Wer unterwegs ist, hat etwas zu erzählen

Gernot Wolframs Bildungsroman "Samuels Reise"

Von Amira SarkissRSS-Newsfeed neuer Artikel von Amira Sarkiss

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wir betreten Gernot Wolframs Debütroman "Samuels Reise" durch eine Milchglasscheibe, hinter der Samuel, der 12-jährige Sohn der Geliebten des Erzählers, zu verschwinden scheint. Nach einem gemeinsamen Schwimmbadbesuch wartet der namenlose Ich-Erzähler auf den Jungen, der sich im Duschraum hinter der Glasscheibe befindet und plötzlich nicht mehr zu sehen ist. Doch er ist weder gestürzt noch heimlich davongelaufen, nichts ist passiert, wie der Erzähler, vollständig bekleidet in die Duschkabine stürzend, peinlich berührt feststellen muss. Dass Samuel jedoch im Laufe des Romans tatsächlich verschwinden wird, sieht der Leser kommen.

Die Geschicke des Erzählers, einem in Berlin lebenden jungen Übersetzer mit einer Leidenschaft für die englische Literatur des 18. Jahrhunderts, verknüpfen sich nämlich durch einen Auslandsaufenthalt seiner Freundin nicht ganz freiwillig mit dem Leben ihres Sohns Samuel. Der spröde Junge wiederum verehrt einen alten polnischen Science-Fiction-Autor, in dem unschwer Stanislaw Lem zu erkennen ist. Gemeinsam brechen beide nach Krakau auf, um dort den Schriftsteller leibhaftig zu treffen. Als Samuel jedoch bemerkt, dass es sich nicht um den echten Autor, sondern um einen Doppelgänger handelt, fühlt er sich hintergangen und reißt enttäuscht aus, wodurch sich der Erzähler gezwungen sieht, in dem fremden Land nach ihm zu suchen.

Obwohl er gerade mit einiger Begeisterung das Tagebuch des schottischen Schriftstellers James Boswell übersetzt, das ihm eine faszinierende Welt des "Realistischen, Saftigen, Stürmischen, eine Welt voll merkwürdiger Gestalten, in einer Welt der Intrigen, der Lüge und des Verrats, aber auch der nobelsten Gesinnungen" zeigt, steht das Leben des Übersetzers bisher in denkbar größtem Gegensatz dazu. Es ist geprägt durch eine selbst auferlegte Regelmäßigkeit mit einem immer gleichen Tagesablauf und sich wiederholenden Ritualen, die ihn mehr zu einem Beobachter als zu einem aktiv Teilnehmenden an seinem eigenen Leben machen. Er führt sein Leben sozusagen hinter einer Milchglasscheibe, ist aber doch zufrieden damit. Trat er die Reise nach Polen zunächst nur sehr unwillig an - immer mit dem Gedanken, sie so schnell wie möglich hinter sich zu bringen - sieht er sich durch Samuels Verschwinden genötigt, sich auf eine echte Expedition zu begeben und sich auf das Unbekannte und Spontane einer solchen Reise durch ein fremdes Land einzulassen. Je mehr er sich dafür öffnet, umso mehr verändert es ihn und sein Denken. War er bisher nicht viel unterwegs, weil er "Orte nicht gerne verließ, an denen er sich wohl fühlte", bemerkt er irgendwann, dass er nicht mehr zurück will, weil die fremde Stadt und die Menschen, die ihm bei seiner Suche begegnen und helfen, ihn zu faszinieren beginnen. Mehr noch, er legt seine gewohnten Rituale ab und vertraut Personen, denen er eigentlich "misstrauen müsste" - wie etwa dem geheimnisvollen Krakauer Juden Klima, der eine erfolgreiche Doppelgänger-Agentur führt. Unschwer ist zu erkennen, dass es in dem Roman nicht so sehr um Samuels Reise geht, über die man im weiteren Verlauf nicht mehr viel erfährt, sondern um die Reise des Erzählers zu sich selbst. Indem er es zulässt, taucht er nun selber ein in eine Welt voll merkwürdiger Gestalten, er war "als nicht sehr neugieriger Gast hergekommen und stellte nun fest, dass mein altes Leben von mir abfiel, ohne dass abzusehen war, was kommen würde."

Gernot Wolfram spannt ein merkwürdiges Paar zusammen, das unterschiedlicher kaum sein könnte: Hier der erwachsene Übersetzer mit dem Faible für lang vergangene Zeiten und feste Gewohnheiten, dort das von der Zukunft faszinierte Kind, das sich seines Andersseins sehr wohl bewusst ist. Die Motive des Fremdseins und des Doppelgängers durchziehen den wunderbar leichten und gelassenen Roman auf verschiedenen Ebenen und zeigen sich aus den Blickwinkeln eines Erwachsenen sowie eines Kindes. Wohl nicht von ungefähr ist der 1975 in Zittau geborene Wolfram heute im selben Alter wie der junge Übersetzer, und war so alt wie Samuel, als seine Eltern die Heimat verließen und in den Westen gingen. Der Erzähler im Roman verfasst seine Geschichte einer inneren Bildungsreise fast im Stil eines Tagebuchs und nähert sich damit wiederum dem Schriftsteller James Boswell an, dessen Reisetagebuch er gerade übersetzt. Am deutlichsten wird das Motiv des Doppelgängers natürlich in der von Klima geführten polnischen Agentur, die zwar sehr erfolgreich ist, aber bei Samuel, demgegenüber sich Klima aufgrund seiner eigenen Ähnlichkeit mit dem polnischen Autor als dieser ausgibt, das enttäuschte Gefühl hinterlässt, betrogen worden zu sein.

Diese Ambivalenz von Realität und Fiktion, Wahrheit und Lüge löst sich in dem angenehm unpathetischen, gut lesbaren Roman nicht auf. Der nüchterne, gelassene Ton des Buchs, das sich einmal nicht um das selbstbezügliche Leben junger Erwachsener in Berlin dreht, gefällt, auch wenn vielleicht ein wenig Geheimnis fehlt, nichts wirklich Überraschendes geschieht. Interessant ist jedoch der Blick Wolframs auf das neue Polen und die vermutlich auch aus eigener Erkenntnis gewonnene Einsicht, dass man lieb gewordenes Gewohntes hinter sich lassen muss, um dem Fremden zu begegnen, und dass nur diese Einsicht ermöglicht, aus einem Käfig auszubrechen, "der nicht einmal Gitterstäbe brauchte, um einengend zu sein". Bezeichnenderweise findet sich im letzten Satz des Buchs das Wort "Aufbruch". Zu einem wirklichen Aufbruch kann es nur kommen, wenn man bereit ist, auch anderes als das Bekannte und Gewohnte zu lieben.

Titelbild

Gernot Wolfram: Samuels Reise. Roman.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2005.
204 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3421058318

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