Auf der Suche nach dem verlorenen Fremden

Ulla Biernat erkundet die Reiseliteratur im Zeitalter des Massentourismus

Von Sven WerkmeisterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sven Werkmeister

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Anfang stand die Neugier, der Reiz des Unbekannten, Anderen. Die Erfahrung des Fremden ist Urmovens, Motiv und Motivation, des klassischen europäischen Reiseberichts. Zentrale Funktion der Verschriftung von Reiseerlebnissen war - von den Entdeckungsreisen der frühen Neuzeit bis ins frühe 20. Jahrhundert - vor allem die Vermittlung unerhörter Ereignisse aus fernen Ländern, die Kunde von fremden Menschen und Kulturen. Der Erfahrungs- und Wissensvorsprung des Reisenden machte ihn zum wichtigsten Vermittler und Informanten jener Welten hinter dem Horizont des Bekannten. Heute haben Massentourismus, Massenmedien und das Verschwinden der letzten "weißen Flecken" von den europäischen Landkarten diese historische Funktion des Reisens wie des Reiseberichts grundlegend verändert. Das Unbekannte, Fremde scheint im 20. Jahrhundert verschwunden. Immer häufiger formulieren die reisenden Autoren nur noch melancholisch die Resignation der Zuspätgekommenen. Von der "auseroberten Welt" schreibt Alfred Döblin bereits 1937, Claude Lévi-Strauss trauert in seinen "Traurigen Tropen" dem verlorenen Zauber "wahrer Reisen" vergangener Zeiten nach, in der zweiten Jahrhunderthälfte macht zunehmend das Schlagwort vom "Ende des Reisens" die Runde.

Wohl auch daran liegt es, dass dem Genre des Reiseberichts in der deutschen Literatur nach 1945 bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Einen ersten Versuch, dieses noch kaum erforschte Terrain zu erschließen, unternimmt nun die Dissertation Ulla Biernats. Sie widerlegt die These eines historischen Endes von Reisen und Reiseliteratur und zeigt an Texten von Koeppen, Canetti, Brinkmann, Kunert, Buch, Drewitz, Grass und anderen, dass sich das totgesagte Genre auch in der zweiten Jahrhunderthälfte sehr lebendiger Produktion erfreute. Keinen Funktionsverlust, sondern einen Funktionswandel konstatiert Biernat für den Reisebericht. An die Stelle des Gestus objektiver Vermittlung ist zunehmend die Reflexion der Bedingungen und Implikationen des Schreibens über das Fremde getreten. Dabei bleibt die Erfahrung des Fremden unter veränderten Vorzeichen weiterhin originärer Bestandteil und Antriebsgrund des Reiseschreibens. Das Spektrum reicht von zivilisationskritischen Kulturvergleichen, denen das Fremde in erster Linie als Ausgangspunkt skeptischer Befragungen des Eigenen dient, über die ethnografisch motivierten Ansätze der Ethnopoesie bei Hubert Fichte bis hin zur ironisch-zynischen Ignoranz des Fremden bei neokolonialen Pop-Dandys wie Christian Kracht in den 1990ern.

Interessant ist vor allem der kulturwissenschaftlich und diskursanalytisch inspirierte Ansatz. Biernat versucht, die literarische Entwicklung des Genres parallel zur kulturhistorischen Ausdifferenzierung des Reisens als (Massen-)Tourismus zu lesen. Ihre zentrale Frage ist: "Wie positionieren sich die hier versammelten Texte im Diskurs um Reise und Tourismus, um Alterität und Identität sowie deren Verstehens- und Wahrnehmungsmöglichkeiten?" Theoretische Referenzen dieser Fragestellung sind auf der einen Seite die neueren Debatten um Postkolonialismus und ethnografisches Schreiben, um Alteritätserfahrung und interkulturelle Hermeneutik, auf der anderen Seite die sozialwissenschaftliche und kulturhistorische Tourismusforschung. Überzeugend argumentiert Biernat vor diesem Hintergrund, dass gerade der Reisebericht ein Schlüsselgenre für eine kulturwissenschaftlich interessierte Literaturwissenschaft darstellt, insofern er selbst nicht nur Produkt kulturellen Wissens ist, sondern zugleich auch die Bedingungen der Produktion von kulturellem Wissen auf exemplarische Weise vorführt und explizit reflektiert.

Nicht immer überzeugend ist allerdings die Analyse der Reisetexte selbst. Viele der Reiseautoren werden nur kurz genannt, selten umfasst die Analyse einzelner Texte mehr als ein oder zwei Textseiten. Bedingt ist dies zum einen durch das umfangreiche Korpus zu berücksichtigender Reisetexte, zum anderen aber auch durch die sehr schematische Vorgehensweise der Autorin. Den Untersuchungszeitraum von 1945 bis zum Ende der 1990er Jahre unterteilt Biernat in fünf Dekaden, wobei sie für jedes Jahrzehnt ein spezifisches "diskursives Netz zwischen Tourismusgeschichte, verschiedenen Formen des Reise-Diskurses und Textanalysen" aufspannen möchte. Demnach sind beispielsweise für den Reisediskurs der 1970er Jahre Selbsterfahrung und ethnografisches Schreiben die zentralen Stichworte, charakteristisch für die 1980er wären Selbstreflexion des Reiseschreibens und der Versuch einer "postkolonialen" Überwindung des eurozentrischen Blicks. Die Übereinanderblendung von Tourismusgeschichte und literarischer Entwicklung bringt dabei allerdings nur in Einzelfällen wirklich neue Erkenntnisse.

Inwiefern es angesichts bekannter Ungleichzeitigkeitsphänomene überhaupt möglich und sinnvoll ist, eine solch kleinteilige, nach Jahrzehnten gegliederte Geschichte diskursiver Transformationen zu entwerfen, bleibt eine grundsätzliche Frage. Auch wenn Biernat diese Problematik explizit reflektiert und sich bewusst an den Zäsuren der Literaturgeschichten zur Gegenwartsliteratur orientieren will, ist die Repräsentativität der ausgewählten Texte und damit die Aussagekraft der vorgenommenen Periodisierung für die Reiseliteratur nicht immer nachvollziehbar. So steht bisweilen die Analyse eines einzigen Autors oder Textes für eine ganze Diskursformation. Hilfreich für den Leser wäre in diesem Zusammenhang eine systematische Übersicht der insgesamt ca. 250 eingesehenen Reisetexte in einem Anhang des Bands gewesen.

Trotz der sehr knapp geratenen Einzelanalysen und der angesichts von Umfang und Komplexität des Gegenstandsbereiches kaum zu vermeidenden Verkürzungen gelingt es Biernat, in ein bisher wenig beachtetes, für die kulturwissenschaftlich interessierte Germanistik noch kaum erschlossenes Textfeld einzuführen und erste Wegweiser für folgende Arbeiten aufzustellen. Ihre "Vorarbeit zu einer Gattungsgeschichte" setzt dabei mit der Frage nach dem veränderten Status von Alteritätserfahrung, Wahrnehmung und Textualisierung des Fremden den entscheidenden Fokus. Dieser wird als zentraler Orientierungspunkt für weitere Erkundungsfahrten im literarischen Raum gegenwärtiger Reisetexte maßgebend bleiben - auch und gerade in Zeiten scheinbar grenzenloser Verfügbarkeit des vormals Unbekannten, Fremden.

Titelbild

Ulla Biernat: "Ich bin nicht der erste Fremde hier". Zur deutschsprachigen Reiseliteratur nach 1945.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2004.
248 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-10: 3826027612

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