Kaleidoskopische Kompositionen

Italo Calvinos Erzählband "Ein General in der Bibliothek"

Von Kathrin WankeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kathrin Wanke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ein Wirbel von Bildern schwirrt mir durch den Kopf, unentwegt auseinanderfallend und sich neu zusammensetzend wie ein Kaleidoskop". Was hier das erzählende Ich in "Der Brand des abscheulichen Hauses" als ein Hindernis der eigenen Produktivität moniert, ist im neuen, bei Hanser erschienenen Erzählband von Italo Calvino, der zum Teil unveröffentlichte Geschichten von 1943 bis 1978 enthält, Programm. Wie das geschliffene Glas in immer wieder neuen Farbenmischungen blitzt, so erscheinen auch die Geschichten des Turiner Autors als spontane Kompositionen von Geist und Gedanken. Zwar sind sie nicht immer schön wie das bunte Scherbenspiel, aber sie machen Eindruck und das, was zurückbleibt, ist eine Mischung aus Wiedererkennen und Staunen.

Die Erzählungen greifen häufig Gedanken auf, von denen viele schon in viele Richtungen gedacht wurden. So etwa die Frage nach dem Umsturz eines (vermeintlich falschen) politischen Systems. Doch Calvino ergeht sich hier und auch an keiner anderen Stelle in realistischen Betrachtungen. Er experimentiert vielmehr, verdreht, wechselt den Blickwinkel - er spielt. In "Die Enthauptung der Häupter" beispielsweise beschreibt er eine Gesellschaftsform, in der die Machtträger nach einer gewissen Zeit öffentlich geköpft werden und die Hinrichtung der Potentaten den obersten Feiertag markiert. Eine extreme Ämterrotation gewissermaßen, die nachdenklich macht. Denn auch das Gegenstück hat Platz im Band: die Ermordung Caesars, dargestellt im Inneren Monolog eines Beteiligten. Aus dem Hinterhalt statt auf dem Schafott wird der Mächtige gerichtet, doch wie im ersten Fall ist die Berichterstattung Calvinos so neutral und doch so bizarr, dass der Standpunkt ein dauerndes, moralisch eigentlich unerträgliches Drehmoment in sich birgt.

Auch die weiteren Geschichten des knapp 300-seitigen Bandes zeigen deutlich, wie stark Calvino den Leser in seine Erzählungen hineinzieht, wie er sie fordert. Sie lesen sich einfach so weg und doch wieder nicht. Es ist das bekannte und doch immer wieder faszinierende Spiel mit der scheinbaren Simplizität, das Calvino beherrscht wie wenige andere. Das beginnt schon mit den fabelähnlichen Texten des zwanzigjährigen Calvino zu Beginn des Bands. Kurz sind sie, prägnant und in vielem findet sich der Leser wieder, beispielsweise in "Der Blitz". Bekannt kommt einem die Situation im Gedränge vor, wo plötzlich alles sinnlos und absurd erscheint, als ein Gewirr von Situationen und Gegenständen, die doch gar nicht so sein müssen, wie sie sich sonst immer präsentieren. Kurz darauf kommt dann wieder die Ernüchterung und das Ich wird wieder Teil des Absurden - doch immerhin ausgestattet mit der Hoffnung, dass irgendwann "von neuem der richtige Moment ist und ich abermals nichts mehr verstehe, mich abermals in den Besitz jener anderen Weisheit bringe, die ich im selben Moment gefunden und wieder verloren hatte."

Weisheit ist hier scheinbar ein Nicht-Verstehen, ein Hinterfragen und Glauben an eine Freiheit hinter der präsenten Notwendigkeit des Einzelnen. Aber leider, leider wieder nur scheinbar, denn das eigenmächtige Suchen nach Sinn ist ja letztlich doch hoffnungslos. Erfolg verspricht da nur das zufällige Gefunden-Werden.

Genau das demonstriert auch die Erzählung "Gewissen". In der spielt Luigi die Hauptrolle: Luigi, der freiwillig in den Krieg zieht, weil er hofft, so Alberto töten zu können, seinen persönlichen Feind, Alberto, der Luigi einst beleidigt hat. Doch die Privatrache zieht sich hin und viele andere Feinde fallen Luigis engagierter Suche zum Opfer. So viele, dass Luigi einen Orden nach dem andern bekommt und dazu ein schlechtes Gewissen, "so viele Leute für nichts getötet" zu haben. Nach Kriegsende trifft Luigi Alberto, schießt, die Opfer haben sich nun also doch gelohnt. Aber statt reich dekoriert wird er nun selbst gehenkt, denn im neuen, demokratischen System gelten andere Regeln.

Diese knappe Gleichgültigkeit, mit der Calvino erzählt, macht das Lesen einfach, das Nachdenken bitter. Gut, dass der Band dafür in der Folge viele Geschichten bereithält, die nicht weniger Stoff zum Grübeln, doch dafür noch mehr von Calvinos Humor bieten. Wie etwa die Titelgeschichte um den "General in der Bibliothek": Der ist mit der Zensur von Büchern beauftragt, die gegen die Allmacht des Militärs intendiert scheinen (also eigentlich alle). Einem Bibliothekar ist die Rettung der Bestände zu verdanken, schafft er dem General und seinen Soldaten doch bereitwillig so viele vermeintlich zu vernichtende Bücher heran, dass diese in der Bücherwelt Quartier beziehen (inklusive Tieren als Lastenträger), sich verlesen, das Weltgeschehen zu verstehen beginnen und Bärte ansetzen. Den einzigen Schaden an den Büchern verkündet die "Meldung, ein Maultier habe einen seltenen und leider unbewacht gebliebenen Cicero-Kodex gefressen."

Unglaublich komisch zeigen sich auch ein Reporter und sein Interview-Opfer in "Der Neanderthaler". Der befragte Vertreter der Neanderthaler wird zum besseren Verständnis des einfachen Mannes Herr Neander genannt. Die Überlegenheit, mit der sich der intelligente Reporter seinem Gegenüber widmet, schwindet schnell mit der oft wiederholten Feststellung des Neanderthalers: "Warst du da? Ich ja, ich war da. Du nicht." Basta, das reicht, da kann sich der Zivilisationsmissionar noch so sehr in seiner überschwänglichen Syntax winden und die Aussagen mit aller interpretatorischen Emsigkeit deuten - folgen kann er den Antworten des Herrn Neander nicht. Der erzählt mit wenigen Vokabeln von der Bären-Jagd und seiner schlauen Ehefrau und nutzt als Füllwort die durchaus angebrachte Frage: "Verstehst du".

Das Beste aber kommt ganz zum Schluss: eine "Kleine illustrierte Abc-Fibel (nach Georges Perec)", entstanden 1978. Was für den Grundschüler der Schlüssel zur Bücherwelt ist, zeigt sich hier als gekonnt gesetzter Schlusspunkt der Erzählungen. Das Stück wirkt wie eine eigens dafür arrangierte Zusammenfassung des Vorhergegangenen, denn nirgends drückt sich Calvinos Literatur-Experiment, das dauernde Spiel um Buchstabe und Sinn, Inhalt und Form so deutlich aus wie hier. Der Fantasie des Autors sind dabei, wie auch in einigen anderen Erzählungen des Bands (die Entstehungsumstände einiger Stücke erläutert sehr interessant, wenn auch ein wenig knapp, das Nachwort von Esther Calvino), bewusst Grenzen gesetzt. Und zwar durch den Versuch, Texte zu entwerfen, von denen jeder "semantisch einem anderen Text mit nur wenigen Silben [entspricht], der seinerseits phonetisch der Abfolge eines Konsonanten und der fünf Vokale wie in den Abc-Fibeln entspricht" Also, noch einmal langsam: BA-BE-BI-BO-BU, CA-CE-CI-CO-CU, DA-DE-Di-Do-DU, das sind solcherlei Buchstabenfolgen. Durch die (als Spielzug erlaubte) Verdopplung von Buchstaben schafft Calvino beispielsweise aus RA-RE-RI-RO-RU den Satz: "Rare erri 'r' or, U.", der im Italienischen durchaus Sinn machen kann ("Selten verfehlst du 'r' jetzt, U."). Weil Calvino diesen Sinn aber nun doch ein bisschen erläutern muss, spinnt er aus dem Satz eine Geschichte um den neugewählten Generalsekretär der Vereinten Nationen mit Namen U Than, der aus Birma stammt und gegen jede Erwartung schon nach einigen Wochen keine Probleme mehr mit der Aussprache des "R" hat. Genau damit reißt er dann einen Kollegen zur oben zitierten Lobesbekundung hin.

Hat man dieses Prinzip einmal verstanden, bleibt nur Staunen. So, und nur so macht die Silbenfolge Sinn, scheint es dem Leser, und man ist fast erschrocken über das Paradoxon einer eigentlich durch formale Vorgaben begrenzten Fantasie des Autors, die dann aber gerade dadurch, dass auch solche Zwänge sie nicht limitieren können, doch wieder eine scheinbar zwingend logische Geschichte produziert. Doch nichts da, gar nicht wahr, nicht nur so kann es sein. Schon schiebt sich der Gedanke an einen anderen möglichen Autor dazwischen, der das gleiche Spiel wie Calvino spielt und durch andere Buchstabeneinschübe etwas ganz anderes, ebenfalls scheinbar logisch-Konsequentes schafft. In diesem Sinn ist dieses Stück, wie der gesamte Band, auch eine Verheißung. Auf Calvino-Werke ebenso wie auf die anderer Autoren und Genres. Und genau mit diesem befriedigenden Eindruck eines Literatur-Appetizers fängt der Band auch solche Leser, die experimenteller Literatur sonst nicht sonderlich zugetan sind.

Doch es ist noch etwas anderes, das das Buch bemerkenswert macht: die selbstbewusste Lässigkeit, mit der Burkhart Kroeber die Erzählungen übersetzt. Bis in die Wortspiele präzise, doch stets locker und unangestrengt fließt die Sprache, schafft mühelos den Sprung vom wabernden Gedankenstil des schottischen Edelmanns zur Sprache des Herrn Neander, der sich ausmacht wie der Ghetto-Slang der Steinzeit. Was einerseits die Schwierigkeit ausmacht, ist anderseits auch ein Vorteil: Das Experimentelle der Erzählungen bietet auch dem Übersetzer einigen Freiraum. Dennoch, das Verdienst Kroebers, der nicht nur mit der neuesten Übersetzung von Alessandro Manzonis "I promessi sposi" Aufsehen erregt hat, sondern seit Jahren Calvinos Werke dem deutschen Leser zugänglich macht, ist auch für diesen Band kaum zu überschätzen.

So wird das Buch zu einem wirklichen Spaß und ist als Bett-, Strand-, Reise- oder Café-Lektüre gleichermaßen denkbar: Denn immerhin, die hübsche Gewissheit bleibt, dass einen der "richtige Moment" ja immer und überall finden kann - vielleicht genau dann, wenn man gerade wie ein besessener Hamster durch die gedankliche Endlosschleife einer Calvino-Erzählung sprintet.

Titelbild

Italo Calvino: Ein General in der Bibliothek. Erzählungen.
Übersetzt aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber.
Carl Hanser Verlag, München 2004.
295 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3446204520

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