählendem und erlebendem Ich" liefert nicht die "Zeiträume, die eine 'traditionelle Metanoia'" benötigt. Stattdessen etabliert sich ein "narrativer Kommentar", eine "verschleierte Moralisatio des Erzählers". Dieser ergibt sich aus dem paradoxen Grundmuster der Erzählungen von den eigenen Sünden, die zwar Einsicht immer wieder schlaglichtartig (als Invention?) provozieren. Im Grunde jedoch bleibt die Affektverfallenheit bestehen, so dass und wohl auch damit die Nähe zum Rezipienten erhalten bleibt. Erst langsam konkretisiert sich eine "Bewußtwerdung des Erzählergewissens" in überzeugenden kommentierenden Moralisationen.

Kunst und Problematik des Beer'schen Erzählens erweisen sich darin, dennoch die "Tendenz zum apodiktisch-monologischen Autorwort" zu verhüllen, den Erzähler nicht autoritär gegenüber dem Leser auftreten zu lassen, sondern weiterhin die Nähe zwischen erzählendem, erlebendem Ich und dem Rezipienten zu erhalten. Das delectare, die Lust am und durch das Erzählen, ist gleichzeitig das prodesse, da kein Gefälle etabliert wird. Metanoia des Helden geschieht durch Erzählen und soll, so scheint es, diejenige des Lesers sein. Immer wieder ergeben sich aber gerade wegen dieser Gleichstellung Schwierigkeiten, Moralisation zu leisten - weswegen bisweilen die Tendenz zum moralischen Kommentieren durchbricht.

Eindeutige Metanoia, wenn auch mit Hilfe eines Kunstgriffs, scheint erst das Ende der "Sommer-Täge" zu bezeugen. Der Held entschließt sich nun freiwillig zum Einsiedlerleben und zieht sich ins Gebirge zurück. Hier nehmen die Zitationen aus Thomas à Kempis' Erbauungsbuch "De Imitatione Christi" eine besondere Rolle ein. Solbach stellt die These auf, dass sich für Beer hier "die zentrale Philosophie" der Dilogie eröffne, "die auf seiner Auffassung der Einsamkeit als Bedingung der Möglichkeit zur Hinwendung zu Gott gründet." Zunächst ist die Erklärung für die Auswahl dieses bedeutenden Erbauungsbuchs recht einfach: Es schildert die Erfahrung der Protagonisten in Beers Romanen, dass eine anzustrebende Annäherung an Gott dem Menschen durch seine Sündenverfallenheit erschwert wird - eine christlich-stoische Glaubenswahrheit, die nicht neu ist. Wichtiger als der eigentliche Inhalt der Imitatio ist die Motivation seiner Verwendung im Text, die Solbach plausibel machen kann: Die Protagonisten in Beers Texten sind quasi Figurationen der Negativfolie dieser "religiösen Psychologie". Aus ihrer Aporie des Wollens, aber Nicht-Könnens weist die Imitatio einen Weg, indem sie Verhaltensmöglichkeiten beschreibt, aus der Erkenntnis heraus zu handeln. Wichtig erscheint Solbach dabei Thomas' Argument, dass das perpetuierende Scheitern des Menschen anzunehmen sei. Aus diesem Scheitern jedoch soll keine Resignation und kein Zynismus erfolgen, sondern es soll den Menschen eher von der Notwendigkeit der Anstrengung überzeugen: "Das Scheitern gilt nicht mehr als finales Desaster, sondern als Stufe auf dem Weg zum Heil...". Gewissermaßen muss die Imitatio in Beers Texten wie ein Fremdkörper erscheinen, da ihre Erzähler "sich in einer materiellen Welt" befinden, "die zur Sorge um sich selbst zwingt und keinen offenbaren Platz für religiöses Bedenken kennt". Die Imitatio zeigt einen Weg, wie auch in den Zwängen einer solchen Welt, aus der Gott vertrieben erscheint, religiöses Denken und Handeln möglich ist. Romanpoetologisch erfüllt die Imitatio, was die Verbindung von delectare und prodesse angeht, laut Solbach folgenden Sinn: Beer wollte bewusst keine Erzähler, die durch moralische Überlegenheit ihre Leser "einschüchtern". Der Bekehrungsaspekt ergibt sich weitestgehend indirekt durch Mit-Erzählen, durch Rätsellösen. Insofern intendierte er auch keine "Bekehrungsgeschichte". Auch Willehag, der fiktive Erzähler in den "Winternächten", bleibt trotz seines Rückzugs aus der Welt ein Sünder. Die Imitatio tritt nun offenbar als übergeordneter Bezugspunkt für alle auf: für die Protagonisten und für den Leser: Sie liefert ein Angebot praktischen Handelns, das angenommen oder abgelehnt werden kann. Auch wenn "die Beerschen Protagonisten und seine Leser" zu einer solchen Weltverachtung nicht fähig sind, wie sie die Imitatio vorführt, und ihre Rückzugsversuche in die Einsamkeit nicht zum gewünschten Erfolg führen, so bekommen sie und mit ihnen auch die Leser doch einen Anhaltspunkt, wie "religiöse Meditation" versucht werden kann. Die Gleichstellung von Erzähler und Leser bleibt erhalten. Die in Beers Texten vorgeführten allgemeinmenschlichen Sünden, die im Buch wie auch im Leben vorkommen, werden so indirekt durch eine christliche Autorität kritisiert.

Mit welchen Mitteln kann ein Erzähler gleichzeitig "erfreuen", "unterhalten" und moralische Didaxe leisten? Detailliert und eindrücklich zeigt Solbach in seiner Studie Beers verschiedene Versuche, diese Synthese kunstvoll durch eine Verbindung von Erzählen und Rhetorik zu leisten. Nachvollziehbar und selbst bisweilen unterhaltsam stellt er dar, dass das Unterhalten in Form von Anverwandlungen traditioneller Satire, Groteske und pikarischem Erzählen keine Schwierigkeiten zu bietet scheint, während das Belehren deshalb Probleme aufwirft, weil es in das Erzählen integriert werden muss und Aspekte der "Verlebendigung" erhält. Aber gleichzeitig reflektieren Beers Texte implizit die Frage, ob diese Verlebendigung nicht doch primäres Ziel des Erzählens ist - und nicht die Didaxe. Diese wird zum Problem, da die gängigen Muster des Schreibens so exzessiv eingesetzt, bisweilen übertrieben werden, dass die Belehrung verhüllt wird. Solbachs Studie gibt diesbezüglich implizit den Anstoß für Überlegungen zum vorausgesetzten Menschenbild, zur zeitgenössischen Pädagogik und zum Standort der Literatur und der Lektüre: Woher rührt der Widerwillen gegen die offensichtliche Didaxe im Zeitalter der Frühaufklärung, die gerade den pädagogischen Charakter der Literatur in den Poetiken unterstreichen wird? Und welche tatsächlichen erzähltechnischen Innovationen und auch Zumutungen vermag dieser offensichtlich fruchtbare Widerwille zu inaugurieren? Zu solchen und noch mehr Überlegungen regt Solbachs Studie an, die nur im Vergleich mit anderen erzählerischen Versuchen der Zeit, synchron und diachron, sinnvoll zu leisten sind.

Titelbild

Andreas Solbach: Johann Beer. Rhetorisches Erzählen zwischen Satire und Utopie.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2003.
456 Seiten, 92,00 EUR.
ISBN-10: 348436582X

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